Flucht nach Europa - ein Kontinent im Wandel
Online-Spezial
Warum wollen so viele Menschen zu uns? Es ist das Gesprächsthema, ob am Frühstückstisch oder im Kanzleramt: die "Flucht nach Europa". In unserem gleichnamigen Spezial blicken wir zurück auf die Geschichte der Migration, erklären, wovor momentan Hunderttausende aus ihren Heimatländern fliehen und geben Antworten auf die Frage: Wie verändern die Flüchtlinge unsere Gesellschaft?

Zehntausende Menschen auf der Flucht erreichen in diesen Tagen die Bundesrepublik. Deutschland hat eine Tradition als Ein-, aber auch als Auswanderungsland.
Wer kommt, wer geht? Die Geschichte der Migration
Der Blick zurück auf die historischen Migrationsbewegungen beweist es: Immer wieder verließen Menschen ihre deutsche Heimat, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Andere kamen in der Hoffnung, hier eine Perspektive für die Zukunft zu finden.
Texte: Neue Osnabrücker Zeitung
Auf der nächsten Seite: Darum flüchten Menschen nach Europa
Wir berichten täglich: über Schicksale und Vertreibung, über die großen Herausforderungen in unseren Städten und Gemeinden, über die Krise und ihre Folgen. Um mehr Informationen, mehr Hintergründe, mehr Analysen der aktuellen Situation liefern zu können, haben die Ruhr Nachrichten gemeinsam mit der Rheinischen Post und der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Sonderredaktion "Flucht" gebildet. Innerhalb der Kooperation ist eine siebenteilige Serie unter dem Titel "Flucht nach Europa" entstanden. Konkret haben wir uns mit den Themenblöcken , , , , , und auseinandergesetzt.
Woher kommen die Menschen - und wovor flüchten sie?
Die größte Fluchtwelle seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht Europa. Wir zeigen auf einer Karte, aus welchen wichtigen Herkunftsländern Flüchtlinge nach Europa kommen - und vor allem, warum und wovor sie auf der Flucht sind.
- Fahren Sie mit der Maus auf die Grafik und klicken Sie auf die roten, gelben und grünen Punkte, um Details zu den Fluchtursachen in den einzelnen Ländern zu erfahren.
Grafik: Schnettler/Ferl/Mühe; Texte: Rheinische Post
Auf der nächsten Seite: Was die Statistik über die Menschen, die zu uns kommen, verrät
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Wer sind die Menschen, die zu uns kommen?
Zu Hunderttausenden strömen momentan Flüchtlinge nach Deutschland. Doch was für Menschen kommen da eigentlich? Wie alt sind sie? Wie gebildet sind sie? Woher stammen sie? Um einen Eindruck davon zu geben, wer zu uns kommt, haben wir Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aufbereitet. Die Behörde befragt die Asylsuchenden auch zu ihrem persönlichen Hintergrund. Die Beantwortung dieser Fragen ist freiwillig. Die durch diese Selbstauskünfte gesammelten Daten sind daher nicht im statistischen Sinne repräsentativ, sie vermitteln aber wenigstens einen groben Eindruck.
Für das Jahr 2015 bis einschließlich August wurden insgesamt rund 105.000 Flüchtlinge befragt. Wir stellen einige der Ergebnisse vor.
Woher kommen die Flüchtlinge?
In welchem Alter sind die Flüchtlinge?
Kommen mehr Männer oder mehr Frauen?
Wie gebildet sind die Flüchtlinge?
Auf der nächsten Seite: Auch das noch. Nach Krieg, Vertreibung und Flucht wartet die deutsche Bürokratie.
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Sie kommen an der deutschen Grenze an, leben in Erstaufnahme- und Landeseinrichtungen, bis sie einer Kommune zugewiesen werden und ihren Asylantrag stellen. Wie genau verläuft der Weg eines Flüchtlings in Deutschland?
So funktioniert das Asylverfahren in Deutschland
Texte: Miriam Instenberg, Ingrid Wielens; Fotos: dpa
Auf der nächsten Seite: So verändert sich die Gesellschaft
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Auf der einen Seite die viel gelobte Willkommenskultur, auf der anderen Seite die "besorgten Bürger", denen der Flüchtlingsandrang Angst macht - teilweise so sehr, dass ihre sie ihre Sorgen durch gewalttätige Übergriffe und rechte Hetze ausdrücken. Was bedeuten die Flüchtlinge für den deutschen Arbeitsmarkt, für unsere Kultur, für das religiöse Zusammenleben?
Vier Experten über die Veränderung unserer Gesellschaft
Drei Viertel der Bundesbürger sind sich nach einer Umfrage des ARD-Morgenmagazins von Ende Oktober sicher, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen die deutsche Gesellschaft stark bis sehr stark verändern wird. 50 Prozent gehen von einem starken und weitere 26 Prozent sogar von einem sehr starken gesellschaftlichen Wandel aus. 21 Prozent rechneten mit geringen Folgen, nur 1 Prozent mit gar keinen Folgen.
Die Integration der Flüchtlinge, die aktuell nach Deutschland kommen, muss besser gelingen als die der Zuwanderer, die als Gastarbeiter in den 1960er Jahren zu uns kamen. Wie wird Deutschland sich durch den Flüchtlingszustrom verändern - in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Hinsicht? Was können die Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt bedeuten? Wird es eine Muslimpartei geben? Und wie sieht es mit der Angst vor religiösem Extremismus aus? Wir haben mit vier Top-Wissenschaftlern gesprochen und sie um eine Einschätzung der Lage gebeten.
Professor Dr. Wolfgang Kaschuba Direktor des Instituts für empirische Migrations- und Herkunftsforschung der Humboldt-Universität
Was bedeutet die Zuwanderung für das Leben in Deutschland?
"Zuwanderung bedeutet immer Wandel auf beiden Seiten, und jede Bewegung schafft auch Irritationen. Wir wollen in unserem Vorgarten Ordnung haben. Also wird erst einmal gebellt, bevor man ins Gespräch kommt. Und der Mensch sucht Ähnlichkeiten, so sind wir genetisch gestrickt. Das können wir uns nicht einfach von heute auf morgen abgewöhnen. Wohl aber können wir lernen, mit dem eigenen Kopf gegen den Bauch zu arbeiten und auch die positiven Effekte von Veränderung zu sehen. Unsere Stadtkulturen sind so entstanden - durch Zuwanderung. Und sie haben sich immer weiter verändert und die Menschen lieben das heute und loben die Vielfalt. Denn: Könnte es nicht sein, dass die Gemeinsamkeit, wenn zwei Menschen Fans von Madonna oder Borussia Dortmund sind, stärker wirkt als etwa eine unterschiedliche Sprache oder Religion? Mein Appell also ist, dass wir sehr viel stärker nach den gemeinsamen Vorstellungen und Lebensstilen schauen, dann brauchen wir auch nicht mehr über eine ominöse Leitkultur zu sprechen."
Kann Zuwanderung auch dazu führen, sich stärker auf eine sehr traditionell geprägte Leitkultur zu besinnen?
"Solche Effekte kann es geben. Integration ist kein linearer Prozess. Er kippt nach links und rechts. Entscheidend ist die Balance. Natürlich gibt es da unmittelbare Gefahren: das rechtspopulistische Denken, der Hang zu homogenen Wir-Bildern. Es liegt an Politik, Wissenschaft und Medien, bestimmte Hass- und Feindbilder aktiv als illegitim und illegal zu markieren. Ausländerfeindlichkeit muss an die Ränder abgedrängt werden, damit Integration die Mitte der Gesellschaft besetzt."
Prof. Marcel Fratzscher Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
Fratzscher schlägt einen Flüchtlingsgipfel von Politik und Wirtschaft vor. Ohne die Unterstützung der Unternehmen und ihrer Spitzenvertreter werde die Integration scheitern. „Der Staat kann die Flüchtlinge materiell unterstützen, kann ihnen helfen bei Sprachkursen, sie begleiten bei der Integration“, sagt der DIW-Präsident. Aber letztlich spiele die Wirtschaft eine zentrale Rolle. Angesichts der Kosten von Aus- und Weiterbildung für die Flüchtlinge spricht sich Fratzscher für eine Teilung der Ausgaben aus.
„Wenn die Politik nicht mitmacht oder wenn die Wirtschaft nicht mitmacht, dann wird dieser Integrationsprozess scheitern“, sagt er. Gleichzeitig wandte sich Fratzscher dagegen, das Renteneintrittsalter oder die Steuern zu erhöhen. Die Flüchtlinge seien „eine große Chance, um das Rentensystem in Deutschland nachhaltig abzusichern“. Andere Interpretationen seien „absolut falsch“. Wenn das Renteneintrittsalter angehoben werde, dann nicht wegen der Zuwanderung, sondern weil die Menschen immer älter würden.
„Wir haben heute eine außergewöhnlich gute Lage der öffentlichen Haushalte. Wir werden also auch im nächsten Jahr Überschüsse in den öffentlichen Haushalten haben, auch trotz der zusätzlichen Kosten für die Flüchtlinge“, sagt der Ökonom. Gleichwohl spricht sich auch Fratzscher dafür aus, Zuwanderung stärker zu reglementieren. Ein Einwanderungsgesetz könne etwa Balkan-Flüchtlingen die Möglichkeit geben, die Chancen auf eine Zukunft in Deutschland klären zu lassen, während sie in ihrer Heimat blieben. Ein solches Vorgehen vermeide Härten auf beiden Seiten.
Professor Dr. Jürgen W. Falter Politikwissenschaftler und Parteienforscher
Kommt es wegen des Flüchtlingszustroms zu einem zweiten Frühling der Alternative für Deutschland (AfD)?
Ja. Eigentlich war die AfD schon halb tot oder zum Dasein einer Regionalpartei verdammt, die auch längerfristig bundespolitisch keine großen Chancen gehabt hätte. Aber jetzt hat sie ihr Thema bekommen. Das ist echter Aufwind für die Partei, und sie muss gar nichts dafür tun.
Werden weitere Rechtsradikale von der Flüchtlingskrise profitieren?
Zumindest die NPD wird etwas von diesem Aufwind abbekommen. Sie kann nun behaupten, die Argumente gegen zu viel Zuwanderung habe sie schon in sehr viel schärferer Form formuliert. Mancher wird sich sagen: Die einzige Möglichkeit, die Kanzlerin und überhaupt die etablierten Parteien zum Einlenken zu bringen, ist, dass man sie einmal so richtig erschreckt. Das wäre dann so etwas wie eine Protestwahl.
Einmal angenommen, die Flüchtlinge dürfen nach einer Einbürgerung wählen oder erhielten bereits vorher ein kommunales Wahlrecht - für welche Partei werden Sie sich Ihrer Meinung nach entscheiden?
Im Zweifelsfall zunächst einmal gegen die Union, denn die trägt ja immer noch das Christliche in ihrem Titel. Auch in ihrem Grundsatzprogramm betonen CDU und CSU das relativ stark. Das ist für gläubige Muslime dann naturgemäß nicht die Partei der ersten Wahl. Außerdem kommen gegenwärtig sehr viele, die vermutlich eher in einfacheren Berufen tätig sein werden, sobald sie im Arbeitsleben integriert sind. Die werden eher für linke Parteien stimmen oder möglicherweise sogar für eine dann zu gründende muslimische Partei. Derzeit haben wir knapp fünf Millionen Muslime in Deutschland. Nehmen wir einmal an, jetzt kommt noch einmal eine Million dazu, dazu noch der Familiennachzug, dann sind das irgendwann sieben bis acht Millionen. Das wäre bei Weitem genug für eine neue Minderheitenpartei.
Prof. Dr. Bülent Uçar Direktor des Instituts für Islamische Theologie an der Uni Osnabrück
Der Islamwissenschaftler Bülent Uçar weist Befürchtungen vor einer wachsenden islamischen Prägung Deutschlands durch die gegenwärtige Flüchtlingswelle zurück. Mit Blick auf die Zuwanderer sagt er: „Diese Menschen haben am eigenen Leib erfahren, wozu religiöser Extremismus und Wahn führt“. Die Freiheiten in Deutschland würden sie daher honorieren und nicht anfechten, sagt der Direktor des Instituts für Islamwissenschaft der Universität Osnabrück.
„Das Grundgesetz richtet sich nicht gegen die Religionen, sondern will für beide Seiten neue Freiräume schaffen und wechselseitige Abhängigkeiten minimieren“, sagt Uçar. Vor diesem Hintergrund sei er sich sicher, dass es für die große Mehrheit keiner großen Überzeugungsarbeit bedürfe, um die Vorzüge der Demokratie zu sehen. Viele Muslime seien auch weit weniger gläubig als man meine. „Die Fassade erscheint islamisch, der Kern aber ist durch und durch verweltlicht“, sagt Uçar. Daher dürfe man sich nicht von bestimmten religiös erscheinenden Gruppen blenden lassen. „Muslime in Deutschland sind genauso Säkularisierungsprozessen ausgesetzt wie Christen“, gibt der Wissenschaftler zu bedenken.
Fotos: dpa; imago/Sämmer; imago/Reiner Zensen; imago/Zuma Press; Texte: Neue Osnabrücker Zeitung
Auf der nächsten Seite: Lernen, um zu verstehen. Integration durch Bildung.
Wir berichten täglich: über Schicksale und Vertreibung, über die großen Herausforderungen in unseren Städten und Gemeinden, über die Krise und ihre Folgen. Um mehr Informationen, mehr Hintergründe, mehr Analysen der aktuellen Situation liefern zu können, haben die Ruhr Nachrichten gemeinsam mit der Rheinischen Post und der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Sonderredaktion "Flucht" gebildet. Innerhalb der Kooperation ist eine siebenteilige Serie unter dem Titel "Flucht nach Europa" entstanden. Konkret haben wir uns mit den Themenblöcken , , , , , und auseinandergesetzt.
Integration durch Bildung
Ein Großteil der Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen, sind Kinder. Kinder, die in die Kita oder zur Schule gehen müssen, wenn sie hier langfristig ankommen möchten. Oder Jugendliche, die mithilfe von Ausbildung und Studium am Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Wir erklären, ob das gelingen kann, was die Regierung bereits in Sachen Bildung für Flüchtlinge getan hat und wie Experten die Chancen der Flüchtlinge einschätzen.
KINDERGARTEN
- Kinder von Asylbewerbern und Flüchtlingen haben denselben Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz wie alle Kinder in der jeweiligen Kommune: Er gilt, sobald die Kinder das erste Lebensjahr vollendet haben.
- Das Bundesfamilienministerium sagt: „Der Besuch einer Kita bietet Flüchtlingskindern die besten Voraussetzungen dafür, schnell die deutsche Sprache zu lernen und Kontakte zu anderen Kindern zu knüpfen. Den Familien erleichtert es den Zugang zur neuen Heimat.“
- Die Betreuungsquote unter den Flüchtlingskindern ist aber noch eher gering und es gibt keine systematische Erhebung des Bedarfs bei Flüchtlingsfamilien. Deswegen lässt sich auch der Platzbedarf schwer abschätzen.
- Erzieher berichten, dass viele Flüchtlinge ihre Kinder gern in Tagesstätten und Kindergärten unterbringen wollen – auch, weil ihnen Integrationsstellen und Behörden dazu raten. Andere kommen aus Kulturkreisen, in denen es nicht üblich ist, Kinder, die jünger als drei oder vier Jahre sind, außerhalb der Familie zu betreuen.
3 Fragen an: Barbara Nolte, Kita-Leiterin und Referatsleiterin im Verband Bildung und Erziehung (VBW) NRW
1. Inwiefern machen sich die steigenden Flüchtlingszahlen im Kita-Alltag bemerkbar?
Gerade in Städten und Kommunen, die viele Flüchtlinge zugewiesen bekommen, wie Dortmund oder Köln, ist das dramatisch. Dort stehen die Eltern mit den Kindern vor der Tür und fragen nach einem Platz. Jede Einrichtung hat nur eine bestimmte Kapazität – wenn sie voll ist, ist sie voll. Es werden viele Eltern-Kind-Gruppen und Spielgruppen gegründet, viele Ehrenamtliche helfen. Aber was fehlt, ist ein landesweites Konzept mit konkreten Zahlen, hier gibt es erst erste Verordnungen. Was wir bemerken, ist: Die Familien wollen integriert werden, sie wollen, dass ihre Kinder – wie die anderen Kinder in Deutschland auch – in die Kita gehen und damit auch im Alltag, in der Normalität ankommen. Ein geregelter Tagesablauf, den der Kita-Besuch bedeutet, ist wichtig für die Kinder, um nach der Flucht in eine sichere Situation zu kommen.
2. Wie läuft die Verständigung mit den Flüchtlingskindern, die bei ihrer Ankunft kein Deutsch sprechen?
Kinder lernen unendlich schnell. Am Anfang läuft viel über Mimik und über Gesten. Beim Basteln können die Erzieher beispielsweise auf Farben zeigen und sie benennen, das Kind wiederholt das dann. So werden Wortschatz, Grammatik und Betonung systematisch aufgebaut. Und dann heißt es: sprechen, sprechen, sprechen. Schon nach zwei bis drei Monaten ist das Alltagsdeutsch der Kinder oft so gut, dass sie sich selbstständig verständigen können.
3. Was sind die größten Herausforderungen, die Sie sehen, wenn es um die Integration von Flüchtlingskindern in den Kitas geht?
Wir brauchen vor allem mehr Personal. Dann müssen die Mitarbeiter fortgebildet und geschult werden, um mit bestimmten Situationen umgehen zu können. Für eine gelungene Integration brauchen wir auch breite Netzwerke zwischen Erziehern, Therapeuten, Dolmetschern und Ehrenamtlichen. Und natürlich müssen die Kita-Plätze da sein. Im Platzausbau, der für das nächste Jahr geplant ist, sind die Flüchtlingskinder nämlich noch gar nicht berücksichtigt.
SCHULE
Um fremdsprachigen Kindern Deutsch beizubringen, werden Lehrer gebraucht, die „Deutsch als Fremdsprache“ studiert haben oder im Lehramtsstudium die Zusatzqualifikation erworben haben, „Deutsch als Zweitsprache“ zu unterrichten. In NRW ist das Modul „Deutsch als Zweitsprache“ seit 2009 Pflicht in der Lehrerausbildung, in anderen Bundesländern ist es ein Wahlmodul. Der Deutschunterricht für Flüchtlingskinder erfolgt in der Regel zunächst für drei Monate bis zwei Jahre in sogenannten Auffang- oder Willkommensklassen, kann darüber hinaus aber auch parallel zum Unterricht in den Regelklassen fortgeführt werden.
Reicht das? Nein, sagen die Vertreter der NRW-Lehrergewerkschaften GEW, VBE und der Philologen-Verband. Wie viele solcher Stellen aber benötigt würden, dazu konnten sie keine Einschätzungen abgeben. Fest stehe aber, dass es nicht genug Lehrkräfte gibt, die die Zusatzqualifikation „Deutsch als Zweitsprache“ haben. Nach Einschätzung von Peter Silbernagel, Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Philologen-Verbands, muss mehr als die Hälfte der Lehrer, die jetzt für die Sprachförderung eingestellt werden, die Qualifikation erst erwerben.
3 Fragen an: Nora von Dewitz, Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
Wo sehen Sie die größte Herausforderung, wenn es darum geht, die in Deutschland ankommenden Flüchtlingskinder ins Schulsystem zu integrieren?
Eine große Herausforderung ist die schnelle schulische Einbindung. An einigen Standorten gibt es zwar schon in Notunterkünften Bildungsangebote, in der Mehrheit der Länder kommen die Kinder aber erst nach der Zuweisung an eine Kommune in die Schule. Bis es so weit ist, vergehen teilweise Monate – gerade Kinder und Jugendliche sollten nicht so lange ohne Bildungsangebote leben.
Besonders wichtig ist es, die Kinder schnell an die deutsche Sprache heranzuführen. Gibt es genügend Lehrer, die die Qualifikation haben, Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache zu unterrichten?
Es werden insgesamt qualifizierte Kräfte gebraucht, nicht nur im Sprachbereich. Momentan ist Nordrhein-Westfalen noch das einzige Bundesland, in dem das Modul „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ für alle Lehramtsstudierenden Pflicht ist. Als Studienfach oder Wahlmodul gibt es das aber auch in anderen Bundesländern. Neben der sprachlichen Qualifikation ist aber auch eine Sensibilisierung der Lehrkräfte für andere Themen und eine gute Vernetzung der Schulen mit außerschulischen Partnern wichtig – zum Beispiel mit den psychosozialen Diensten.
In den meisten Bundesländern werden Flüchtlingskinder zunächst in sogenannten Willkommensklassen unterrichtet, bevor sie in eine Regelklasse kommen. Gibt es Erkenntnisse darüber, ob die Kinder so schneller Deutsch lernen?
Nein, dazu gibt es keine empirischen Forschungsergebnisse. Es ist sicher keine gute Idee, die Kinder einfach in die Regelklasse zu stecken, ohne spezifische sprachliche Förderung. Das Ziel sollte aber immer der Übergang ins Regelsystem sein. Wie schnell das möglich ist, hängt von der Qualität des Unterrichts ab und davon, wie viel Deutsch ein Kind im Alltag spricht, welche schulischen Vorerfahrungen und Begabungen es mitbringt etc. Wichtig ist, die Kinder nicht jahrelang in solchen parallel geführten Klassen zu belassen.
AUSBILDUNG/STUDIUM
- Konkrete Zahlen dazu, wie viele Asylbewerber oder Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Duldung zurzeit in Deutschland eine Ausbildung machen oder studieren, gibt es nicht - der Aufenthaltsstatus wird statistisch weder in Ausbildungsverträgen noch bei der Einschreibung an der Uni erfasst.
- Fest steht: Für Flüchtlinge ist es generell nicht einfach, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Abhängig vom Stand ihres Asylverfahrens haben sie teilweise ein vorläufiges Arbeitsverbot, brauchen dann eine Arbeitserlaubnis, die sie teilweise nur bekommen, wenn nicht auch Deutsche oder EU-Ausländer für die Stelle infrage kommen (Vorrangprüfung).
- Wer in Deutschland studieren möchte, muss ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen. Außerdem wird geprüft, ob der Schulabschluss, der im Ausland gemacht wurde, mit der deutschen Hochschulreife vergleichbar ist.
3 Fragen an: Susanne Grube, bei der ThyssenKrupp AG im Bereich: Human Resources Strategy zuständig für die Konzernausbildung
ThyssenKrupp schafft in den nächsten zwei Jahren 150 zusätzliche Ausbildungsplätze speziell für Flüchtlinge. Warum engagiert sich das Unternehmen in diesem Bereich?
Zum einen haben wir Erfahrung mit der Thematik: Allein in NRW beschäftigt ThyssenKrupp Mitarbeiter aus 114 Nationen. Wir haben in der Vergangenheit bewiesen, dass wir mit der Eingliederung von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen umgehen können. Zum anderen entspricht das unseren Werten. Unsere Konzernkultur ist geprägt von Offenheit, wir wollen Integration fördern und sehen uns da auch in der Verantwortung. Die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Leid zu uns kommen, haben eine Chance verdient. Und einen Arbeitsplatz zu haben, bedeutet die beste Chance auf Integration.
Viele Flüchtlinge, die jetzt ankommen, sprechen kein Deutsch. Nicht alle haben Schulzeugnisse aus ihrer Heimat mitnehmen können. Und nicht alle werden bleiben können. Welche Voraussetzungen sollten Flüchtlinge erfüllen, um eine Chance auf eine Ausbildung bei ThyssenKrupp zu haben?
Unser Hauptaugenmerk liegt auf denjenigen, die schon eine Aufenthaltserlaubnis haben und langfristig bleiben können, wenn wir sie in eine Ausbildung vermitteln. Wenn Zeugnisse fehlen, ist das nicht so schlimm: Die Standards der klassischen Schulbildung können wir durch Tests prüfen. Elementar sind die Deutschkenntnisse. Damit sie die Lehrinhalte verstehen, aber auch aus Gründen der Arbeitssicherheit. An unseren teilweise riesigen Produktionsstätten müssen sie Warnschilder lesen und Hinweise der Kollegen verstehen können, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Rudimentäre Deutschkenntnisse reichen also nicht.
Auch in der Vergangenheit haben Sie schon Flüchtlinge und Menschen aus strukturschwachen Regionen eingestellt. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Unsere Erfahrungen sind positiv. Die Menschen haben ein Ziel: Sie wollen sich ein neues Leben aufbauen und sind sehr motiviert, sehr offen und sehr dankbar. Man merkt, wie sie bei der Arbeit miteinander richtig aufblühen. Jedem Unternehmen, das die entsprechenden Voraussetzungen hat oder sie schaffen kann, würden wir das empfehlen.
INTEGRATIONSKURSE
Was sind Integrationskurse?
- Integrationskurse sollen Zuwanderern grundlegende Sprachkenntnisse und Grundlagen der deutschen Rechtsordnung und Geschichte vermitteln. Bundesweit gibt es sie seit 2005.
- Wer den Integrationskurs erfolgreich abschließt, erhält das „Zertifikat Integrationskurs“. Mit diesem Zertifikat können Zuwanderer schneller die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Der Nachweis von Grundkenntnissen der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung ist außerdem Voraussetzung für die Beantragung einer Niederlassungserlaubnis.
Wer muss, wer darf teilnehmen?
- Zuwanderer, die nach dem 1. Januar 2005 eine Aufenthaltserlaubnis bekommen haben und nicht ausreichend Deutsch sprechen, müssen teilnehmen. Auch Bezieher von Arbeitslosengeld II können zur Teilnahme verpflichtet werden.
- Zuwanderer, die als Arbeitnehmer, zum Zwecke des Familiennachzuges, aus humanitären Gründen oder als langfristig Aufenthaltsberechtigte in Deutschland sind, dürfen teilnehmen. Auch Migranten, die eine Niederlassungserlaubnis erhalten, sind teilnahmeberechtigt.
- Künftig sollen die Kurse auch für Asylbewerber und Geduldete mit guter Bleibeperspektive geöffnet werden.
Wie umfangreich ist ein Integrationskurs?
- Der Integrationskurs besteht aus 600 Stunden Deutschunterricht und 60 Stunden Orientierungskurs, in dem es um rechtliche, kulturelle und geschichtliche Grundlagen zum Leben in Deutschland geht.
- Die Abschlussprüfung besteht aus einer Sprachprüfung, dem „Deutsch-Test für Zuwanderer“, und dem Multiple-Choice-Test „Leben in Deutschland“.
- Schließt der Teilnehmer den Integrationskurs erfolgreich ab, verfügt er über das sogenannte Sprachniveau B1. Bedeutet: Er kann sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessensgebiete äußern.
3 Fragen an: Cleopatra Altanis, Programmbereich Deutsch als Fremdsprache/Integration an der Volkshochschule Mönchengladbach
Absolventen des „Deutschtests für Zuwanderer“ erreichen das sogenannte Sprachniveau B1. Sind sie damit in der Lage, eine Berufsausbildung zu beginnen?
Mit B1 hat man ein Niveau erreicht, mit dem man sich man im Alltag gut bewegen kann, aber für eine Berufsausbildung reicht das in dem meisten Fällen nicht – beispielsweise in Berufen, in denen man beratend tätig sein muss.
Für Neuzuwanderer ist ein allgemeiner Integrationskurs verpflichtend. Wäre es nicht sinnvoll, wenn nach dem Kurs eine Qualifikation stünde, mit der die Teilnehmer auf dem Ausbildungsmarkt bestehen könnten?
Dafür gibt es ja weitere berufsbezogene Förderprogramme. Seit 2005 ist der „Allgemeine Integrationskurs“ für Neuzuwanderer verpflichtend und wenn man auf die Teilnehmer- und Absolventenzahlen schaut, ist das Programm eine Erfolgsgeschichte.
Die meisten Neuzuwanderer kommen derzeit aus Syrien. Sind sie direkt verpflichtet, an einem Integrationskurs teilzunehmen?
Ein Großteil der Syrer hat derzeit keinen Anspruch oder eine Verpflichtung zu einem Kurs, weil sie nicht über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung verfügen. Ende September hat die Bundesregierung das Asylpaket verabschiedet. Künftig sollen auch Flüchtlinge mit einer sogenannten guten Bleibeperspektive zur Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt sein.
Fotos: dpa; Texte: Miriam Instenberg, Florian Habersack
Auf der nächsten Seite: Europas Optionen
Wir berichten täglich: über Schicksale und Vertreibung, über die großen Herausforderungen in unseren Städten und Gemeinden, über die Krise und ihre Folgen. Um mehr Informationen, mehr Hintergründe, mehr Analysen der aktuellen Situation liefern zu können, haben die Ruhr Nachrichten gemeinsam mit der Rheinischen Post und der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Sonderredaktion "Flucht" gebildet. Innerhalb der Kooperation ist eine siebenteilige Serie unter dem Titel "Flucht nach Europa" entstanden. Konkret haben wir uns mit den Themenblöcken , , , , , und auseinandergesetzt.
Die wichtigsten Fluchtursachen – und was man dagegen tun kann
Was bringt Menschen dazu, ihr Leben zu riskieren und sich auf die Flucht zu begeben? Vor allem Krieg und Gewalt, aber auch Armut, Hunger und Unterdrückung sowie die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Fluchtursachen, die sich häufig gegenseitig bedingen und verstärken. Sie zu bekämpfen ist möglich, aber das erfordert einen langen Atem, Zugeständnisse an arme Länder – und vor allem auch politische Entschlossenheit, sich weltweit einzumischen.
1. Umwelt
Naturkatastrophen, die die Lebensgrundlagen der Menschen vernichten, sind häufig mitverantwortlich für Fluchtbewegungen. Extreme Wetterereignisse können Konflikte entstehen lassen oder verschärfen und dadurch Millionen aus ihrer Heimat vertreiben. Es gibt auffällig große Überschneidungen zwischen Regionen, die besonders anfällig für klimabedingte Katastrophen sind, und solchen, in denen immer wieder bewaffnete Konflikte ausbrechen. Das ist ganz besonders deutlich in Afrika, wo Länder wie Somalia, Äthiopien, Sudan und Südsudan sowie praktisch die gesamte westliche Sahelzone notorisch instabil sind.
Wenn Dürre und bewaffnete Konflikte zusammenkommen, ist die Katastrophe vorprogrammiert. So verhungerte 2011 im Bürgerkriegsland Somalia während einer Trockenheit mindestens eine Viertelmillion Menschen.
Noch ist nicht ganz klar, welche Folgen der Klimawandel für Afrikas Landwirtschaft haben wird. In einigen Regionen könnte die Erderwärmung die Anbaugebiete weiter zurückdrängen. In anderen könnte sie dagegen sogar zu steigenden Erträgen führen. Grundsätzlich aber gilt die vorwiegend kleinbäuerliche Landwirtschaft in Afrika gegenüber klimatischen Schwankungen als extrem empfindlich. Hier kann die klassische Entwicklungshilfe greifen. Es geht darum, die afrikanischen Bauern dabei zu unterstützen, ihre Produktivität möglichst klimaverträglich und ohne weiteren Flächenverbrauch zu steigern. Spielraum dafür gibt es: Afrikanische Bauern ernten im Schnitt zwischen 0,5 und 1,5 Tonnen Getreide pro Hektar; in Mitteleuropa fahren die Landwirte mindestens drei- bis fünfmal so viel ein.
Die Erträge in Afrika könnten schon durch recht einfache Maßnahmen deutlich erhöht werden, zum Beispiel durch geschickte Pflanzenwahl und ausgeklügelte Bewässerungsmethoden. Ein effizienterer und zugleich umweltschonender Anbau muss aber ergänzt werden durch bessere Vertriebsmöglichkeiten für landwirtschaftliche Produkte. Dafür sind häufig neue Straßen nötig, damit die Bauern ihre Waren leichter auf den nächsten Markt bringen können.
2. Armut
Mindestens 700 Millionen Menschen leben weltweit in absoluter Armut, das heißt, sie haben täglich weniger als 1,25 US-Dollar zur Verfügung. Ihr Glück in der Flucht suchen jedoch auch Menschen, die zwar nicht um die schiere Existenz kämpfen, aber die in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen. Zwar ist die extreme Armut nach einer jüngst veröffentlichten Studie der Weltbank derzeit so gering wie noch nie. Demnach leben 9,6 Prozent der Weltbevölkerung am Rande des Existenzminimums. 1999 waren es dagegen noch 29 Prozent, 2012 noch 13 Prozent. Aber es gibt große regionale Unterschiede.
Während sich die Lage in Asien angesichts einer von der Globalisierung befeuerten wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren insgesamt erheblich verbessert hat, gibt es in vielen Ländern des südlichen Afrikas bisher nur geringe Fortschritte zu verzeichnen. Hier lebt heute rund die Hälfte der extrem armen Weltbevölkerung. Aber auch Menschen, die nur in relativer Armut im Vergleich zu wohlhabenderen Nachbarländern leben, verlassen ihre Heimat auf der Suche nach besseren Chancen auf Arbeit und Einkommen. Die Auswanderung wird in diesen Fällen zur Selbsthilfe. Ganze Familien unterstützen dann einzelne Mitglieder bei ihrer Flucht ins Ausland. Durch ihre finanzielle Unterstützung sollen diese Migranten später dafür sorgen, dass ihre Angehörigen in der Heimat ein besseres Leben führen können.
Armut lässt sich nicht mit Almosen, sondern nur durch wirtschaftliche Entwicklung bekämpfen. Eine leistungsfähige Ökonomie, die Arbeitsplätze schafft, ist die entscheidende Voraussetzung für die Verminderung der Armut. Arbeit schafft Einkommen und gibt den Menschen damit die Chance, sich selbst aus ihrer Armut zu befreien. Allerdings sind dafür stabile Rahmenbedingungen wichtig, an denen es in vielen Entwicklungsländern chronisch mangelt, darunter eine funktionierende Verwaltung und eine unparteiische Justiz.
Konkret helfen kann die EU beim Aufbau der (beruflichen) Bildung, des Gesundheitswesens sowie der Infrastruktur, vor allem der Wasser- und Energieversorgung. Im November will Brüssel zwei Dutzend afrikanischen Staaten zudem einen Deal vorschlagen: Länder, die Migranten wieder aufnehmen, erhalten im Gegenzug ein maßgeschneidertes Unterstützungspaket. Dafür will die EU-Kommission einen Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika gründen, in den sie 1,8 Milliarden Euro aus europäischen Entwicklungshilfegeldern einspeist. Ferner lockt die EU mit der Aussicht, kooperierenden Staaten mehr Visa auszustellen oder ihnen einen stärkeren Zugang zum europäischen Markt zu gewähren.
Damit die fragilen Volkswirtschaften unterentwickelter Länder irgendwann auf eigenen Füßen stehen können, müssten sich die Industriestaaten freilich auch auf faire Handelsbedingungen einlassen. So haben afrikanische Produzenten kaum eine Chance gegen preisgünstige Importe aus der EU, ebenso wenig wie die afrikanischen Fischer gegen die industriellen Fangflotten. Ein Freihandelsabkommen, das die EU nach zwölfjährigen Verhandlungen demnächst mit der 15 Länder umfassenden Westafrikanischen Staatengemeinschaft schließen will, wird deswegen von einigen Hilfsorganisationen scharf kritisiert. Die geplante Öffnung der afrikanischen Märkte werde erhebliche negative soziale und wirtschaftliche Folgen haben, warnen sie.
3. Unterdrückung
Autokratische bis diktatorische Regimes, Missachtung von Bürger- und Menschrechten, Verfolgung von politisch Andersdenkenden oder religiösen Minderheiten – Menschen fliehen nicht nur vor Armut oder Hunger, sondern auch vor Unfreiheit. Fast eine Milliarde Menschen weltweit gehören in ihrem jeweiligen Land einer Minderheit an. Viele leiden unter Ausgrenzung, manche werde sogar offen verfolgt. Die größte Gruppe der Verfolgten stellen die Christen. Rund 100 Millionen von ihnen sind Opfer von Verfolgung, die derzeit im Nahen und Mittleren Osten besonders brutale Züge annimmt. Schon bevor die Terror-Miliz „Islamischer Staat“ im Irak von sich reden machte, wurde dort die christliche Minderheit der Assyrer und Chaldäer aus dem Land vertrieben.
In anderen Staaten geht es um Diskriminierung, dort werden Minderheiten vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Zum Beispiel wird Sinti und Roma in Osteuropa vielfach der gleichberechtigte Zugang zu Bildung, Kultur und medizinischer Versorgung verwehrt. Manche Regierungen entziehen Angehörigen von Minoritäten sogar gesetzlich die Legitimation. Das trifft etwa auf die Rohingya in Myanmar zu. Sie sind nicht als ethnische Minderheit im Vielvölkerstaat Myanmar anerkannt, sondern gelten offiziell als illegale Einwanderer aus Bangladesch. Ihnen wird in beiden Ländern die Staatsbürgerschaft verwehrt. Oder aber die Menschen fliehen vor einer Diktatur, die sie zu Leibeigenen macht, wie im ostafrikanischen Eritrea. Ein UN-Bericht über Eritrea aus diesem Sommer spricht von Tötungen, willkürlichen Verhaftungen, Folter und Vergewaltigungen. Menschen werden scharenweise in Straflager gesperrt, junge Männer zu lebenslangem Militärdienst verpflichtet. Die Folge: 360.000 Eritreer flohen im vergangenen Jahr vor Diktator Isayas Afewerki, der seit fast 25 Jahren an der Macht ist, nach Europa.
Menschenrechtsverletzungen und politische Unterdrückung zu bekämpfen, ist jedoch problematisch, weil dies in der Regel einen Eingriff in die staatliche Souveränität eines Landes bedeutet. Einen Konsens für internationales Eingreifen herzustellen, ist deswegen sehr schwierig. Weil etwa China solches grundsätzlich ablehnt, blockiert das UN-Sicherheitsratsmitglied beinahe systematisch Vorstöße der Weltgemeinschaft, die auf eine Einmischung in anderen Staaten abzielen.
Es bleibt die Möglichkeit unilateraler Sanktionen, die freilich so gestaltet sein müssen, dass sie möglichst gezielt die Vertreter des Regimes treffen und nicht die Bevölkerung. Dazu können Einreiseverbote gehören, oder das Einfrieren von in Europa deponierten Vermögenswerten. Solange es sich nicht um völlig abgeschottete Diktaturen handelt, bleibt beharrlicher Druck indes meist am erfolgversprechendsten. So koppeln westliche Staaten ihre Entwicklungshilfe schon länger an die Beachtung gewisser Standards der guten Regierungsführung (good governance). Dahinter steckt die Überzeugung, dass erst der Aufbau von stabilen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen die notwendigen Bedingungen für wirksamen Menschenrechtsschutz schafft.
4. Krieg
Kriegerische Auseinandersetzungen und Terror sind die wichtigsten unmittelbaren Ursachen für Fluchtbewegungen. Die meisten Menschen, die derzeit nach Deutschland kommen, fliehen vor dem syrischen Bürgerkrieg, andere fliehen vor neuer Gewalt in Afghanistan oder im Jemen. Der Krieg in Syrien hat die weltweit größte Fluchtbewegung seit dem Völkermord in Ruanda vor 20 Jahren ausgelöst. Von den 21 Millionen Syrern sind fast elf Millionen auf der Flucht, die meisten innerhalb des Landes. Aber schon jetzt haben mehr als drei Millionen Menschen Zuflucht in den Nachbarländern gesucht, vor allem in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Weil Friede nach viereinhalb Jahren Blutvergießen und mehr als einer Viertelmillion Toten immer noch nicht in Sicht ist, weil neben Diktator Baschar al-Assad nun auch die Terrormiliz IS das Land verwüstet und russische Bomben fallen, verlieren immer mehr Menschen in den Flüchtlingscamps ihre ursprüngliche Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat und machen sich auf den Weg nach Europa.
Gewalt lässt sich durchaus stoppen. In Libyen, wo sich nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi zwei verfeindete Fraktionen bekriegen, und auch im Südsudan, wo eine ganz ähnliche Lage herrscht, gibt es aufgrund internationaler Vermittlung inzwischen begründete Hoffnung auf eine Beilegung des Konflikts. Syrien dagegen bleibt der Alptraum der Diplomaten. Ein Ende des Blutvergießens ist nicht in Sicht – vor allem, weil es längst keine klaren Fronten mehr gibt. Die von den sunnitischen Golfscheichtümern unterstützten syrischen Rebellen wollen Assad stürzen, der wiederum vom schiitischen Iran (und seiner Hilfstruppe Hisbollah) sowie von Russland verteidigt wird, die den Diktator für ihre jeweiligen Pläne brauchen. Zugleich fliegt eine internationale, von den USA geführte Allianz Luftangriffe gegen die Terror-Miliz IS, die wiederum auf den Trümmern aller Staaten der Region ihr „Kalifat“ errichten will. Es ist ein verworrener Stellvertreterkrieg mit teils wechselnden Allianzen und einander diametral widersprechenden Interessen.
Würde die Uno die ihr zugedachte Rolle spielen, wäre alles ganz einfach: Russland und Iran würden ihre militärische Unterstützung für Assad einstellen, der Westen und die Golfstaaten würden Geld- und Waffenlieferungen an die Rebellen stoppen, eine Blauhelmtruppe übernähme wenigstens vorübergehen die Kontrolle in Syrien, es würde Wahlen geben und eine neue Regierung, Assad würde an ein Kriegsverbrechertribunal überstellt. Aber das ist nicht die Realität. Immerhin haben sich in einer diplomatischen Großoffensive unlängst in Wien 19 Außenminister versammelt, um gemeinsam einen Ausweg aus der syrischen Tragödie zu finden. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte kürzlich ihren China-Besuch, um Peking für eine aktivere Mitwirkung bei der Suche nach einer Lösung zu gewinnen.
Denn klar ist: Nur wenn die jeweiligen Verbündeten Druck auf die Kriegsparteien machen, besteht überhaupt Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe. Und damit wäre auch erst ein Teil der Bedingungen erfüllt, um die Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. Eine weitere wichtige Voraussetzung wäre ein Fortbestehen des syrischen Staats in seinen bisherigen Grenzen. Eine vom Iran offenbar inzwischen favorisierte Aufteilung, wobei dem Assad-Regime ein Rumpfreich bliebe, das sich vom Mittelmeer bis nach Damaskus zöge, könnte den staatlichen Zerfall der gesamten Region einleiten, dem IS neue Spielräume eröffnen und neue Fluchtwellen einleiten.
Grundsätzlich wirft die syrische Tragödie die Frage auf, wie es um Europas Bereitschaft zur politischen, notfalls auch militärischen Intervention bestellt ist. Wichtig wäre in jedem Fall, dass die Lösung internationaler Konflikte in Deutschland und in Europa künftig einen sehr viel höheren politischen Stellenwert bekommt. Der Eskalation in Syrien hat der Westen zu lange praktisch tatenlos zugesehen; die Lage in Afghanistan hat man sich schöngeredet, um einen offensichtlich verfrühten Truppenabzug zu rechtfertigen. Und nun tobt im Jemen schon der nächste Krieg, vor dem ebenfalls Menschen zu uns flüchten werden. In der deutschen Öffentlichkeit gab es breite Unterstützung bisher nur für wohlgemeinte Entwicklungspolitik oder humanitäre Nothilfe. Langfristige Krisenprävention bleibt sicherlich die Priorität. Aber nicht immer wird sie greifen. Und dann wird man vielleicht auch offener über robustes Eingreifen diskutieren müssen, wenn es darum geht, die nächsten Fluchtwellen zu verhindern.
Fotos: dpa; Texte: Matthias Beermann; Illustration: Martin Ferl/Anna Radowski
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