Fern- vor Nahverkehr: Massive Kritik vom VRR
Vorrang im Schienennetz
Der Fernverkehr hat vor dem Nahverkehr Vorrang im Schienennetz der Bahn: Martin Husmann, Chef des Verkehrsverbundes Rhein Ruhr (VRR), hat das nun massiv kritisiert. Warum diese Regelung für ihn unbegreiflich ist und welche die unpünktlichsten Züge der Region sind, erfahren Sie hier.

Ein Regional-Express.
„Da kommt dann also ein ICE mit 20 Minuten Verspätung, der hier in der Region maximal zwei Minuten aufholt und bringt dadurch den gesamten Fahrplan und das gesamte Nahverkehrssystem durcheinander und Tausende zu spät zur Arbeit. Das kann man niemandem mehr begreiflich machen“, sagte Husmann im Interview mit unserer Redaktion.
Pünktlichkeit im Fernverkehr derzeit "lächerlich"
Immer wieder komme es auf den engen und baustellenbelasteten Schienen-Korridoren in der Region zu Problemen, weil die Pünktlichkeit der Züge im Fernverkehr derzeit "lächerlich" sei. Unterstützung erhält Husmann vom Fahrgastverband Pro Bahn: „Ein Blick in den Qualitätsbericht NRW zeigt, dass die meisten Verspätungen bei den langlaufenden RE-Linien 1, 5, 6 und 7 vorkommen. Die Regional-Express-Züge sind in ihrer Fahrplanlage zwischen zwei Fernzügen „eingeklemmt“. Ist der erste Fernzug verspätet, starten sie ebenfalls verspätet. Kommt dann der zweite Fernzug pünktlich, werden sie wegen der Verspätung zusätzlich überholt“, so NRW-Sprecher Lothar Ebbers.
Uli Beele, Sprecher des Nahverkehrs Westfalen-Lippe, der unter anderem den Zugverkehr im Münsterland organisiert, nennt die Regelung „nicht zeitgemäß“. Hier kommt es unter anderem auf der eingleisigen Strecke Dortmund- Münster oft zu Problemen. Die Bahn sah sich auf Anfrage lediglich dazu in der Lage, die bestehende Regelung noch einmal zu zitieren.
Martin Husmann kündigte Verbesserungen im Vertrieb an. So werde es bald die Möglichkeit geben, mit Kundenbetreuern per Video in Kontakt zu treten.
Die Langfassung des Qualitätsberichts 2015 finden Sie auf der Website von .
Das Interview mit Martin Husmann in der Originalversion:
Herr Husmann, das Thema Hunde bei Fahrkartenkontrollen als Begleiter von Sicherheits- und Servicekräften ist erst mal vom Tisch. Was bleibt denn insgesamt übrig von den Absichtserklärungen in Sachen mehr Sicherheit zu Jahresbeginn?
Ziel ist es, schnellstmöglich die Verfügungsteams an den Start zu bringen, damit bedarfsgerecht die bereits vorhandenen Sicherheitskräfte unterstützt werden. Unsere Politik will eine einjährige Pilotphase mit diesen Teams ohne Hunde, um danach zu bewerten, wie sinnvoll der Einsatz ist und ob eine zusätzliche Begleitung durch Hunde nötig ist. Wir gehen darüber hinaus die Verpflichtung ein, über Anpassungen in den Verkehrsverträgen ab 18 Uhr auf den S-Bahnen eine Doppelbestreifung zu gewährleisten, sowie das tagsüber in allen Zügen mindestens statt in jedem Vierten in jedem Zweiten Sicherheitspersonal eingesetzt wird. Fest steht, dass Bedarf besteht, weil über alle Gesellschaftsschichten hinweg die Menschen aggressiver reagieren. Übrigens ist das Thema Hunde ja auch noch nicht ganz vom Tisch, auch vor dem Hintergrund, dass sowohl die Hamburger Hochbahn als auch die Kölner Verkehrsbetriebe damit sehr gute Erfahrungen gemacht haben und die Bundespolizei einen vermehrten Einsatz von Tieren angekündigt hat. Nach deren Berechnungen ersetzt ein Hund mit Maulkorb zehn Männer.
Über welchen Zeitraum reden wir?
Wir würden gerne noch im Herbst mit dem Einsatz der Verfügungsteams beginnen, das hängt aber auch davon ab, ob genügend qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Spätestens aber Anfang 2017 wird es auf bestimmten Linien, die besondere Probleme bereiten, losgehen.
Die Deutsche Bahn fährt demnächst nur noch 40 Prozent des Schienen-Nahverkehrs in NRW. Bahnmitarbeiter schreiben uns, dass Sie es jetzt endgültig geschafft haben, das Unternehmen aus dem VRR-Gebiet zu verdrängen. Mit einschneidenden Folgen für die Mitarbeiter. Müssen Sie sich da in Zukunft nicht auch mehr Gedanken machen?
Erstmal verliert keiner seinen Arbeitsplatz. Schlimmstenfalls wird er woanders eingesetzt. Auf der anderen Seite sind Lokführer und Zugbegleiter „Mangelware“, die von Abellio, Nordwestbahn, National Express usw. händeringend gesucht werden. Den möglichen Personalwechsel zwischen den alten und neuen Betreibern wird der VRR immer zielgerichtet unterstützen. Was wir nicht leisten können und dürfen ist, einen tariflichen Übergang zu gestalten. Das ist Sache der Tarifparteien. Die GDL hat da bereits etwas ausgehandelt, die EVG nicht. Das kann aber nicht unser Problem sein. Dafür gibt es die Tarifautonomie. Jetzt rufen Gewerkschaften in einer Situation, in der sie selbst gefragt sind, nach dem Gesetzgeber. Wenn das in der Form weitergeht, muss der Bundesgesetzgeber entsprechende Regelungen erlassen. Aber dann brauchen wir auch keine Gewerkschaften mehr. Unstrittig ist aber auch, dass es bei der Bahn Personalüberhänge gibt, um die man sich früher hätte kümmern und sich wettbewerbstechnisch anders aufstellen müssen.
Die Bahn konnte ja nicht ahnen, dass ausgeschrieben wird …
Die Bahn konnte insbesondere nicht wissen, dass ich hier anfange. Das ist aber nun mal so. Fakt ist: Es wäre sinnvoll, einen Tarifvertrag für alle Eisenbahnunternehmen auszuhandeln. Im Übrigen liegen die Konditionen der Wettbewerber gar nicht so weit auseinander.
Durch die Ausschreibung wichtiger Strecken wie dem RRX kommt auch auf die Kunden einiges Neue zu. Wie gewährleisten Sie, dass es nicht zu mangelhaften Betriebsaufnahmen wie beim Betreiber National Express vor einigen Monaten kommt?
Das wäre in der Tat eine Katastrophe. Es hat aber auch schon schlimmere Betriebsaufnahmen als die aktuelle von National Express gegeben. Nichtsdestotrotz hat es mit National Express schon mehrere Gespräche gegeben, die dazu geführt haben, dass personell nachgesteuert wurde. Problematisch war aber auch, dass das Unternehmen auf die Bahn als Betreiber der Werkstätten gesetzt hat. Das hat eine hakelige Schnittstelle geschaffen, weil es auch bei DB in diesem Bereich absolut nicht rund lief. Aber wir haben hier noch ein anderes Thema, das ich für extrem wichtig halte: den Fernverkehr der Bahn, der momentan äußerst schlecht unterwegs ist aber immer noch Vorrang vor dem Nahverkehr hat. Die Pünktlichkeitswerte beim Fernverkehr liegen bei 76 Prozent und man ist schon froh, wenn man 80 Prozent erreicht.
Kritik an der Regelung, dass der Nahverkehr warten muss, damit der Fernverkehr passieren kann, wird von allen Seiten lauter. Es ändert sich aber nichts.
Diese Regelung stammt aus uralten Zeiten, als der Nahverkehr noch keine so bedeutende Rolle wie heute gespielt hat. Wir reagieren, indem wir spurtstarke Fahrzeuge beschaffen, die bis zu 160 km/h fahren können. Mehr geht auf den Strecken hier sowieso nicht. Aber auch das reicht nicht, wenn der enge Korridor hier regelmäßig vom Fernverkehr durcheinandergebracht wird. Da kommt dann also ein ICE mit 20 Minuten Verspätung, der hier in der Region maximal zwei Minuten aufholt und bringt dadurch den gesamten Fahrplan und das gesamte Nahverkehrssystem durcheinander und Tausende zu spät zur Arbeit. Das kann man niemandem mehr begreiflich machen.
Gibt es Hoffnung?
Man darf nicht locker lassen bei dem Thema. Momentan geschieht eher das Gegenteil. Um die lächerlich schlechten 80 Prozent Pünktlichkeit zu erreichen, gibt es immer mehr Direktiven, die den Nahverkehr beeinflussen.
Die Eisenbahnunternehmen können noch so viele schöne Züge auf die Strecken stellen, wenn Oberleitungen herunterfallen, wie in letzter Zeit häufiger mal geschehen.
Ich habe den Zustand der Infrastruktur schon 2006 kritisiert und auch die Sparmaßnahmen der Bahn wegen des damals geplanten Börsenganges. Das wurde lange bestritten, inzwischen gibt der Konzern es zu. Das hat zu einem deutlichen Verfall der Infrastruktur geführt. Inzwischen wird investiert, aber schlecht organisiert und ohne Augenmaß. Im Prinzip ist es unmöglich, dass wegen des Einbaus eines elektronischen Stellwerkes in Wuppertal dort über Ostern zwei Wochen nicht gefahren werden kann und im Sommer auch nicht. Solche Ansinnen sind auch für den Ruhrkorridor an uns herangetragen worden.
Die Bahn bereitet die Pendler schon auf Chaoszeiten vor …
Bei dem, was die alles bauen müssen, macht das auch Sinn. Besser wäre es, das Chaos zu begrenzen. Was bei besser strukturierter Arbeitsweise auch ginge. Auf bestimmten Strecken ist es ja möglich, den Verkehr zeitweise einzustellen. Bei den vielen Tausend Pendlern in unserer Region und im Ruhrkorridor geht das nicht. Es müsste auch verlässlicher gebaut werden und da tut sich DB Netz immer noch sehr schwer. Allerdings gibt es eine Initiative der Bundesarbeitsgemeinschaft der Verkehrsunternehmen und anderer – auch DB Regio – an den Bund zu appellieren, mehr Geld in die Hand zu nehmen, um Baustellen so zu gestalten, dass sie den Betriebsablauf weniger stören.
Sprechen wir über Geld. Die Energiepreise sind gesunken. Wann sinken die Fahrpreise?
Ich kann natürlich jetzt schlecht sagen, was nächstes Jahr von der Politik beschlossen wird. Neben Energiekosten spielen ja auch Personalkosten eine wichtige Rolle. Aber sinkende Preise werden wir nicht erleben. Es ist aber denkbar, dass vor der Preiserhöhung eher eine Zwei als eine Drei steht. Das werden wir Mitte 2017 diskutieren.
Man hat das Gefühl, im Nahverkehr hinkt NRW im digitalen Bereich weit hinterher.
Wir arbeiten gerade an einer neuen Verbund-App und haben darüber hinaus den SPNV-Vertrieb ab Ende 2019 ausgeschrieben. Ein Los sieht dabei die klassische Automatenlösung vor, mit einem Ziel: in drei Schritten zum Ticket sowie eine einfache elektronische Bezahllösung bis hin zur Kreditkarte. Es soll dort aber auch die Möglichkeit integrieret werden, über Video mit Kundenberatern konferieren zu können. Es wird zwar weiterhin Reisezentren geben, doch diese Technik soll sie ergänzen, damit wir unabhängiger von Öffnungszeiten werden. Das wäre auch eine Lösung für Orte, an denen sich ein Reisezentrum nicht mehr lohnt. Und dann stelle ich mir ein Check in und Check-Out-System vor. Das Ganze soll erst mal mit dem Handy funktionieren und ist Bluetooth-basiert. Man steigt irgendwo ein, wieder aus und bekommt am Monatsende seine Rechnung dafür. Dieses zweite Los wird Mitte nächsten Jahres vergeben. Wir hoffen, ab 2020 das Ganze einsetzen zu können.
Es müssten aber auch Verkehrswege besser vernetzt werden.
Ich habe den Auftrag vergeben, alle Park-and-Ride-Parkplätze in unserem Gebiet zu erfassen. Ziel ist, Pendlern in Echtzeit sagen zu können, wo auf ihrer Strecke noch P&R- Plätze frei sind, im Idealfall per Navigation. Bei Staus könnte man einen solchen Parkplatz dann nutzen und auf den Nahverkehr umsteigen. Perspektivisch bieten wir Car- und Bikesharing an.