Das Opernrepertoire ist seit Samstag um einen interessanten „Faust“ reicher: Komponiert von der Französin Louise Bertin und 1831 am Pariser Théatre-Italien uraufgeführt (deshalb auch auf Italienisch), erlebte deren Vertonung der Goethe-Tragödie am Aalto-Theater in Essen ihre erst zweite szenische Realisierung überhaupt und erwies sich dort als eine – auch vom Publikum gefeierte – Entdeckung! Möglich wurde dies aufgrund einer erst im Vorjahr herausgekommenen Neuedition der Oper.
Dabei wäre die Wiederaufführung am Samstag fast gescheitert, denn wenige Tage vor der Premiere fiel die weibliche Hauptdarstellerin Jessica Muirhead krankheitsbedingt für die Rolle der Margarete aus. Als Retterinnen fungierten die Sopranistin Netta Or, die sich die „neue“ Partie noch schnell draufgeschafft hatte und vom Bühnenrand sang, sowie Regisseurin Tatjana Gürbaca als stummes, schauspielerisch starkes Gretchen-Double auf der Bühne.
Klangfarblicher Reichtum
Louise Bertins „Fausto“ ist 15 Jahre vor „Fausts Verdammnis“ von Berlioz und 28 Jahre vor Gounods großer „Faust“-Oper entstanden. Ihr sehr einfach und klar strukturiertes zweieinhalbstündiges Werk schlägt musikalisch den Bogen von Mozarts „Don Giovanni“ zur Opulenz einer französischen Grand opéra. Zwischendurch ist – vor allem in der Bass-Partie des Mephisto – auch etwas Rossini dabei.
Die Essener Philharmoniker zeigten unter der musikalischen Leitung des Alte-Musik-Spezialisten Andreas Spering im etwas hochgefahrenen Orchestergraben, wie versiert die Komponistin zwischen ernster und komischer Oper zu changieren vermag und welch großen klangfarblichen Reichtum sie einsetzt. Einen ersten musikalischen Höhepunkt bot schon die fein ausgeleuchtete Ouvertüre mit ihren lyrischen Passagen für die Holz- und den dramatischen Akzenten der Blechbläser.
Starkes Männer-Duo
Regisseurin Tatjana Gürbaca siedelt die Oper um den verhängnisvollen Pakt mit dem Teufel in einer steril-weißen Klinik der Gegenwart an (Bühne: Marc Weeger). Den des Lebens müden Dr. Faust hat sie passenderweise gleich zum Chef der Pathologie befördert. Als dieser sich dann verjüngen lassen möchte, um die Krankenschwester Margarete erobern zu können, verleiht sie ihm zusätzlich übernatürliche Fähigkeiten: Mit einem Beschwörungsritual erweckt er Mephisto, eine seiner Leichen, zum Leben. Im Gegensatz zu Goethe taucht Mephisto bei Bertin tatsächlich nicht von sich aus auf, sondern wird von Faust gerufen.
Mirko Roschkowski bewältigte die expressive, sprunghaft den vollen Stimmumfang ausnutzende Tenor-Partie des Fausto bei der Premiere weitgehend mit Bravour. Almas Svilpa war der stets dienstbereite, joviale Mephisto an seiner Seite und kostete die Basspartie kernig und, soweit gefordert, auch komödiantisch-leicht aus.
Stilsichere Margarete
Netta Or begeisterte als klangvolle, stilsichere Margarete (Jessica Muirhead soll die Rolle ab der nächsten Vorstellung singen und spielen). George Virban erhielt Szenenapplaus für seine Paradenummer als Valentin. Schade, dass Louise Bertin diesem zweiten Tenor nur diese einzige Arie anvertraut hat.

Weitere Vorstellungen
Termine: 8. / 23. 2., 9. / 17. 3., 6./ 24. 4., 11. 5.2024; Karten: Tel. (0201) 812 22 00.
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