
Stephan Schultheiss (r), Anwalt der in Deutschland lebenden Elternteile zweier mutmaßlich entzogenen Mädchen, spricht mit Dante Leguizamon (l), Vertreter einer lokalen Behörde für Kinder- und Jugendrechte, vor einer Pressekonferenz im Hotel Westfalenhaus. © picture alliance/dpa
Essen: Impf-Gegner verschleppt Clara (10) nach Paraguay
Kriminalität
Es ist ein Alptraum für Anne R.: Ihr Ex-Mann, ein Corona-Leugner, hat ihre Tochter Clara (10) nach Paraguay verschleppt. Auch ein zweites Kind ist verschwunden.
Es sind die letzten Tage im November 2021, als die Welt der Anne R. (45) in Essen zusammenbricht. Ihr Ex-Mann hat der gemeinsamen Tochter Clara zu ihrem 10. Geburtstag eine Reise nach London geschenkt.
Schon früher hatte der Ex-Mann seine Tochter über das Wochenende betreut und etwas mit ihr unternommen. Alles lief immer glatt, er brachte sie verlässlich zurück. Diesmal nicht. Weder er noch Clara kehren zurück. Daran hat sich auch ein halbes Jahr später bis heute nichts geändert.
Über Madrid geht es nach Asunción
Die Geburtstags-Reise für Clara führt auch nicht nach London, sondern über Madrid nach Asunción, in die Hauptstadt Paraguays. Dort tauchen die beiden dann unter und nicht nur sie.
Auch die zweite Ehefrau des Ex-Mannes, mit der er zusammen in München wohnt, verschwindet zeitgleich nach Paraguay und mit ihr ihre Tochter Lara (11) aus der ersten Ehe. Auch ihr Ex-Mann fällt aus allen Wolken, als er realisiert, dass sich seine Ex-Frau mit der gemeinsamen Tochter Lara abgesetzt hat.
Ein „Abschiedsbrief“ im Briefkasten
Ein paar Tage nach dem Verschwinden findet Anne R. einen Brief ihres Ex-Mannes in ihrem Briefkasten.
„Wir möchten euch hiermit darüber in Kenntnis setzen, dass wir unsere Wochenendreise mit den Kindern auf unbestimmte Zeit verlängern werden“ lautet der erste Satz. Er umschreibt so mit harmlos klingenden Worten ein Verbrechen, das sich für die zurückgelassenen Elternteile zu einem nicht enden wollenden Alptraum auswächst.
„Überwachungsstaat, Angst, Krieg“
In dem Brief schreibt er, dass er seinem Kind doch kein „Leben in einem Überwachungsstaat, in Angst, Krieg und Krankheit“ zumuten könne, denn es kämen auf Deutschland „bürgerkriegsähnliche Zustände“ zu. Die Corona-Schutzimpfung bezeichnet er als „Menschen-Experiment mit bisher unbekanntem Ausgang“ und verbreitet dann ebenso abstruse wie falsche Behauptungen der Gegner der Corona-Maßnahmen. Es ist bisher der letzte Kontakt, den Anne R. zu ihrem Mann hat, wenn man das denn überhaupt so bezeichnen darf.
Dass ihr Ex-Mann in das Lager der Corona-Leugner, Impfgegner und Anhänger von Verschwörungs-Theorien abgedriftet ist, weiß Anne R. schon lange. Er hat dagegen gekämpft, dass seine Tochter in der Grundschule eine Maske tragen und mittels Wattestäbchen in der Nase einen PCR-Test abgeben soll. Schließlich zog die Mutter vor das Familiengericht und bekam im April 2021 das alleinige Sorgerecht für Clara zugestanden.
Ex-Mann war Fußball-Profi in Mönchengladbach
Sieben Monate später macht sich der Ex-Mann mit seiner Tochter, seiner neuen Frau und deren Tochter Lara aus dem Staub. Er war einst Profifußballer, spielte unter anderem bei Borussia Mönchengladbaach und ließ später seine Karriere bei der Spielvereinigung Vreden im Münsterland ausklingen. Zuletzt verdiente er sein Geld offenbar mit Ticket-Geschäften.
Seine neue Frau ist Opernsängerin und trat unter anderem in München, Berlin, Mailand und Paris auf.
Kindesentziehung in Paraguay nicht strafbar
Sowohl Anne R. als auch der Vater der verschleppten Lara setzen alles in Bewegung, um ihre verschwundenen Töchter zu finden. Das bestätigt der Essener Anwalt Ingo Bott, der die beiden vertritt, unserer Redaktion ebenso wie die bisher bekannten Details des Dramas. Die werden im Übrigen auch von Medienberater Matthias Onken, der die beiden verzweifelten Elternteile berät, gegenüber unserer Redaktion bestätigt.
Dabei gibt es ein großes Problem: Kindesentziehung wird strafrechtlich nicht als Entführung betrachtet. In Deutschland ist sie strafbar, in Paraguay nicht. Außerdem ist Paraguay seit langem ein Zufluchtsort für alle möglichen eher zweifelhaften Gruppen aus Deutschland, für Nazis und Neonazis ebenso wie für Wutbürger, „Querdenker“ und Verschwörungs-Theoretiker. Solche Netzwerke können von Menschen, die von der Bildfläche verschwinden wollen, genutzt werden.
Ermittlungen auf eigene Faust
Also ermitteln Anne R. und der Vater von Lara auf eigene Faust, setzen jede Menge Zeit und Geld ein. Aber auch die guten Verbindungen, die Anne R. hat, helfen wenig.
Sie reisen wochenlang durch Paraguay auf der Suche nach ihren Kindern, schließlich schalten auch die Behörden in Paraguay ihre Sondereinheit für Entführungsfälle ein. Eingebunden sind auch die Staatsanwaltschaft Essen, Interpol, die deutsche Botschaft in Asunción, die dortige Polizei und Staatsanwaltschaft sowie die Kinderrechtsorganisation CDIA. Inzwischen gibt es auch ein internationales Fahndungsgesuch nach dem Ehepaar.
Als die Fahnder kommen, haben sie das Weite gesucht
Im Januar gelingt es den Behörden in Paraguay, den vermeintlichen Aufenthaltsort der vierköpfigen Patchwork-Familie auf der Flucht zu ermitteln. Ihr Ex-Mann, so hat Anne R. herausgefunden, hat in der Nähe von La Colmena ein Grundstück gekauft und mit dem Bau eines Hauses begonnen.
Nach Informationen unserer Redaktion hat der Ex-Mann auch vier, fünf Pferde für das neue Anwesen gekauft. Doch als die Behörden versuchen, die Flüchtigen dort aufzuspüren, haben sie kurz vorher das Weite gesucht. Es wird vermutet, dass sie einen Tipp erhalten haben, dass Fahnder im Anmarsch sind. Die Korruption blüht in Paraguay.
Ende Mai reiste Anne R. wieder nach Paraguay und gab dort am Montag (30. Mai) eine Pressekonferenz. Es war der Auftakt zu einer großen Fahndungsaktion in Paraguay. Jetzt wird mit großen Plakaten nach den beiden Erwachsenen und den beiden Kindern gefahndet.
Dabei richtete Anne R. nach Darstellung der Deutschen Presse-Agentur einen verzweifelten Apell an ihren Ex-Mann: „Bitte melde dich und beende diese fürchterliche Situation. Die Mädchen können doch nicht den Rest ihrer Kindheit auf der Flucht verlieren.“ Mit tränenerstickter Stimme bat sie auch die paraguayische Bevölkerung um Unterstützung. „Ich bin eine verzweifelte Mutter“, sagte sie. „Habt ein Herz für unsere Mädchen und helft uns bei der Suche.“
Vielleicht führt das zum Erfolg. Vielleicht kann auch der Verein www.wieder-zurueck.de helfen, den Freunde von Anne R. in Essen gegründet haben. Er will sich für ähnlich betroffene Eltern engagieren.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
