Am Anfang steht ein jüdischer Wanderprediger. Vor 2.000 Jahren zieht Jesus von Nazareth, Sohn eines Zimmermanns, durch Galiläa. Er ist ein gläubiger Mensch, der in einfachen Worten zu einfachen Menschen spricht. Seine Zuhörer sind Fischer, Hirten, Handwerker, kleine Leute. Er spricht vom Reich Gottes, predigt Umkehr und Buße. Er steht kompromisslos auf der Seite der Armen, der Ausgestoßenen, der Randgruppen.
Seine Botschaft ist unmissverständlich: Selig, die keine Gewalt anwenden; selig, die Frieden stiften; selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Seine Botschaft kleidet er in Bildern, die an die Alltagswelt der kleinen Leute seiner Zeit anknüpfen. Er spricht von Schafen und Hirten, vom Säen und Ernten, von Blumen auf dem Felde. Das versteht jeder – auch ohne theologische Ausbildung.
„Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“
Jesus ist tief verwurzelt im jüdischen Glauben, aber er hat wenig im Sinn mit jenen Gelehrten, die den Glauben nicht als befreiende Botschaft verkünden, sondern den Menschen immer neue kleinkarierte Gesetze und Normen auferlegen. Er setzt sein „Ich aber sage euch“ dagegen. Für ihn zählt: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Mit der Selbstgerechtigkeit der Oberen kann er nichts anfangen. Er entlarvt sie als scheinheilig: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“
Mit solchen Reden zieht sich Jesus den Zorn der Mächtigen zu. Sie erkennen die Sprengkraft seiner Botschaft und lassen ihn hinrichten. Sie glauben, wenn erst der charismatische Prediger tot ist, wird sich der Aufruhr schon wieder legen. Ein Irrtum.
Die Erfahrung, die seine Anhänger nach Jesu Tod machen, ist ungeheuerlich: Sie erleben, dass Gott selbst zu Jesus, dem nach irdischen Maßstäben Gescheiterten, steht. Sie gewinnen die Gewissheit, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat.
Jesu Botschaft wird zur Bedrohung für die Etablierten
Jetzt wird die Botschaft erst recht zur Bedrohung aller Etablierten. Die Verfolgung der christlichen Gemeinde beginnt. In vorderster Front dabei ist Saulus, der sich bald zum Christentum bekehrt. Unter dem Namen Paulus stellt er die Weichen, dass das Christentum zur Weltreligion aufsteigen kann. Nach heftigen Diskussionen in der jungen Gemeinde setzt er sich durch: Jesu Botschaft richtet sich nicht nur an die Juden, sondern an alle Menschen.
Der Siegeszug des Christentums beginnt. Anfangs beherzigt die Kirche den Rat des Paulus: Prüft alles und behaltet das Gute. Selbst grausamste Verfolgungen können sie nicht stoppen. Und dann kommt Kaiser Konstantin. 313 wird aus der verfolgten eine geduldete Kirche. 380 wird das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion.
Dieses Ereignis ist Triumph und Menetekel zugleich: Mit der neuen Position verstärkt sich die Notwendigkeit, feste Strukturen zu schaffen. Wie in jeder wachsenden Gruppe müssen Regeln her, die den Zusammenhalt sichern. Die Verantwortlichen der Kirche bedienen sich dabei fatalerweise der Mechanismen der weltlichen Vorbilder.
Regelwerke, Normen, Gesetze
Im Laufe der Jahrhunderte bilden sich hierarchische Strukturen heraus, Regelwerke, Normen, Gesetze. Aus der einfachen Botschaft Jesu für einfache Leute entwickelt sich eine Struktur, die genauso von Interessen an Macht, Reichtum und Einfluss geleitet wird wie im Staat.
Aus der subversiven Botschaft Jesu wird ein Machtinstrument in der Hand von bald schon reichen Religionsführern, die mehr mit weltlichen Fürsten zu tun haben als mit dem Wanderprediger, dessen Botschaft sie verkünden sollten.
Die Kluft wächst. Jesu Botschaft, wie sie von den Theologen und Kirchenfürsten verkündet wird, wirkt auf viele nicht mehr frohmachend, sondern als Drohbotschaft. Aus der einst verfolgten Kirche wird eine Kirche der Verfolger. Inquisition, Hexenverbrennung, Kreuzzüge. Immer wieder versuchen Reformer, die Kirche auf den eigentlichen Kurs zurückzubringen. Die meisten scheitern.
Luther ebnet mit seiner Bibelübersetzung den Weg zu einer neuen Zeit. Dank der Erfindung des Buchdrucks sorgt er dafür, die Botschaft Jesu wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Doch die Hierarchie schlägt zurück. Es kommt zur Kirchenspaltung, zu Religionskriegen.
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“
Und dann die Aufklärung. Immanuel Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ trifft die Kirche ins Mark, denn das Infragestellen der Autoritäten der Zeit gilt auch der Kirche. Die kontert verängstigt mit einer noch stärkeren Zentralisierung. Während vorher die Bischöfe ihr Bistum in großer Eigenständigkeit mit regionaltypischen Eigenheiten lenken konnten, fokussiert sich die Hierarchie immer mehr auf den Papst. Das gipfelt 1870 beim 1. Vatikanischen Konzil im Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes.

Das 2. Vatikanum in den 1960-er Jahren versucht zwar, korrigierend einzugreifen und die Position der Bischöfe wieder zu stärken, aber durchgesetzt haben sich die Ideen des 2. Vatikanums bis heute nicht. Im Gegenteil: Gerade unter Joseph Kardinal Ratzinger als Chef der Glaubensbehörde achtet Rom peinlichst genau darauf, dass niemand vom römischen Kurs abweicht. Das muss Leonardo Boff, der in Lateinamerika mit seiner Befreiungstheologie kompromisslos jesuanisch an der Seite der Armen steht, ebenso erfahren wie Eugen Drewermann, der versucht, durch tiefenpsychologische Gedanken den Menschen einen neuen Zugang zum Glauben zu eröffnen.
Und so ist das größte Dilemma, vor dem die katholische Kirche im 21. Jahrhundert steht, das gleiche wie seit Jahrhunderten: der tiefe Graben zwischen der einfachen, barmherzigen, machtkritischen Botschaft Jesu und einer machtbewussten, reichen Kirche, die auf Pfründen und Einfluss beharrt und unbarmherzig mit jenen umgeht, die anderer Meinung sind.
So wenden sich viele Menschen enttäuscht von der Kirche ab. Einige tun das laut und protestierend, die meisten aber bleiben schlicht einfach weg. Kirche wird ihnen gleichgültig. Karl Rahner, vielleicht der größte katholische deutsche Theologe des 20. Jahrhunderts, sah schon 1984 eine „winterliche Zeit“ für die Kirche heraufziehen.
Missbrauchsskandal als Offenbarungseid
Und jetzt, in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts verschärft sich die Krise noch einmal dramatisch. Dass Priester, Ordensleute und andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte hinweg tausendfach sexuell missbraucht haben, ist wie ein Offenbarungseid. Selbst diejenigen, die bisher noch treu zur Kirche standen, sind fassungslos und geraten ins Schwanken: Kann ich diese Kirche noch guten Gewissens unterstützen?
Das Bekanntwerden der Vertuschungs- und Verdrängungsmanöver bis in die Kirchenspitze hinein, das offenkundige Bemühen, nur das einzugestehen, was aus anderen Quellen bekannt wird, macht alles nur noch viel schlimmer. Die offizielle Amtskirche hat auch das letzte bisschen Glaubwürdigkeit verloren.
Längst geht es nicht mehr nur um die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Jetzt geht es um das System Kirche insgesamt: um die undemokratischen, monarchistischen Machtstrukturen, um die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen, um Zwangszölibat und Priestermangel, um die großen Privilegien von Kirche und Kirchenfürsten in unserem Land. Letztlich geht es immer um die eine zentrale Frage: Wie kann die Kirche zurückfinden auf den Weg, den der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth, seinen Anhängern vorgelebt hat? Wie kann die Kirche der Mächtigen wieder zur glaubwürdigen Kirche für die Ohnmächtigen werden?
Sehnsucht nach dem, was dem Leben Sinn und Tiefe gibt
So sehr die Amtskirche in die Krise geraten ist, so sehr gilt auch: Die Sehnsucht nach dem, was dem Leben Sinn und Tiefe gibt, ist auch im 21. Jahrhundert groß. Nur: Viele trauen der Kirche nicht mehr zu, überzeugend darauf zu antworten. Die Botschaft Jesu ist allerdings weder altersschwach noch obsolet. Wo sie glaubwürdig vor Ort in den Gemeinden verkündet und vorgelebt wird, berührt sie noch immer das Herz der Menschen.
Überarbeitete Version
In einer ersten Version erschien dieser Text am 1. März 2013 nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI. und vor der Wahl von Franziskus zum Papst. Für diese Version vom 11. Februar 2022 wurde der Text überarbeitet und aktualisiert. Zum Tod von Papst Franziskus am 21. April 2025 wurde der Text neu veröffentlicht.
Kilometerlange Warteschlange am Petersdom: Tausende nehmen Abschied vom Papst - Newsblog