Eine Seuche namens Corona-Popsongs: Das ist der Soundtrack zur Krise

Coronavirus

Jedes Großereignis hat seine Musik. Das ist auch bei Corona nicht anders. Von Max Giesinger bis zu Silbermond, von den Ärzten bis zu Bono fühlen sich zahllose Künstler herausgefordert.

NRW

24.04.2020, 19:00 Uhr / Lesedauer: 7 min
Seit Beginn der Corona-Krise haben bereits mehrere Künstler Coronavirus-Songs aufgenommen.

Seit Beginn der Corona-Krise haben bereits mehrere Künstler Coronavirus-Songs aufgenommen. © picture alliance/dpa

Als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Centers in New York kollabierten und mit ihnen das Sicherheitsgefühl der westlichen Welt, war der Soundtrack zum Drama schnell gefunden: Kein TV-Zusammenschnitt der apokalyptischen Bilder von Stahlgerippen und verzweifelten Feuerwehrmännern, ohne dass „Only Time“ von Enya als musikalisches Federbett des Trostes darunter lag.

Die im Jahr davor erschienen Ballade der irischen New-Age-Pionierin mit dem gälischen Geburtsnamen Eithne Pádraigín Ní Bhraonáin war - zynisch, aber wahr - der Hit des Jahres. Die Tantiemen allerdings spendete Enya vollständig an die Hinterbliebenen der Anschlagsopfer und die New Yorker Feuerwehr. In den deutschen Jahrescharts 2001 landete der Titel dann auf Platz zwei - hinter den No Angels mit „Daylight In Your Eyes“.

Aber Enyas milder Trostspender war nicht das einzige Popsong, der 9/11 musikalisch untermalte. Ein leidlich erfolgreicher mallorquinischer Technoproduzent mit dem Künstlernamen „DJ Sammy“ schnappte sich die eher robuste Bryan-Adams-Ballade „Heaven“ und machte daraus einen sanft dahinplätschernden Remix mit weiblicher Flüstersängerin zu leise mäanderndem Piano.

Es wurde ein Welterfolg. Und dann unterlegte der kalifornische Radiosender KKXX-FM die Version von DJ Sammy auch noch mit der Stimme eines tapferen kleinen Mädchens, das ihrem toten Vater im Himmel erzählt, wie sehr sie ihn vermisst. „Ich versuche, nicht zu weinen, Daddy“, sagt das Kind. Das ging so dermaßen an die Nieren, dass das Clip ein früher viraler Hit wurde, in zahlreichen Versionen immer neu erschien und bis heute zu Tränen rührt.

Kitsch? Gewiss. Aber manchmal hilft ehrlicher, unverbrämter Kitsch einfach bei der Bewältigung von Schmerz.

Fast jedes globale Ereignis braucht seinen Soundtrack, die moderne Medienwelt verlangt danach. Bei positiv besetzten Vorgängen wie Olympia oder einer Fußball-WM ist der „Offizielle Song“ zum Even zumeist ein kühl kalkuliertes Stück Kommerzkäse wie Shakiras „Waka Waka“ (die WM-Songs der deutschen Fußballer sind ein Elendkapitel für sich).

Ab auf das Trittbrett

Zusätzlich versuchen allerlei Trittbrett-Behelfssänger ein paar Krümel vom Kuchen abzubekommen, zumeist mit eiligst zusammengelötetem After-Ski-Bumsmaterial. Ein bisschen „Hi! Ha! Ho!“, ein Retortenrefrain, darunter ein mieser Bontempi-Beat - fertig ist der WM-Hit. Ohne Rückenwind durch die Heim-WM und ohne Kür zur „Offiziellen DFB-Fan-Hymne“ 2006 wäre Oliver Pochers plumpes Popunglück „Schwarz und weiß“ - ohnehin nur ein Cover von „Black And White“ der Band Frameless - niemals zum Schlichtmusik-Stadionheuler geworden:

Dass es im Umfeld großer Sportereignisse zu diversen kompositorisch-ästhetischen Brandbomben kommt, ist wenig überraschend. Die Ballermann-Nachwuchskraft Tobee („Du, ich trink Dich schön“) reimte zur WM 2014 eiskalt: „Ich sitz im Flieger, es geht nach Brasilien / Ich weiß es unser Team wird super spielen“, obwohl es natürlich „spilien“ heißen müsste. Aus dem Drumcomputer des Todes stammte damals auch „Weltmeister“, eine Art Lied der beiden gelernten RTL-Autoverkäufer Jörg und Dragan, die mit den „Remmi Demmi Boys“ unsterbliche Verse ersannen: „Die Holländer, die essen Käse / Und in England trinkt man Tee / Italiener lieben Bolognese / Und der Spanier ruft: Olé!“. Olé. Danke, nee.

Unvergessen auch Dschungelkönigin Melanie Müller. Im Video zu ihrem hirnerweichenden Discounter-Hit „Auf geht’s, Deutschland schießt ein Tor!“ hüpft Frau Müller im knappen Trikot auf dem Rasen herum wie ein Linienrichter bei einem Foul mit offenem Bruch, umtänzelt von einem mopsigen Brasilianerdarsteller mit Ölhaar und drei attraktiv gemeinten Nichtmusikerinnen, deren Job im Kern darin bestand, ihre Gitarren nicht fallen zu lassen, an denen gefühlt noch das Preisschild baumelte. Gucken wir mal kurz rein (aber nur kurz):

Decken wir den Mantel des Schweigens über das Elend des WM- und EM-Popmusik. Deutlich diffiziler ist das Thema „Krisensoundtrack“ dann, wenn es nichts zu feiern gibt: bei großen Katastrophen. Nicht selten kristallisiert sich ein Song ganz von selbst als Rührstück der Stunde heraus wie im Falle von Enya. Aber wie verhält sich die Sache nun im Falle der Coronakrise?

Menschen, Leben, Tanzen, Welt

Der ganz große Popsong zur Pandemie steht noch aus. Doch die ersten Zwischenergebnisse zeichnen sich ab. Zu den Künstlern, deren universale Weisheiten so ziemlich auf jede Krise von der Invasion in der Schweinebucht 1961 bis zur Trainerkarriere von Lothar Matthäus passt, gehört der Liebeskummerexperte Max Giesinger. Sein artiges Powerballädchen „Nie stärker als jetzt“ eignet sich als Krisenschmachtfetzen ebenso wie notfalls als elektrischer Klappgrußkarten-Clip oder Vodafone-Werbespotheuler.

Eher in die Kategorie „Putzig, aber nicht ganz sauber“ gehört der Titel „Corona (Alles so wie immer)“ von Sven van Thom, der gleich mit einem lyrischen Höhepunkt loslegt: „Für die Volksgesundheit überwind‘ ich meine Wasserscheu, Corona“. Im Video knuspert der Künstler Reiswaffeln und baut Pyramiden aus Klopapierrollen. Unterm Strich dokumentiert das Werk eingängig, was wochenlange Isolation im Kreativzentrum des Gehirns anrichten kann:

Auch die Betroffenheitsexperten von Silbermond haben ein Lied geschrieben, das sich gleichermaßen als Erbauungstonkunst wie als Durchhalteappell eignet. Der Titel: „Machen wir das Beste draus“. „Was soll man machen?“, heißt es darin trocken. „Der Frühling muss halt ohne uns blüh’n.“ Und mehr noch: „Eine Danke an alle, die gerade schuften gegen den Tod“, dazu gibt es Bilder von Badenden, jubelnden Konzertbesuchern, BMX-Rad-Fahrern und Krankenpflegern.

„Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst“

Nach allerhand „Oh-ho-ho-ho“ steigert sich der Titel zum typischen Silbermond-Crescendo. Alle Mann einen Ton hoch! Das darf sonst nur Ralph Siegel. Das alles ist gewiss gut gemeint. Aber wie lautet die alte Weisheit von Gottfried Benn sinngemäß? „Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst.“

Und wer glaubt, man könne eine Textzeile wie „Es geht um unser Gesundheitssystem“ nicht rappen, der hat den Titel „Stay The F*ck Home (Zusammen gegen Corona)“ der Darmstädter Post-Hardcore-Band 8KIDS noch nicht gehört. „Es nützt nichts, wenn du jetzt zum Supermarkt rennst / und denen, die zu schwach sind, die Vorräte nimmst“ shoutet es da recht vehement. Gewiss erreicht der Song Zielgruppen, die sonst eher nicht live gestreamte Pressekonferenzen von und mit Prof. Dr. Christian Drosten gucken. Bundespressekonferenz? What the fuck? Insofern: Good job. Aber „diese Menscheit ist das Krankheitsbild“? Really? Bisschen dick.

Doch es gibt auch durchaus unpeinliche Beispiele für Corona-Pop. Eines davon kommt von den Ärzten, die die heimische Ereignislosigkeit in ein schlichtes, aber eingängiges Lied mit dem absolut zutreffenden Titel „Ein Lied für Jetzt“ gepackt haben.

Selbst im Zustand erbarmungswürdiger, grauenhafter, fürchterlichster Langeweile sind Bela B, Farin Urlaub und Rod González noch unterhaltsamer als die nächsten drei Dutzend Künstler auf der nach unten offenen Deutschrock-Kreativskala. Alte Männer mit Wählscheibentelefon! Das ist musikalisch nicht viel mehr als unpluggedes Drei-Akkorde-Geschrabbel, aber ein hochsympathischer Schnellschuss.

Aus der Reihe „Den Umständen geschuldetes Quarantäneexperiment“ stammt auch der Titel „Nudeln und Klopapier“ von Danger Dan, Rapper und Mitglied der Antilopen Gang, die sich auch weit über ihre Fanbasis hinaus unsterblich machte, als sie 2017 verkündete, der Echoverleihung fernbleiben zu wollen, da am gleichen Abend ihre Lieblingssendung „Alarm für Cobra 11“ bei RTL lief.

In „Nudeln und Klopapier“ kommen etwa 145-mal die Worte „Nudeln“ und „Klopapier“ vor. „Jedes Blatt Klopapier auf dieser Welt / Cannelloni, Maccharoni, Spaghetti, Spirelli & Co. / Würde ich geben, würde ich geben für ein Ende der Quarantäne / Und für ein‘ Frühlingsspaziergang mit dir durch den Berliner Zoo.“

Zum Bizarrsten, was das noch junge Genre des Corona-Pop hervorgebracht hat, zählt das Klangkunstwerk „Hypochonder“ des Münchener Rappers Edgar Wasser, neuerdings gern auch als ETKA VASSA unterwegs. Hustend führt er in dem Song in die Thematik ein:

„Liege seit gestern in mei’m Bett, habe mich wohl mit dem Virus angesteckt / Fieber und Müdigkeit, Halsschmerzen und Husten, suche nach den Krankheitsanzeichen bei Google / Jeder Treffer bestätigt, dass es mich getroffen hat, / Ja, ich leide offenbar am Coronavirus das momentan unaufhaltsam die Runde macht / in China Japan Südkorea und jetzt in mei’m Wohnzimmer.“

Ist das ein Antrag auf Krankengeld? Ein Hilferuf? Oder einfach der Beweis, dass man wirklich jeden Text mit Beat unterlegt als „Conscious Rap“ verkaufen kann?

Von Theodor Shitstorm kommt das schönste Corona-Lied, das die Neue Deutsche Welle nie erlebt hat: In „Tanz die soziale Distanz“ persifliert er die Seuchenschutzmaßnahmen als Vorboten einer Art deutschen Wohlverhaltensfaschismus‘ und liest dazu im Video Kluges von Suhrkamp(wie etwa „Du sollst nicht merken“ von Alice Miller).

„Bleib mir vom Leibe und wasch dir die Hände / Komm mir nicht zu nah, und wasch dir die Hände / Tanz die Distanz, tanz die soziale Distanz...“

Das kommt von weit links und folgt eher einem pädagogisch-didaktischen Kunstverständnis, das statt leichtgängig lieber ein bisschen anstrengend sein möchte. So voll quer gedacht halt. Gegen den Strich. Radikal anders. Echt anti und so.

Auch um Tanz geht’s im Haltungspopsong „Party Deines Lebens“ der unverwüstlichen Kölner Band Erdmöbel um den Sänger, Autoren und Songwriter Markus Berges und den Multi-Instrumentalisten und Produzenten Ekimas. „Du tanzt hüpfend deinen Namen...“ heißt es in dem wie immer hübsch lyrisch-verkopften Gaga-Doppelsinn-Text.

Im Refrain singt Berges dann: „Das hier ist die Party deines Lebens“. Das ist natürlich ein bisschen zynisch. Nein, es ist sogar sehr zynisch. Aber auch der „Spiegel“ hat jüngst geschrieben, die Coronakrise könne eine Art „zweites Sommermärchen“ werden.

Das lässt freilich außer acht, dass das Sommermärchen 2006 vergleichsweise wenig Todesopfer gefordert hat und von einer tiefen Wirtschaftskrise auch wenig zu spüren war. Aber Erdmöbel finden clever den richtigen Ton, um sich ohne Scham an der Partymelodie erfreuen zu dürfen, obwohl es - das Video verrät’s - eindeutig um die Seuche geht.

Gewiss: Corona-Pop erblüht nicht nur in Deutschland. Jimmy Fallon, der US-Talkmaster, hat gemeinsam mit Mitarbeitern aus medizinischen oder sozialen Berufen einen hübschen Clip zum Klassiker „Safety Dance“ von Men Without Hats veröffentlicht.

Der eine Song aber, das eine Coronalied, das die halbe Welt hinter sich versammelt und punktgenau den Geist der Zeit erhascht, steht noch aus. Es ist aber auch möglich, dass die Zeit der ganz großen Emo-Heuler vorbei ist, weil die Popwelt dermaßen fragmentiert und in unzählige Subgenres aufgespalten ist.

Seit 1997, seit Elton Johns Abschiedshymne „Goodbye Englands Rose“ für Lady Diana („Candle In The Wind“), geht es mit dem Genre bergab. Lange her, dass „Do They Know It’s Christmas“ globale Charity-Smashhits waren. Selbst U2-Frontmann Bono, der nun wirklich ein Fachmann für Erbauungspop ist, bringt es mit seiner Corona-Ballade „Let Your Love Be Known“, die er in Dublin in eine Kamera mit überraschend miserabler Auflösung sang (hat Bono noch ein Klapphandy?), nur auf etwas mehr als 150.000 Zuschauer bei Youtube.

Die Reaktionen auf das Lied des großen alten Mannes der Betroffenheit fallen, nun ja, gemischt aus. Ein Zuschauer schrieb: „Jetzt wäre eine großartige Gelegenheit für Hollywood-Millionäre und Bono, keine Bullshit-Lieder der Hoffnung mehr zu singen, sondern stattdessen riesige Geldbeträge an Lebensmitteltafeln, Wohltätigkeitsorganisationen und überlastete Gesundheitssysteme zu spenden.“

Dass man auch als lebende Legenden mehr abliefern kann als ein schnell dahingehudeltes Liedlein zeigen die Rolling Stones. Ihr „Living In A Ghost Town“ erinnert entfernt an Totos „Abracadabra“ und erzählt in kristallklarem, aber düsterem Americana-Sound vom Leben als Geist in ausgestorbenen Städten. Das klingt wie nachts in einem Pueblo im texanisch-mexikanischen Grenzgebiet unter Zuhilfenahme von viel Tequila sorgfältig herbeigeschrubbt. Ein ganz starker Wurf - und das, obwohl die Coronakrise die Stones nur zum Teil betrifft. Denn Keith Richards ist ja, wie wir alle wissen, unsterblich.

Das Warten auf den Corona-Hit geht weiter. Bis dahin bleibt ein Titel von 1985 als Wohltätigkeits-Schmachtfetzen der Superlative ungeschlagen. 186 Millionen Klicks bei Youtube. Die bestverkaufte Single der gesamten Achtzigerjahre. Und Michael Jackson und Ray Charles waren noch am Leben. Man kann „We Are The World“ gar nicht oft genug hören.

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