
Corona-Kapitulation: Bund und Land starren tatenlos auf die außer Kontrolle geratene Seuche
Meinung
Zu Beginn des Winters rollt eine Corona-Welle nie gekannter Größe durchs Land. Charité-Virologe Drosten warnt vor weiteren 100.000 Toten. Doch Bund und NRW ducken sich weg. Ein Kommentar.
Wenn eine große Gefahr auf einen zurollt, kann man zwei Dinge tun. Erstens, man kann sich stur stellen, sich wegducken und so tun, als ob nichts wäre. Motto: „Wird schon gut gehen!“ Die zweite Möglichkeit wäre es, sich der Gefahr zu stellen und alle Hebel in Bewegung zu setzen, das Schlimmste zu verhindern.
In der Corona-Pandemie stehen in diesen Tagen die politisch Verantwortlichen erneut vor dieser Entscheidung: Setzen wir auf das „Wird schon“ oder nehmen wir das Heft in die Hand und ziehen – Entschuldigung für den martialischen Ausdruck – in den Kampf? Ich habe den Eindruck: Unsere Kapitäne und Lotsen, die unser Schiff namens Deutschland durch die Seuche steuern sollten, sind des Kampfes müde. Sie haben schlicht und einfach vor der frustrierenden neuen Corona-Welle kapituliert.
So verständlich das ist, so verhängnisvoll ist es für unser Land. Nach 22 Monaten Plackerei gegen den unsichtbaren Feind Corona, mit nie dagewesenen harten Entscheidungen, mit bis 2020 nicht für möglich gehaltenen Maßnahmen und Zumutungen an die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, mit immer neuen Rückschlägen hat das Gefühl der Ohnmacht und Machtlosigkeit die Oberhand gewonnen. Motto: „Hilft ja eh nichts“.
Das Thema Corona hängt zum Halse heraus
Menschlich ist das nachvollziehbar. Es dürfte in diesem Land niemanden mehr geben, dem das Thema Corona nicht zum Halse raushängt, der noch mit Gleichmut ungerührt auf immer neue Einschränkungen, auf das ewige Auf und Ab zwischen prächtigen Perspektiven und herben Rückschlägen reagiert. Es dürfte niemanden mehr geben, der nicht die Nase voll hätte von den ewigen Schlaumeiern und Besserwissern, von den Ignoranten und Verschwörungstheoretikern. Es reicht einfach. Genug ist genug.
Menschen, die nur ihr privates Leben zu führen haben, dürfen so denken. Sie dürfen in Lethargie versinken und resigniert auf das warten, was ihnen das Schicksal so bringen wird. Politikerinnen und Politiker aber dürfen das nicht. Wir haben sie gewählt, damit sie sich auch dann um unser Land kümmern, wenn es schwierig wird. Ich allerdings habe den Eindruck, dass sie genau das im Moment nicht tun.
Sicherlich ist es ein fatales zeitliches Aufeinanderprallen, dass wir exakt in diesen Wochen der erneuten Corona-Explosion keine funktionsfähige Bundesregierung haben. Die alte verwaltet nur noch und viele der dort noch geschäftsführend im Amt Tätigen werden sich jetzt eher mit ihrer persönlichen Zukunftsplanung als mit der Rettung unseres Landes beschäftigen.
Wie der Bau eines Hauses am Strand
Und die neue gibt es noch gar nicht. Da müssen sich erst einmal drei Parteien auf ein Konzept für alle Bereiche unseres Landes einigen. Da kann oder will man sich nicht nur auf das eine Problem Corona allein konzentrieren.
Für mich gleicht die aktuelle Lage einem Bauherren, der ein neues Haus am Strand baut. Er plant jetzt die Isolierung des Dachs, die Photovoltaik-Anlage, die Küche, den Zuschnitt der Kinderzimmer, die Garage, den Parkett-Boden, sucht die Teppiche und Vorhänge aus. Bei alledem ignoriert er schlicht und einfach, dass sich draußen auf dem Meer ein Tsunami aufgebaut hat, der auf sein neues Haus zurollt.
Die Beschlüsse der Ampel-Parteien zu Corona sind nichts als ein schnell hingeworfenes Pflaster für eine offene Wunde, aber keine echte Medizin. Die beschlossenen Maßnahmen wären sogar vollkommen überflüssig, wenn man einfach die Ende November auslaufende „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ noch einmal um drei Monate verlängern würde. Sie in der derzeitigen Lage, in der noch nie dagewesene Fallzahlen vorherrschen und die weiter ungebremst wachsen, zu beenden, ist geradezu hirnrissig und absurd.
Es wäre schön gewesen, wenn man sich ein Auslaufen hätte leisten können. Das hätte ein Signal dafür sein können, dass das Schlimmste vorbei ist und jetzt alles nur besser wird. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die Pandemie ist definitiv nicht vorbei. Der Chefvirologe der Charité, Christian Drosten, warnt, ohne Kontaktbeschränkungen könne es in Deutschland weitere 100.000 Corona-Tote geben. So zu tun, als wäre Corona Geschichte, ist nicht nur dumm, sondern zutiefst verantwortungslos.
Es gibt andere Lösungswege als einen erneuten Lockdown
Jetzt müsste gehandelt werden, damit nicht alles noch schlimmer wird in den nächsten Wochen. Einen erneuten Lockdown will sicher ebenso wenig irgendjemand wie erneute bundes- oder landesweite Schul- oder Kitaschließungen. Aber es gibt andere Wege, wie sie beispielsweise Österreich gerade vormacht. Für Gastronomie, Friseure, Theater, Kinos und viele andere Bereiche gilt dort jetzt die 2-G-Regel. Ungeimpfte haben kaum noch irgendwo Zutritt. Die Testpflicht wird ausgeweitet.
In Singapur müssen künftig freiwillig Ungeimpfte, sollten sie an Corona erkranken, die medizinische Behandlung aus eigener Tasche bezahlen. So etwas wäre, ebenso wie eine Ausweitung der 2-G-Regel und anderer Maßnahmen de facto eine Impfpflicht durch die Hintertür. Ist es da nicht am Ende fairer und ehrlicher, gleich Klartext zu sprechen und eine Impfpflicht einzuführen?
In Deutschland aber hampelt man weiter einfach herum. Ja, nicht einmal zu gemeinsamen Absprachen wollen sich Bund und Länder treffen. Es ist beschämend. Die aktuelle Bundesregierung fühlt sich nicht mehr wirklich zuständig, die neue noch nicht.
Im Angesichts des Debakels
Und Nordrhein-Westfalen? Da hat gerade ein neuer Ministerpräsident das Ruder übernommen. Der muss sich erst einfinden und hat in wenigen Monaten eine Wahl zu überstehen. Nachvollziehbar, dass ein Politiker wie Hendrik Wüst in so einer Situation keine Lust hat, sich als erstes mit höchst unpopulären Maßnahmen in Szene zu setzen.
Also bleibt uns in diesen Wochen, in denen ein neuer Corona-Rekord den nächsten jagt, nur eines: Wir stehen da, sehen das auf uns zurollende Debakel und klammern uns an die eine große Hoffnung: Wird schon!
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
