Deutschland hat den Herbstblues: Die Angst vor der Corona-Dauerpandemie

Coronavirus

Den Sommer hat Deutschland gut genutzt – für eine Pause vom Virus. Präventiv ist dagegen nicht viel passiert im Kampf gegen Corona. Über die Aussicht auf eine ungemütliche Jahreszeit.

Berlin

23.09.2020, 12:00 Uhr / Lesedauer: 5 min
Die Gesellschaft ist mürbe vom psychischen Stress der Dauerkrise

Die Gesellschaft ist mürbe vom psychischen Stress der Dauerkrise © picture alliance/dpa

Für die meisten Grundschüler beginnt der Tag im Klassenzimmer mit vertrauten Ritualen. Man ruft gemeinsam „Guten Morgen!“, man darf vom Wochenende bei Oma erzählen oder vom neuen Meerschweinchen. In der Adolf-von-Dalberg-Grundschule im hessischen Fulda begann der Schultag für manche Erstklässler mit Angst und Tränen, bis Schulleiter Klaus Niesel einschritt: Er wolle, schrieb er laut Hessischem Rundfunk an die Elternbeiräte der Klassen zwei bis vier, bitte keine Corona-Masken mehr auf dem Schulgelände sehen, auf denen „Motive mit Monsterzähnen, Blut und Skelettteilen“ abgebildet seien. Der Trend zum Gruselmundschutz unter älteren Schülern, tadelte der Rektor, habe „vor allem unsere Jüngsten ziemlich verängstigt“.

Als sei der Schulbeginn für Sechsjährige nicht schon verstörend genug – und Corona nicht ohne Totenschädel und triefendes Dracula-Blut schon gruselig. Und es sind ja nicht nur die Erstklässler, die in diesen Tagen mit Ängsten, komplexen Regeln und tief wirkenden Unsicherheiten zu kämpfen haben. Es sind wir alle. Die heimliche Hoffnung, dass sich das Thema Corona vor dem Herbst erledigt haben könnte, dass es quasi von lauen Sommerwinden verweht werde, hat sich zerschlagen. Es ist Herbst. Die Bäume verlieren die Blätter und die Menschen die Geduld.

Die hässliche Kurve bewegt sich nach oben

„Es gibt keine Sicherheit, nur verschiedene Grade der Unsicherheit“, hat der russische Dichter Anton Tschechow geschrieben. Es ist, als beschreibe er präzise den Zustand der Welt im Herbst 2020. Sah es im Juli, als die Sonne schien, nicht schon aus, als sei das Schlimmste geschafft? Sprachen wir von Corona nicht schon in der Vergangenheitsform? So, als läge die Krise hinter uns?

Und jetzt sind es in Frankreich plötzlich wieder bis zu 15.000 Neuinfektionen pro Tag. Und die hässliche Kurve bewegt sich wieder nach oben. Fast eine Million Menschen sind weltweit an oder mit Covid-19 gestorben, knapp 10.000 davon in Deutschland. Und jetzt wird es früh dunkel draußen. Und kalt. Wir werden uns viel drinnen aufhalten. Das wird Folgen haben.

Die Welt wolle keine schlechten Nachrichten hören, sagt Hans Kluge, europäischer Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), „und ich verstehe das“. Aber die Wahrheit sei nun mal: „Es wird härter werden.“ Im Oktober und November werde die Sterblichkeit steigen. Was den Experten Sorgen macht: Die neuen Corona-Fälle sind gleichmäßiger über das Land verteilt. Zuvor brach das Virus in Clustern aus, die Infektionswege waren meist nachvollziehbar. Das ist vorbei. Etwas hat sich verändert.

Präventiv ist zuletzt nicht mehr viel passiert

Politik und Medien warnen seit Wochen vor einem „Horror-Szenario im Herbst“ („Münchner Merkur“), vor dem „Horror-Herbst“ („Die Welt“), vor einer „zweiten Welle mit Wucht“ (Kanzleramtschef Helge Braun, CDU), vor dem „Corona-Herbststurm“ („Tagesspiegel“) und vor „Corona-Chaos-Tagen ohne Ende“ (Deutsche Welle). Das schürt den Argwohn derjenigen, die hinter der Besorgnis vorsätzliche Panikmache wittern. Diese „zweite Welle“ im Herbst, zürnen sie, werde doch bewusst herbeigeredet – aus politischem Kalkül oder fatalistischer Weltuntergangslust schnell erregbarer Digitalmedien.

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Tatsächlich aber sind die meisten der düsteren Prognosen nicht getrieben vom Willen, wider besseres Wissen Angst zu erzeugen, sondern von der Erkenntnis, dass das Land – allem Eigenlob der Politik zum Trotz – bei Weitem nicht perfekt gerüstet ist. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, heißt es warnend in Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“. „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“

Denn so ehrlich muss man sein: Den Sommer hat Deutschland sinnvoll genutzt – für eine Pause vom Virus. Präventiv passiert aber ist nicht viel. Für ein paar Wochen hat das Land, so gut es ging, mit Urlaub und Grillabenden Normalität simuliert. Aber so richtig wollte kaum jemand wahrhaben, dass es noch einmal hässlich werden könnte.

Wer rettet die Kultur? Wer die Gastronomen?

Es sind allein die niedrigen Zahlen, die größeres Chaos bisher verhindern. Das Präventionsparadoxon hat weiter Bestand: Die Kurven zeigen nicht, dass die Pandemie ein Hirngespinst ist, sondern dass die Anti-Corona-Maßnahmen wirken. Die Zahl der Todesfälle ist vor allem deshalb geringer, weil die Infizierten bislang jünger sind als im März und April. Das bedeutet umgekehrt: Die Älteren passen besser auf sich auf.

Doch der gemeinsame Wille, dem unsichtbaren Feind etwas entgegenzusetzen, wird zunehmend von den drängenden Fragen des Alltags überlagert: Wie sollen Schulen lüften, deren Fenster aus Sicherheitsgründen gar nicht zu öffnen sind? Sollen die Kinder im Januar mit Mütze, Schal und Handschuhen im eiskalten Physikraum sitzen? Warum dürfen 5000 Zuschauer in ein Fußballstadion, aber ein Kirchenchor darf nicht proben? Wer rettet die Kultur? Wer die Gastronomen? Was bedeutet es für das Infektionsgeschehen, wenn die Aerosoltröpfchen in der trockenen Heizungsluft viel länger durch die Räume schweben als bei höherer Luftfeuchtigkeit? Sollen wir in Büros, Fabriken und Werkstätten bei Minusgraden arbeiten?

Wer zahlt die Miete der Millionen in Kurzarbeit?

Und bedeutet die Aussetzung des Insolvenzrechts nicht bloß, dass das massenhafte Firmensterben auf das Frühjahr 2021 verschoben ist? Wer zahlt die Miete der Millionen in Kurzarbeit? Wer lindert die Not der einsam Sterbenden?

  • Beispiel Miete: Der Deutsche Mieterbund schätzt, dass bis zu 20 Prozent aller Mieter wegen Corona künftig in Zahlungsschwierigkeiten geraten könnten – denn schon ohne eine zweite Welle drohten im Herbst Kündigungen und Insolvenzen. Schon jetzt gehe es in jedem zehntem Beratungsgespräch beim Mieterbund um coronabedingte Zahlungsprobleme. Laut Deutschem Städtetag ist die Zahl der Wohngeldanträge bei den Kommunen seit März um 30 bis 50 Prozent gestiegen.
  • Beispiel psychische Erkrankungen: Die Pandemie hat Spuren in der Seele hinterlassen. Psychotherapeuten rechnen mit einer deutlichen Zunahme von Depressionen, Ängsten, Süchten und auch Selbsttötungsversuchen in der Corona-Krise. „Wie stark die Zunahme sein wird, hängt davon ab, wie der Herbst und der Winter verlaufen, auch wirtschaftlich“, sagte die Präsidentin der Landespsychotherapeutenkammer, Sabine Maur, der Deutschen Presse-Agentur. Arbeitslosigkeit und Geldsorgen gelten als größte soziale Risikofaktoren für Depressionen und Suizidalität. Hinzu kommt das emotionale Leid in den Altenheimen, wo die Einsamkeit zum grausamen Alltag gehört.
  • Beispiel Gastronomie: Beim Blick auf die Wintermonate überkommt Wirte, Hoteliers, Diskothekenbetreiber und Veranstalter nackte Panik. Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga will seinen Mitgliedern Einkaufsvorteile bei Decken einräumen – damit die Gäste so lange wie möglich im Freien sitzen können. Doch vielerorts sind Heizpilze aus Gründen des Klimaschutzes verboten. Was wiegt nun schwerer: der Klimaschutz oder das wirtschaftliche Überleben?

Das Wort Lockdown fällt nicht

Tatsächlich zeigt sich die Überforderung der Behörden besonders deutlich an den Schulen. Kinder werden „kohortenweise“ in Quarantäne geschickt, aber die Gesundheitsbehörden vergeben nur sehr späte Testtermine, wenn überhaupt. Lehrer müssen trotz negativen Corona-Tests in Quarantäne bleiben, manches Kollegium bricht zusammen. Mal gilt Maskenpflicht, mal nicht. Und nebenbei sollen die Schulen bei der Digitalisierung bitte aufholen, was in 20 Jahren versäumt wurde.

Im Bildungsbereich laufe vieles „auf gut Glück“, kritisierte Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Geduld schwindet. „Es gibt Vorgaben, die zum Teil – etwa wegen baulicher Gegebenheiten – nicht erfüllt werden können. Und wenn dann etwas schiefgeht, heißt es: Da hat wohl jemand ‚ne Party gefeiert.“

Ein Wort scheuen die Verantwortlichen wie der Teufel das Weihwasser: Lockdown. Lieber sprechen sie von „gezielten Maßnahmen“, von „regionalen Lösungen“ oder „intelligenten Instrumenten“. Man will um jeden Preis verhindern, dass das Land wieder in den Leerlauf geht – zumindest in einen, der den Namen Lockdown verdiente. Aber wer will entscheiden, was angemessen sein wird, wenn die Kurven wieder besorgniserregend schnell steigen? Und was, wenn es zum gefürchteten Phänomen der Perkolation kommt?

Mit dem aus der Physik entlehnten Fachbegriff beschreiben Epidemiologen, wie das Infektionsgeschehen sprunghaft außer Kon­trol­le geraten kann, wenn es lange in unabhängigen Clustern vor sich hin „brodelt“ – und sich die Infektionsketten dann plötzlich verknüpfen, weil Menschen mobiler werden und sich sorgloser benehmen.

Eine Gesellschaft im kollektiven Schwebezustand

Der Herbst ist da. Und die Gesellschaft befindet sich in einem kollektiven Schwebezustand, im Nirgendwo zwischen den Verlässlichkeiten, ohne Licht am Ende des Tunnels und mürbe vom psychischen Stress der Dauerkrise. Das fördert die Fthinoporophobie. Das altgriechische Wort bezeichnet die krankhafte Angst vor dem Herbst, der schon in normalen Jahren Millionen Menschen zu schaffen macht. Die Sonne sinkt früher, genau wie die Laune. Gewiss, wir wissen mehr über das Virus. Aber „mit dem Wissen wächst der Zweifel“, hat Johann Wolfgang von Goethe geschrieben.

Die Lust am Apokalyptischen, die sprichwörtliche „German Angst“, ist tief in der deutschen Seele eingegraben, keine Jahreszeit spiegelt sie besser als der neblig-trübe Herbst. Eine grüblerische Zukunftsskepsis gehört zur emotionalen Grundausstattung des Landes. Insofern wäre es untypisch für die melancholischen Deutschen, optimistisch gestimmt in diesen Herbst voller existenzieller Unsicherheiten zu gehen. Corona verschärft das Phänomen.

„Die nächsten Wochen werden entscheiden“

„Die nächsten Wochen werden entscheiden, ob wir in Deutschland den Erfolg der ersten Welle wiederholen“, sagt einer, der zu den bekanntesten Gesichtern der Krise geworden ist: SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Seine Forderung für den Corona-Herbst 2020: Maskenpflicht an allen öffentlichen Plätzen, an denen der Abstand nicht eingehalten wird, maximal 25 Menschen auf privaten Feiern und ein „Strategiewechsel der Gesundheitsämter mit Verkürzung der Quarantänezeit und Fokus auf Superspreader“.

Außerdem sollte es „Luftreinigungsanlagen“ für Schulen geben, die nicht gelüftet werden können, forderte er am Montag per Twitter. Vorher freilich müsse man allerdings „die Wirkung der Luftreinigungsanlagen testen“. Eine gute Idee. Bis zum Herbst 2021 könnte es so weit sein.

RND

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