Der größte Kampf der Klitschkos – und ihr letzter?
Krieg in der Ukraine
Im Boxring waren sie früher, nun sind sie im Krieg. Vitali und Wladimir Klitschko kämpfen für das Überleben der Ukraine. Porträt eines Brüderpaares, das den Widerstand prägt.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (r.) und sein Bruder Wladimir prägen den Widerstand der Ukraine. © picture alliance/dpa/AP
Kiews Bürgermeister besucht Baustellen in seiner Stadt. Das klingt nach Alltag in Friedenszeiten. Nur sind es jetzt Straßensperren, die Vitali Klitschko besichtigt.
Der frühere Boxchampion steht in Schutzweste und mit entschlossenem Gesicht vor der Kamera. „Freunde!“, beginnt er seine kurze Ansprache. Das sagt er jetzt oft, nicht mehr nur „Liebe Kiewer“. „Freunde“, das klingt nach Schicksalsgemeinschaft und nach Hoffnung. Hinter ihm wuchten zwei Männer stählerne Panzersperren auf die Straße. „Sie sind bereit und werden die Hauptstadt, das Herz der Ukraine, verteidigen“, verspricht Klitschko.
Im ARD-„Morgenmagazin“ berichtet er davon, welche Männer ihm da begegneten. „Ein Geiger, ein Chirurg, ein Theaterkünstler. Alle mit Maschinengewehren. Niemand von ihnen hätte sich je vorstellen können, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Aber jetzt stehen sie da.“ Hätte er selbst je damit gerechnet, sich in einem Krieg wiederzufinden? „Niemals“, antwortet Klitschko mit Nachdruck.
Vitali Klitschko droht Plünderern mit Erschießung
Nichts in seinem Boxer- und Politikerleben hatte darauf hingedeutet, dass Klitschko jetzt als Chef einer belagerten Dreimillionenstadt täglich in den Bunkern, Kellern, U-Bahn-Stationen und Kliniken unterwegs ist, in denen die Kiewer und Kiewerinnen ihr Leben und das ihrer Mitmenschen zu retten versuchen. Dass er Plünderern mit Erschießung drohen muss, eine nächtliche Sperrstunde durchsetzt. Dass er hilft, so gut es geht, den Einmarsch der russischen Truppen in die Hauptstadt zu verhindern.
Aber es sieht zugleich so aus, als ob alles in seinem bisherigen Leben, als ob seine Herkunft und seine mögliche Zukunft auf diesen Moment hindeuteten.
Die Klitschkos wuchsen als Offizierskinder der Sowjetarmee auf. Ihr Vater Wladimir Rodionowitsch Klitschko brachte es bis zum Obersten der Luftstreitkräfte, später zum Generalmajor der Ukraine und Militärattaché in Berlin und Brüssel. Er starb 2011 mit 64 Jahren, sehr wahrscheinlich an den Spätfolgen seines Tschernobyl-Einsatzes 1986, und wurde als Held begraben. Mutter Nadjeschda Uljanowa ist die Tochter einer Holocaustüberlebenden. Man sprach Russisch.
Vitali wurde in der kirgisischen Sowjetrepublik geboren, Wladimir in der kasachischen, erste Erfahrungen im Ring machte Vitali auf einem Stützpunkt in der Tschechoslowakei.
Ein Leben in Ländern, die es nicht mehr gibt. Eine Jugend mit einer Sprache, die er jetzt nur noch spricht, wenn er sich in Videobotschaften an die Menschen in Russland wendet, sie bittet, etwas gegen Putins Krieg zu unternehmen.
Hamburg wird die Heimat der Klitschko-Brüder
1996 begannen die Klitschko-Brüder ihre Boxkarriere in Deutschland. Hamburg wurde ihre Heimat, aber was ist mit der Ukraine? „Deutschland hat mich adoptiert“, sagt Vitali Klitschko viel später, als er schon Wahlkampf in Kiew macht, „aber mein Herz schlägt für die Ukraine.“

Ein Bild aus dem früheren Leben: Wladimir Klitschko 2013 im Boxring. © picture alliance / dpa
Für Millionen Deutsche wurden die Klitschkos in diesen Jahren die neuen Gesichter Osteuropas. Stark und gleichzeitig sanft und selbstironisch in ihren legendären Fernsehwerbespots. „Der Russe“ stand nicht mehr an der Elbe, er stand im Ring und kämpfte im deutschen Privatfernsehen um eine Millionengage. Er trug einen Doktortitel und führte ihn auch beim Boxen. „Dr. Eisenfaust“ hieß Vitali, Wladimir kämpfte als „Dr. Steelhammer“.
Dass diese slawischen Giganten Ukrainer waren, interessierte die Deutschen so wenig, wie sie sich um dieses neue Land irgendwo hinter Polen scherten. Wer sich ein bisschen kümmerte, konnte 2004 sehen, wie die Klitschko-Brüder in riesigen orangefarbenen Sweatshirts an einer Revolution teilnahmen, die dieses Land aus den Fängen Moskaus und der Oligarchen Richtung Westen bringen sollte.
Vitali Klitschko: Vom Boxer zum Parteichef
Wer die Geschichte weiterverfolgte, registrierte, dass sich 2010 eine Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (Udar) gründete, Parteichef wurde Vitali Klitschko. „Udar“ heißt Schlag oder Fausthieb. War das ein Fanclub oder Politik?
Es sollte ernst werden. Wie ernst, zeigte sich spätestens 2014. Es gibt ein Bild, das besser als alle anderen den Mut und die Sturheit von Vitali Klitschko zeigt. Es stammt nicht aus diesen Kriegstagen, auch nicht aus dem Juni 2003, als „Dr. Eisenfaust“ beim Kampf gegen Lennox Lewis in Las Vegas mit einem blutenden Cut über dem Auge unbedingt weitermachen wollte und außer sich war, als der Ringrichter den Kampf abbrach.
Die Szene mit der meisten Symbolik stammt eben aus dem Januar 2014, an der Schwelle von Klitschkos Wandlung vom Boxer zum ernst zu nehmenden Politiker. Kiew war seit Monaten in Aufruhr, die Forderungen der Revolutionäre auf dem Maidan-Platz in Kiew wurden Tag für Tag radikaler. Es waren Klitschkos Unterstützer, eigentlich. Wie er standen sie für einen westlichen Kurs der Ukraine und gegen den korrupten, russlandtreuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch.
Klitschko sollte das Gesicht dieser Demokratisierung, dieser Annäherung an die EU sein. Dafür hatten ihn Angela Merkel, die CDU und die Europäische Volkspartei seit Jahren unterstützt. Merkels Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen hatten Klitschko gecoacht, am Konferenztisch. Ihnen gefiel vor allem seine Besonnenheit.
Auf dem Maidan aber eskalierte die Lage an diesem 19. Januar 2014. Mit Steinen, Holzlatten und Molotowcocktails suchten Revolutionäre die Straßenschlacht mit Janukowitschs Sicherheitskräften. Klitschko drängte sich in die Menge, zwei Meter groß, nicht zu übersehen. Er versuchte zu beruhigen. Er hatte zwar am Anfang der Maidan-Revolution mit einigen der Radikalen paktiert, mit der rechtsradikalen Partei Swoboda zum Beispiel, aber nun musste er versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Aus nächster Nähe wurde er mit einem Feuerlöscher attackiert. Der Angreifer sprühte eine volle Schaumladung auf Klitschko. Und dann schoss ein Fotograf das symbolische Bild: Grauweißen Schaum auf Jacke, Haaren und Gesicht, hielt Klitschko mit groben Handschuhen einen der Unruhestifter fest. Nicht, um ihn zu attackieren, sondern, um ihm ins Gewissen zu reden.
An diesem Tag im Januar verlor Klitschko. Im Februar erschossen Janukowitschs Einheiten Dutzende Menschen auf dem Platz. Vier Monate später aber wurde Klitschko, mit Unterstützung des Maidan, zum Bürgermeister von Kiew gewählt. 2015 und 2020 wurde er von den Bürgern und Bürgerinnen der ukrainischen Hauptstadt im Amt bestätigt.
In Hamburg verfolgt Bernd Bönte jede Nachricht über Freunde und Geschäftspartner. Bönte war viele Jahre lang Manager der Klitschko-Brüder. Nun muss er hilflos mit ansehen, wie sie und ihr Land in Lebensgefahr sind. „Ich bin fassungslos und tieftraurig über diesen Krieg“, sagt Bönte. „Ich habe bald zwei Jahrzehnte mit den Klitschkos verbracht, ich war mit ihnen zigmal in Kiew, Lwiw, Donezk zu Besuch. Ich habe viele Freunde in der Ukraine gefunden und mache mir natürlich furchtbare Sorgen um sie.“
Klitschko-Brüder im Krieg: Jetzt geht es um Leben und Tod
In Kiew sagt Vitali Klitschko in die Kamera: „Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Es ist eine Ehre, für sein Land zu sterben.“ Beim Boxen braucht es starke Worte für die Show, um den Gegner einzuschüchtern. Jetzt geht es um Leben und Tod.
Bernd Bönte bangt um seinen Freund, aber er sagt auch: „Der Kampfeswille, den Vitali und Wladimir jetzt zeigen, hat mich nicht überrascht. Wer sie 2004 während der Orangen Revolution erlebt hat, wer sie 2014 beim Euromaidan erlebt hat, wo Vitali in vorderster Front sein Leben riskiert hat, der kann nicht überrascht sein.“ Die beiden hätten keine andere Wahl: „Die Ukraine ist seit vielen Jahren auf dem Weg in die Freiheit, auf dem Weg zu einer wirklichen Demokratie. Wenn sie diesen Krieg verliert, wird sie ein Satellitenstaat Russlands und der ganze Weg war umsonst.“

Ein Mitarbeiter des Zivilschutzes schläft vor Plakaten des Bürgermeisters von Kiew und ehemaligen Schwergewichtsweltmeisters Klitschko im Rathaus von Kiew. © picture alliance/dpa/AP
Sie sind nicht die einzigen ukrainischen Weltstars, die die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Schrecken von Putins Überfall lenken. Der aktuelle Schwergewichtsweltmeister Oleksander Usyk hat alle Kampfpläne auf Eis gelegt und ist nach Kiew gereist und der Territorialverteidigung beigetreten. Wassyl Lomatschenko, auch er Boxstar, ist in seine Heimat nahe Odessa gereist und zieht nun ebenfalls in den Krieg.
Die Klitschkos lassen ohnehin all ihre Kontakte spielen. Hilfsgüter im Wert von mehr als 1,5 Millionen Euro sind bereits auf dem Weg in die Ukraine, berichtet Tatjana Kiel von Wladimirs Hamburger Firma Klitschko Ventures. Der Name Klitschko öffnet Türen bei Firmen wie Rossmann, Asklepios und der Deutschen Bahn. In Kiew schickt Wladimir ein Video aus einem Lagerhaus, zeigt die gerade eingetroffenen Paletten und dankt den Freunden im Westen.
Auf einem anderen Bild posieren Vitali und Wladimir vor Empfangsgeräten für Elon Musks Starlink-Satelliten. Musks Bruder Kimbal feiert auf Twitter die „bad ass Klitschko brothers in Kyiv“, „bad ass“ ist natürlich als Lob gemeint und nur unzureichend mit „knallhart“ zu übersetzen.
Vitalis Frau, die Sängerin Natalia Klitschko, demonstriert in Hamburg und singt ihre Nationalhymne in der „NDR Talkshow“. Sie ruft die russischen Frauen dazu auf, ebenfalls gegen den Krieg aufzustehen.
„Nicht für uns, für die Ukraine, aber um ihre Söhne zu schützen.“ Vor Kurzem hatte sie bereits auf Instagram geschrieben: „Es ist Zeit für die Frauen, zusammenzustehen und so laut wir können zu rufen: Wir wollen keinen Krieg! Wir wollen nicht den Tod unserer Kinder, Ehemänner, Brüder und Väter!“

Natalia Klitschko spricht bei einer Kundgebung in Hamburg. © picture alliance/dpa
Im NDR sagte sie nun: „Das russische Volk hat keinen Mut. Sie sagen, wir können nicht auf die Straße gehen, wir werden verhaftet. Aber wenn 144 Millionen auf die Straße gehen, das ganze Land, wird nicht genug Platz in den Gefängnissen sein.“
Auffällig ist, dass die Klitschkos und Präsident Wolodymyr Selenskyj den Kampf um die Weltöffentlichkeit unverbunden nebeneinander führen. Sie sind politische Konkurrenten; vor dem Krieg rechnete man damit, dass Klitschko bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen Selenskyj antreten würde.
Nun führen der Ex-Schauspieler und der Ex-Boxer beide auf ihre Weise einen Kampf. Um globale Aufmerksamkeit. Und um die Zukunft der Ukraine.
Der Artikel "Der größte Kampf der Klitschkos – und ihr letzter?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.