Staatlicher Eingriff in die deutsche Sprache Als aus dem „Fräulein“ die „Frau“ wurde

Debatte ums Gendern: Als Genscher das Fräulein verbannte
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Außenminister. Pendeldiplomat. Vielflieger. Genschman. Wir kennen den 2016 verstorbenen FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher in vielen Funktionen. Aber als Frauenrechtler und Gender-Genscher? Auch das. Am 16. Januar 1972 schlug der damalige Chef des Bonner Bundesinnenministeriums zu. Unter „Betr.: Führung der Bezeichnung ‚Frau‘“ ordnete er per Runderlass an: „Im behördlichen Sprachgebrauch ist (...) für jede weibliche Erwachsene die Anrede ‚Frau‘ zu verwenden“.

Genscher hatte die Geduld verloren und in wenigen Sätzen und auf einer einzigen DIN A 4-Seite vor 53 Jahren die damals übliche Anrede „Fräulein“ in amtlichen Schreiben vom Tisch gefegt - es sei denn, die Angeschriebenen bestanden weiterhin darauf. Im Bundesarchiv ist gut dokumentiert, was 1971 ablief: Ein politischer Schlussstrich unter ein fast 200 Jahre dauerndes Ringen um einen Begriff, den im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Frauen - und übrigens auch Männer - für hochgradig herablassend hielten. Bis heute gilt Genschers Machtwort.

Tatsächlich birgt die Wortschöpfung, die dem mittelhochdeutschen „Vrouwelin“ abstammt, einiges an Problemen: die Unterscheidung, die mit dem Begriff zwischen verheiratet und unverheiratet gemacht wurde, zwischen jünger und älter als 35 - und das in Gesetzestexten.

Herrlein und Männlein

Als störend empfinden kann man auch das „...lein“ am Wortende, die Niedlichkeitsform. Es unterstellt dem Fräulein, keine richtige Frau zu sein. Übrigens hatte sich selbst Gretchen aus Goethes Tragödie schon 1808 irgendwie gegen die Avancen des Faust verwahrt. „Bin weder Fräulein, weder schön, darf ungeleitet nach Hause gehen.“

Die Mehrheit der bundesdeutschen weiblichen Bevölkerung begrüßte die Bonner Abkehr von der Verfügung Preußens von 1869, in der juristisch formal zwischen Frau und Fräulein unterschieden worden war. Vom Nazi-Gesetz aus dem Jahr 1941, als nicht verheirateten „Kriegsbräuten“ von gefallenen Partnern ausnahmsweise der Titel Frau zuerkannt wurde. Auch von der bundesgesetzlichen Sprachregelung von 1955, nach der erst bei einem formalen Einspruch der Angesprochenen ein Wechsel von Fräulein zu Frau möglich war. Zuvor waren Beschwerden bei der Bundesregierung aufgeschlagen mit spöttischem Unterton: „Wie lächerlich würde sich ein Junggeselle vorkommen, wenn man ihn mit ‚Herrlein‘ titulierte?“

Gegnerinnen der Änderung

Es meldeten sich aber auch Gegnerinnen des Umbaus. Gerade Frauenrechtsaktivistinnen der ersten Generation, die bewusst unverheiratet und somit unabhängig von einem Mann geblieben waren, bestanden auf ihrem „Fräulein“. Das habe ihre Unabhängigkeit betont, berichtete die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch im „Stern“.

Streit um das, was man sagt, sagen darf und sagen sollte ist keine Sache nur des dritten Jahrtausends. Schon früher war es auch eine der Politik. Und schon Genscher bekam zu spüren, dass Veränderungen in solchen Bereichen breiteste Debatten auslösen und politische Entscheidungen alleine nicht reichen.

Nicht nur, dass die Bundesländer beim Thema Frau/Fräulein weiterhin völlig unterschiedliche Regelungen anwendeten. Ein Flickenteppich. Der Minister realisierte zudem, dass der Sprachgebrauch im Alltag das eigentlich Entscheidende war. Wochen nach seinem Klartext setzte er deshalb auf die Erwartung, „dass mein Rundschreiben über den behördlichen Bereich hinaus eine Rückwirkung in den gesellschaftlichen Bereich haben wird“. In Sachen Fräulein hat sich seine Hoffnung erfüllt. Der Duden sieht den Begriff längst als „veraltet“ an. Unsere Kinder kennen ihn nicht mehr.

 Der 2016 verstorbene Hans-Dietrich Genscher (FDP) hatte 1972 als Innenminister die Anrede Fräulein im Amtsdeutsch abgeschafft.
Der 2016 verstorbene Hans-Dietrich Genscher (FDP) hatte 1972 als Innenminister die Anrede Fräulein im Amtsdeutsch abgeschafft. © picture alliance / dpa

Fünf Jahrzehnte später läuft eine neue Runde der Sprachveränderungen. Sie zieht sich kaum weniger zäh durch öffentliche Diskussionen als zu Genschers Zeiten. Aber sie ist viel umfangreicher. Das zeigt sich aktuell an heftigen Wortgefechten über die Nutzung von Begriffen oder durch die unterschiedlichen Einstellungen zu „Gender-Erlassen“, die für die Schriftsprache Sonderzeichen wie Doppelpunkt, Genderstern oder Unterstrich vorsehen.

Gender-Verbote und -Gebote

Noch lange ist nicht mit einem Friedensschluss zu rechnen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) hat bei Schul- und Bildungsministerien der Länder nachgefragt. Ergebnis: Von Einheit ist keine Rede. Drei Bundesländer, Schleswig-Holstein, Sachsen und Sachsen-Anhalt, haben ihren Behörden das Gendern verboten, in Kiel will die Regierung es sogar als Rechtschreibfehler anstreichen lassen. Saarland und Bremen wenden es in der Kommunikation mit Bürgern dagegen an. Die übrigen elf Bundesländer mixen munter, bleiben bei der Doppelnennung von weiblichen und männlichen Formen („Liebe Bürgerinnen und Bürger“) oder beschränken sich darauf, „Ortsansässige“ statt „Einwohnerinnen und Einwohner“ zu schreiben. Die in Bayern regierende CSU kündigt an, mit ihr werde es keine Pflicht zum Gendern geben. Sie empfiehlt den staatlichen Behörden, sich an die Vorgaben des Deutschen Rechtsschreibrates vom Juli 2023 zu halten.

Nur: Auch der Rechtschreibrat, eine vom Staat als zentrale Instanz zur Überwachung der Rechtschreib- und Kommaregeln eingesetzt, will sich vorläufig nicht festlegen. Josef Lange, sein Vorsitzender, hatte sich zwar „ein weiterführendes Ergebnis versprochen“ - die klare Botschaft, das Sonderzeichen überall toleriert werden. „Das war bei allem guten Willen nicht zu erreichen“, räumte Lange nach einer turbulenten Juli-Sitzung ein. Die Kritiker eines weitgehenden Beschlusses sahen in Sonderzeichen Gefahren für „Lesbarkeit und Verständlichkeit“ und für die „Einheit eines deutschen Sprachraumes“. Übersetzt: Unterschiedliche Gruppen, vielleicht nach Bildung sortiert, könnten unterschiedlich sprechen, die Übersetzbarkeit ins Niederländische und Französische sei gefährdet und Probleme mit der Grammatik nicht auszuschließen. Gemeinsam ist, dass man die Lage weiter beobachten will.

„Niemand“ statt „Keiner“

Der Riss geht nicht nur durch die Gesellschaft. Er teilt auch die Behörden. Einige von ihnen, quer durch die Republik, haben den Rechtschreibrat fast schon in provozierender Weise überholt.

Weit mehr als nur Gender-Korrekturen durch Sonderzeichen sollen die Veränderungen bei der Polizei in Berlin umfassen. Dort haben die fast 30 000 Beschäftigten zum Jahresende 2022 Post von ihrem Landeskriminalamt bekommen. Auf 29 Seiten stehen „Empfehlungen für eine diskriminierungsfreien Sprachgebrauch“. Schon auf Seite 1 heißt es: „Wer diskriminierungsfrei sprechen und schreiben möchte, sollte (...) eine Sprache wählen, die nicht von der Mehrheitsbevölkerung vorgegeben wird, sondern von den Betroffenen selbst“.

Niemand statt Keiner

Statt „ausländische Mitbürger“ soll besser „ausländische Bürger“ gesagt und geschrieben, der Begriff „biodeutsch“ möglichst vermieden und durch „Deutsche/Deutscher ohne Migrationsgeschichte“ ersetzt werden. Auch „Dunkelhäutige“, „Flüchtlinge“ oder „illegale Migranten“ werden künftig anders genannt. Für Fahndungen wird empfohlen, nicht von „südländischem Typ“ zu sprechen, sondern von „dunklerer Hauttyp, Phänotypus: westasiatisch“. Überraschend: „Holocaust“, der Begriff für den Massenmord an den sechs Millionen jüdischen Opfern durch die Nazis, steht auf der Streichliste. Stattdessen wird empfohlen: das hebräische Wort Shoa.

Henriette Reker (parteilos), Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, hat sich bemüht, eine diskriminierungsfreie Amtssprache einzuführen. Nicht jede und jeder ist damit zufrieden.
Henriette Reker (parteilos), Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, hat sich bemüht, eine diskriminierungsfreie Amtssprache einzuführen. Nicht jede und jeder ist damit zufrieden. © dpa

Auch die Stadt Köln gibt ihren 22.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern „Praxistipps für eine geschlechterumfassende Sprache und wertschätzende Kommunikation“. Henriette Reker, die Oberbürgermeisterin, legt sich in der Einführung fest: „Wir sind die Stadt der Vielfalt“. Der mehr als 30 Seiten umfassende kommunale Leitfaden sieht eindeutige Sprachveränderungen vor, an die sich die Ämter halten sollen. Worte mit männlicher Endung, die heute noch für alle gelten, das so genannte „generische Maskulinum“, verschwinden.

So gilt künftig: „Alle“ statt „Jeder“. „Niemand“ statt „Keiner“. „Antragstellende“ statt „Antragsteller“ und Lehrer werden zu Lehrpersonen. Der Begriff „Anwaltskosten“ wird durch „Kosten für Rechtsvertretung“ ersetzt. Die direkte persönliche Ansprache („Sie müssen Ihren Arbeitsplatz sauber halten“) wird künftig genutzt, nicht mehr der Satz „Die Mitarbeiter müssen ihren Arbeitsplatz sauber halten“. Schließlich regelt die Kölner Verwaltungsspitze die Aussprache beim Gender-Stern („Der Stern wird durch den so genannten ‚glottalen Stopp‘ ausgedrückt. Dabei handelt es sich um eine kurze Sprechpause, die für den Stern beim Sprechen angewandt wird“) und die Ansprache der Bürgerinnen und Bürger in behördlichen Schreiben. Hier werden die Grußformeln ausgetauscht. Der „Sehr geehrte Herr“ ist zu entsorgen. Stattdessen: „Guten Tag, Kim Schmitz“. Oder nur: „Guten Tag“.

Zahlen für „Schießbudenfigur“

Die Beispiele aus Berlin und Köln zeigen: Das Gesamt-Paket der geforderten Sprachänderungen ist viel umfangreicher als Genschers schon mühsamer erkämpfter Verwaltungsakt von 1971, im staatlichen Verwaltungssprech „Fräulein“ zu kippen und nur noch „Frau“ zu verwenden. Überfordert diese Welle der Veränderungen die Menschen in Deutschland? Werden sie am Ende tatsächlich fürchten, dass man das eine sagen darf, das andere nicht mehr?

Noch gibt sich die Politik gelassen. Im Juni diskutierte - zum fünften Mal - der Deutsche Bundestag dazu. Spätabends, in einem zu dreiviertel leeren Plenarsaal, nahm er sich 39 Minuten Zeit. Wieder war es die AfD, die die aus ihrer Sicht „links-woke Zwangsdressur“ zum Thema gemacht hatte. Wie die anderen Abgeordneten auf das von Rechtsaußen beantragte „Verbot des Genderns“ in Verwaltungen und beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk reagierten, hörte sich aus deren Redebeiträgen heraus: Es schien sie zu nerven. Grundsätzlich, signalisierten Ampel wie auch oppositionelle Union, hätten die Deutschen bei allen nötigen Korrekturen ja die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie sie sprechen wollten. Es folgte die Überweisung in die Ausschüsse. Doch Gesellschaft und Republik sind heute sensibler als in den Nachkriegsjahren. Verfehlte Wortwahl löst in sozialen Medien Shitstorms aus. Auch Parlamente in Bund und Ländern zeigen eine viel höhere Empfindlichkeit.

Nannten selbst angesehene Volksvertreter damals in ihren Reden politische Gegner auch mal „Arschloch“, „Ehrabschneider“, „alte Giftspritze“ oder „scheinheilige Schlange“ und blieb dies ungeahndet, kommen ihren Nachfolgern heute Worte wie „Hetzer“, „Terrorist“ oder „lächerliche Schießbudenfigur“ teuer zu stehen. Seit wenigen Jahren erteilt das Bundestags-Präsidium in solchen Fällen Redeverbote. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen drohen 1000 Euro Diätenabzug bei der nächsten Kontoüberweisung. Wiederholungstäter zahlen doppelt.

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