Das RKI im Fadenkreuz: Ist die Kritik berechtigt?
Coronavirus
Das renommierte Robert-Koch-Institut ist bei der Bewertung der Corona-Krise in Deutschland von zentraler Bedeutung. Die Doppelrolle als Frühwarnsystem und Politikberater macht das RKI angreifbar.

Das Robert-Koch-Institut informiert regelmäßig über den neuesten Stand zum Coronavirus in Deutschland. © picture alliance/dpa
Am 29. April geriet Jens Spahn dann doch ins Stolpern. Der Bundesgesundheitsminister, der in der Corona-Krise eigentlich einen guten Lauf hatte, nannte einen Tag vor einer Schaltkonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Länderchefs eine falsche Infiziertenzahl. Sie lag um 6000 zu hoch.
Spahn hatte, als er Infizierte und Genesene gegenrechnete, schlicht die Zahl der Toten vergessen. Ein Rechenfehler mit Folgen.
Denn Spahn rundete seine ohnehin zu hohe Zahl in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ noch flugs um 3000 auf insgesamt 40.000 Infizierte auf. Und diese Größe verwendete dann Merkel bei ihrer Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel am 30. April. „Heute“, antwortete sie einem Journalisten, „liegen wir aktuell bei 40.000 Infizierten und einer Gesamtzahl von 150.000 bis 160.000.“
Zahlen handstreichartig erhöht
Tatsächlich waren auf Basis der Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu diesem Zeitpunkt aber nur noch gut 29.000 Menschen infektiös. Merkel und Spahn hatten deren Anzahl also quasi handstreichartig um fast ein Drittel erhöht. Bei der damaligen Debatte über mögliche Lockerungen der Corona-Auflagen keine unerhebliche Größe.
Das setzte eine unheilvolle Spirale in Gang. Denn es gab nicht nur die üblichen, pflichtschuldigen Attacken der Opposition auf die Regierung. Nein, infolge der Spahnschen Rechenfehlleistung erhielten auch Wutbürger, Verschwörungstheoretiker und Rechtsaußen weiter Oberwasser. Bis heute.
Deren Überzeugung ist: Coronaviren sind Fake News. Die Regierung will uns nur einsperren und uns aller Freiheitsrechte berauben.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) unterstellte nicht allein Merkel und Spahn politisches Kalkül. Die vom RKI verbreiteten Daten „vermitteln eher den Eindruck, politisch motivierte Zahlen zu sein als wissenschaftlich fundiert.“ Als Beleg seiner These führte er an, dass der vom RKI errechnete Reproduktionswert R ausgerechnet zur Konferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten, bei der vor weiteren Lockerungen gewarnt werden sollte, anstieg.
Robert Koch gründete das RKI
Wie geriet das Robert-Koch-Institut derart unter Druck? Das RKI, das seinen Hauptsitz im früheren Berliner Arbeiterbezirk Wedding hat, ist eines der altehrwürdigsten Institute weltweit. Es wurde nach seiner Gründung 1891 bis 1904 vom Namensgeber und späteren Nobelpreisträger Robert Koch geleitet. Er entdeckte als erster den Zusammenhang zwischen einem Infektionserreger und einer Krankheit, er fand den Erreger der Tuberkulose.
Heute gehört das RKI zum Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums. Die Kernaufgaben sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten. Das RKI berät die Bundesregierung und wirkt bei der Entwicklung von Normen und Standards mit. Somit ist es ein Hybrid aus Forschung, Datenanalyse und Behörde.
Die meisten Bürger hören vom Koch-Institut, wenn es um Grippewellen in Herbst und Winter oder um Masern geht.
1200 Mitarbeiter und 90 Berufe
Dabei leistet die Einrichtung mit rund 1200 Mitarbeitern, die hier in 90 Berufen arbeiten, viel mehr. Sie beschäftigen sich mit Gefahrenlagen durch hochpathogene und bioterroristisch relevante Krankheitserreger, koordinieren internationale Gesundheitsprojekte oder den Aufbau von Laborkapazitäten im Ausland, führen die Daten der Landeskrebsregister zusammen oder entwickeln Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen.
Das RKI soll also das deutsche Frühwarnsystem für Gesundheitsgefährdungen aller Art sein. Die Corona-Pandemie ist so eine Art Bewährungsprobe für das Institut in einer Krise. Erschwerend ist dabei der Zangengriff, in dem es sich befindet. Einerseits pocht das RKI auf sein Renommee, andererseits wird genau dieses von der Politik genutzt, um in der Corona-Krise einschränkende Maßnahmen zu begründen. So gerät man zwangsläufig ins Fadenkreuz, wenn es eng wird.
Und es war am Anfang der Pandemie ganz eng. Denn: Rückblickend hat das RKI als Frühwarnsystem keinen guten Job gemacht.
Virologen warnten schon im Januar
Als im Januar Virologen wie Alexander Kekulé schon vor Einreisenden aus China warnten und sich über die Behäbigkeit deutscher Behörden – ein klarer Seitenhieb auf das RKI – beklagten, war dieses weitestgehend auf Tauchstation. Noch Mitte Februar bezeichnete RKI-Präsident Lothar Wieler die ausgebrochene Pandemie als „mit einer schweren Grippeepidemie“ vergleichbar.
Erst einen Monat später, am 17. März, stufte das RKI das Corona-Risiko als „Hoch“ ein. Da begannen die ersten Bundesländer bereits den regionalen Lockdown. Wieler war es auch, der damals einen Impfstoff „in ein paar Monaten“ in Aussicht stellte – was von Experten völlig ausgeschlossen wurde. Man kann die Dinge jedoch auch anders sehen. Nämlich so, dass das RKI als Pandemie-Wächter einen guten Job macht.
Es hat dafür gesorgt, dass die Deutschen nicht panisch ins Herunterfahren des gewohnten Alltags rutschten, sondern gefasst. Außerdem steht die Bundesrepublik mit ihrer Corona-Politik aus Hilfen und Einschränkungen im Vergleich zu anderen stark betroffenen Ländern gut da – und dass ohne solch drastische Maßnahmen wie in Italien, Frankreich oder Spanien.
Berechtigte Kritik
Gleichwohl ist Kritik berechtigt. Bei früherer Warnung hätten beispielsweise Engpässe bei Schutzausrüstungen und Preiswucher vermieden werden können. Bei klarem Bekenntnis, dass das Tragen von Schutzmasken angebracht ist, hätten Ansteckungen vermieden werden können. Wäre rechtzeitiger und offen über das Virus informiert worden, hätte weniger lang Sorglosigkeit unter den Deutschen geherrscht.
Hätte, hätte, Fahrradkette? Sicher nicht. Denn jetzt geht es darum, aus Fehlern zu lernen. RKI-Chef Wieler räumte immerhin Ende März vor versammelter Presse ein, dass man heute „vielleicht das eine oder andere anders sagen“ würde. Wichtiger noch das Eingeständnis des Profis, die Krise habe „ein Ausmaß, das ich mir selber nie hätte vorstellen können“.
Aus Fehlern gelernt?
Aber hat sein Institut aus seinen Fehlern gelernt? Ob das Institut mit seiner Entscheidung von Anfang Mai richtig liegt, die regelmäßigen Öffentlichkeits-Briefings einzustellen, ist unter diesem Gesichtspunkt schwer erklärbar. Denn wie sagte RKI-Vizepräsident Lothar Schaar in der vergangenen Woche richtig? „Das Virus ist immer noch in Deutschland. Es ist nicht weg.“
SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach, von Haus aus Epidemiologe und Arzt, hält die Einstellung der aktiven, regelmäßigen Information durch das Institut für grundfalsch. „Weil gerade jetzt die Schlacht um überzeugende Argumente für weiter bestehende Schutzregeln in der Corona-Pandemie geführt wird, wäre ein tägliches Briefing des RKI notwendiger denn je.“
Verwirrende Bewertungskriterien
Verwirrend auch sind wechselnde Bewertungskriterien der Infektionslage, an denen sich die Öffentlichkeit orientiert. Anfangs operierte das RKI mit den ihm von den Gesundheitsämtern der Länder gemeldeten Fallzahlen, setzte sie jedoch nicht mit den insgesamt durchgeführten Tests ins Verhältnis. Ein realistisches Bild sei so nicht zu erhalten, monierten Epidemiologen, dafür verbreite man aber Schrecken.
Fraglich sind auch bis heute die Zahlen der Todesopfer. Das RKI unterscheidet nicht zwischen Menschen, die an oder mit Corona gestorben sind. Von Obduktionen wird abgeraten – was Rechtsmediziner aufregt.
Dann, als erste Lockerungsforderungen laut wurden, führte Kanzlerin Merkel unter Verweis auf die Experten des RKI die Reproduktionzahl R ins öffentliche Bewusstsein ein – also die Rate, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Merkel ordnete dieser Zahl in der Öffentlichkeit alle Lockerungsmöglichkeiten unter. Grob gesagt: Liegt R unter 1,0, ist es gut – alles darüber würde auf Dauer das deutsche Gesundheitssystem gefährden.
„Die Angaben sind komplex“
Inzwischen gilt – um die Verwirrung der Kriterien komplett zu machen – nur noch ein Wert, der nicht gerissen werden soll: Bezogen auf Landkreise oder Städte darf es binnen sieben Tagen nur zu maximal 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner kommen.
Die Angaben sind komplex, räumt RKI-Vize Schaade ein, und schwierig zu kommunizieren. Das Schlimme daran ist: Viele Menschen können, nachdem sie R verstanden hatten, nichts mehr mit diesen Angaben anfangen.
Das nagt am Vertrauen, kritisiert beispielsweise der Internist Matthias Schrappe in gemeinsam mit anderen Autoren im April und Mai veröffentlichten Thesenpapieren. „Die Bevölkerung“, so der früher im Bundessachverständigenrat Gesundheit tätige Professor, „trägt doch eine Strategie leichter mit, je besser sie sie nachvollziehen kann.“
Der Artikel "Das RKI im Fadenkreuz: Ist die Kritik berechtigt?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.