Notfallsanitäter Marcel Kuhn (36) über seinen schwersten Einsatz „Das ist meine Schwester“

Notfallsanitäter Marcel Kuhn (36) „Das ist meine Schwester“
Lesezeit

Menschen in Not zu helfen, das gehörte für Marcel Kuhn irgendwie immer schon dazu. Der 36-Jährige ist angestellter Notfallsanitäter und gehört zum hauptamtlichen Mitarbeiterstab der lokalen Rettungskräfte. Nebenbei ist er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in seiner Heimatstadt Bergkamen – wie alle seine Kinder. Anderen helfen, das ist ihm ein Anliegen. Ihm und anderen Mitgliedern seiner Familie auch. Marcel Kuhn ist in einer Patchwork-Familie aufgewachsen. „Mein Vater war auch Feuerwehrmann, mein Bruder war in der Grubenwehr.“

Gerade ist der 36-Jährige von einem Rettungseinsatz zurückgekommen. „Sorry für die Verspätung“, ruft Kuhn. Genaue Details zu seinem letzten Einsatz darf er nicht nennen, nur dass eine ältere Dame die Beamten wegen gesundheitlicher Problemen gerufen hat. Für Kuhn Alltag. „Ältere Menschen sind meistens sehr einsam und haben Angst, ihren Angehörigen zur Last zu fallen“, sagt Kuhn. Während er spricht, wirkt er ausgeglichen. Wie jemand, dem seine Arbeit Spaß macht. Der Rettungswagen steht noch auf dem Hof, wo Kuhn mit seinem Kollegen Sven Glomsda abgeklatscht hat.

„Man muss lernen, nichts an sich heranzulassen“

Mit einem Kaffee in der Hand beginnt Kuhn von seinen Einsätzen zu berichten. Knapp und präzise beschreibt er die Situationen, ganz so als müsste jemand Protokoll schreiben.

Er hat Gewalt im Dienst erfahren – wurde geschlagen, angepöbelt und bespuckt. „Einer hat mal versucht unseren Rettungswagen zu klauen, der natürlich abgeschlossen war“, sagt Kuhn. Er reagiert auf die Anfeindungen mit Gelassenheit. „Man muss lernen, das nicht an sich heranzulassen“, sagt der 36-jährige Rettungssanitäter.

Marcel Kuhn wirkt wie jemand, den im Dienst nichts mehr beeindrucken kann. Der alles schon erlebt hat. Die Frage nach dem schwersten Einsatz: Das erste Mal während des Gesprächs weicht Kuhn mit den Blicken aus. Dann antwortet er ohne zu zögern: „Vor zwei Jahren musste ich im Dienst meine Schwester reanimieren.“

Sein schwerster Einsatz

Im Raum kehrt Stille ein. Kuhns Blick ist in die Ferne gerichtet. Neben ihm beugt sich Frank Siedhoff vor. Der Brandamtsrat und stellvertretende Bereichsleiter sitzt mit im Raum. Zwischen den beiden gibt es ein kurzes Gespräch. Das Thema ist für alle hier natürlich ein sehr persönliches. Doch Marcel Kuhn will darüber sprechen.

„Die Schicht hat begonnen wie jede andere, es war nicht besonders viel passiert“, beginnt Kuhn zu erzählen. „Ich war gerade dabei mein Mittagessen von Zuhause aufzuwärmen, als plötzlich der digitale Meldeempfänger ging. Die Nachricht lautete: ‚Bewusstlose Person/ laufende Reanimation‘“, erinnert sich der 36-Jährige. Als Kuhn die Meldeadresse sieht, bekommt er ein flaues Gefühl im Magen. Die Adresse seiner Schwester, ein Mehrfamilienhaus in Bergkamen.

„Während der Anfahrt habe ich mich mit dem Gedanken beruhigt, dass es auch die Oma unten rechts sein könnte“, sagt der Rettungssanitäter. Um seine Nerven in den Griff zu bekommen, spricht er mit dem jungen Kollegen den Einsatz durch. Damit dem Patienten so schnell wie möglich geholfen werden kann, sprechen die Einsatzkräfte im Vorfeld genau ab, wer was mitnimmt. Als Fahrzeugführer ist Kuhn für die direkte Versorgung am Patienten zuständig, sein Kollege wird ihm zuarbeiten.

Marcel Kuhn kontrolliert sein Besteck im Rettungswagen.
Damit dem Patienten so schnell wie möglich geholfen werden kann, sprechen die Einsatzkräfte im Vorfeld genau ab, wer was mitnimmt. Als Fahrzeugführer ist Marcel Kuhn für die direkte Versorgung am Patienten zuständig, © Mathias Gaumann

„Die Mama wird nicht mehr wach“

Als der Rettungswagen vor dem Haus hält, bestätigen sich Kuhns schlimmste Befürchtungen. Die Sanitäter werden von seiner Nichte in Empfang genommen „Sie hat immer wieder gerufen, der Mama geht es ganz schlecht, die Mama wird nicht mehr wach“, sagt Kuhn leise. Die Männer, die Kuhn gerade zuhören, kämpfen mit ihren Gefühlen. Niemanden im Raum lässt die Situation kalt.

„Innerlich habe ich in dem Moment auf den ‚Funktions-Modus‘ umgeschaltet“, erzählt Kuhn weiter. Er muss einfach nur funktionieren. Sein Kollege und er folgen der Nichte. Es geht eine weinrote Holztreppe hoch, die Kuhn später immer wieder erwähnen wird. „Keine Ahnung warum, aber das Bild der Treppe verfolgt mich bis heute“, sagt der 36-Jährige.

Die Retter betreten die Wohnung der Schwester. „Im Schlafzimmer hat mein Schwager vergeblich versucht, eine Thoraxkompression durchzuführen“, erklärt Kuhn. Die sachliche Schilderung und die Fachwörter seines Berufsalltags helfen, beim Erzählen die Fassung zu behalten.

„Das ist meine Schwester“

„Alles war wie im Film“, berichtet der Rettungssanitäter weiter. Er blendet alles um sich herum aus. Er muss. Er beginnt seine Schwester zu reanimieren, sein Kollege hält den Beatmungsbeutel. „Wir von der Profi-Rettung machen keine Mund-zu-Mund-Beatmung mehr. Das ist out“, sagt Marcel Kuhn. Auch jetzt weiß sein Sanitätskollege nicht, dass Kuhn gerade um das Leben seiner Schwester kämpft. Einfach funktionieren. Alles andere lenkt jetzt ab.

Irgendwann kommt der Rettungsarzt aus Lünen. „Dem war schnell klar, dass wir ihr nicht mehr helfen konnten“, sagt Kuhn. Der Notarzt erklärt die Patientin für tot. Kuhn muss mehrere Schritte zurückgehen. Seine Fassade bricht. „Was ist los, Kollege?“, will der andere Sanitäter wissen. „Das ist meine Schwester“, sagt Kuhn. Er bricht zusammen.

Kuhns junger Sanitäterkollege reagiert sofort. Er informiert die Leitstelle, beide müssen sofort nach Kamen in die Zentrale. Marcel Kuhn wird krankgeschrieben. Lange quälen ihn danach die Fragen: „Warum ausgerechnet wir? Warum kein anderer RTW? Warum der Tag? Warum ich?“

Marcel Kuhn sitzt auf seinem Platz im Rettungswagen.
Eine Sache ist Marcel Kuhn wichtig. Seit Kurzem gibt es auch in Kamen und Bergkamen geschulte Kollegen zur „psychosozialen Unterstützung“ der Feuerwehr, kurz PSU. Gedacht ist die PSU für Kameraden, die für die Aufarbeitung der Einsatz-Geschehnisse Hilfe benötigen. Ein wichtiger Schritt findet Marcel Kuhn. © Mathias Gaumann

Die Kollegen von der PSU

Marcel Kuhn wird aufgefangen. Ein Notfallseelsorger nimmt sich seiner an, er begibt sich in psychologische Behandlung. Es geht ihm besser. „Ich muss die Situation so annehmen, ich kann nichts mehr daran ändern. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich bin kein besonders gläubiger Mensch, aber ich muss akzeptieren, dass da jemand andere Pläne mit uns hatte.“

Eine Sache ist dem 36-Jährige wichtig. Seit Kurzem gibt es auch in Kamen und Bergkamen geschulte Kollegen zur „psychosozialen Unterstützung“ der Feuerwehr, kurz PSU. Gedacht ist die PSU für Kameraden, die für die Aufarbeitung der Einsatz-Geschehnisse Hilfe benötigen. „Die halten mit aus und hören sich das an, wenn man das mal braucht“, sagt er. Ein wichtiger Schritt findet Marcel Kuhn.

Er selbst ist froh, seine Frau zu haben. „Die hört viel zu, und merkt direkt, wenn ich komisch werde“, sagt Kuhn. Und dann sind da noch die Besuche im Stadion des BVB mit seinem Sohn Max. „Nach einem besonders anstrengenden Tag tut es unfassbar gut, sich dort mal den Frust von der Seele zu schreien.“ Ein festes Ziel hat er noch. „Irgendwann zu den hauptberuflichen Kollegen der Feuerwehr wechseln. „Ich weiß noch nicht wann. Aber das ist mein Ziel. Denn ich glaube, dass das Retten von Leben meine Berufung ist“, sagt Notfallsanitäter Marcel Kuhn.

Hinweis der Redaktion: Die Artikel erschien zuerst am 9. November 2023

Rettungssanitäter Sven Glomsda (44): „Aus dem Nichts gingen sie ihnen an die Gurgel“

Maler (52) arbeitet 15 Stunden am Tag – oft 7 Mal die Woche: „Manchmal ist mir zum Heulen“

Video: Kranzniederlegung zur Reichspogromnacht: Mit Gedanken in der Partnerstadt Eilat