Dieser zuerst am 29. Oktober 2023 erschienene Artikel gehört zu den meistgelesenen Artikeln des Jahres 2023 aus Kamen und Bergkamen.
Auf der Feuer- und Rettungswache in Kamen ist gerade wieder Ruhe eingekehrt. Vor ein paar Minuten ist ein Team der Rettungskräfte zu einem Einsatz aufgebrochen. Die Kollegen, die in der Wache geblieben sind, wirken entspannt. Wohlwissend, dass es jeder Zeit losgehen kann. Einer von ihnen ist Sven Glomsda aus Bergkamen. Der 44-Jährige ist einer der hauptamtlichen Kräfte in Kamen und fährt sowohl als Feuerwehrmann als auch als Notfallsanitäter mit raus.
Er gießt sich einen Kaffee ein. Schwarz, das geht am schnellsten. Seine Einsatzkleidung trägt Glomsda bereits, obwohl seine Schicht gleich erst startet. Das sei für ihn ganz wichtig, sagt er. Der Kleidungswechsel – ein wichtiges Ritual, um die Erlebnisse und Sorgen des Retter-Berufes nicht mit nach Hause zu nehmen. „So lasse ich meinen Job auf der Dienststelle“, erklärt der 44-Jährige. Das ist zumindest die Theorie. Hin und wieder klappt es nicht.
In Sven Glomsdas Augen hat sich das Wesen des Rettungsdienstes verändert. „Die Respektlosigkeit, mit der wir Einsatzkräfte behandelt werden, wird immer größer“, sagt er. Egal in welchem Teil seiner Arbeit. „Es fängt schon bei der Anfahrt zum Einsatzort an“, berichtet er. „Leute zeigen uns den Stinkefinger, bespucken uns, pöbeln herum, dass sie nicht zum Einkaufen kommen und beschweren sich später, wir seien nicht bürgerfreundlich“, sagt Glomsda.

„Alles wirkt abgestumpfter“
Sven Glomsda ist anzusehen, dass das Thema in ihm arbeitet. Dabei wirkt der 44-Jährige nicht wütend, eher resigniert. Er fragt sich, wie es zu einer solchen Verschiebung in der Wahrnehmung der Gesellschaft kommen konnte. Ein Kollege, der ebenfalls im Raum ist, vermutet das heutige Leben in der Anonymität dahinter. „Viele sind viel einsamer. Alles wirkt abgestumpfter“, sagt der Mann. Glomsda nickt stumm.
Ursprünglich kommt der 44-Jährige aus der Sicherheitsbranche. Als Security hat er bei größeren Veranstaltungen für die Sicherheit des Publikums gesorgt. Ein besonderer Abend brachte ihn zum Nachdenken. Der Zuschauer eines Abend-Events verletzte sich mit einer zerbrochenen Glasflasche am Oberschenkel.
Eine gefährliche Situation, am Oberschenkel verlaufen zwei große Arterien. Es fehlten Sanitäter, alles dauerte ewig. „Der Patient verlor jede Menge Blut“, sagt Sven Glomsda und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Mit viel Glück überlebte der Mann den Abend. Glomsdas Chef sprach ihn später an. „Der brauchte verlässliche Rettungs-Sanitäter“, sagt der 44-Jährige. Er habe seine Sache wohl gut gemacht. In seinem Kopf reifte die Entscheidung. „Ja, ich wollte Retter werden, Menschen vor dem Tod bewahren.“
Retter in der Krise
Auch heute noch ist der 44-Jährige mit Leidenschaft bei der Sache. Aber manchmal fällt es ihm schwer, die Respektlosigkeiten und Frechheiten nach dem Dienst loszuwerden. „Manches kann man nicht so ohne weiteres abschütteln“, sagt er. Das meiste versucht er mit sich selbst zu klären, aber hin und wieder „hängt auch das eine oder andere nach“, sagt er.
Die verbalen und nonverbalen Beleidigungen während des Einsatzes sind nicht alles. Auch körperliche Angriffe auf die Helfer kommen vor. Sven Glomsda berichtet von einem Fall, bei dem ein Rettungswagen-Team einem verwahrlosten Menschen helfen wollte. „Der Mann hatte sich wohl sehr lange draußen aufgehalten, es gab deutliche Anzeichen einer Unterkühlung und Hinweise für eine Alkoholvergiftung.“
Als die Retter den Mann auf dem Weg zum Rettungswagen helfen wollten, schlug dieser plötzlich auf seine Retter ein. „Der Kollege konnte den Mann mit Mühe abwehren. Sie haben daraufhin im Auto auf das Eintreffen der Polizei gewartet.“
Kolleginnen in einen Hinterhalt gelockt
Die Stimmung im Raum ändert sich, als Glomdsa von den körperlichen Angriffen berichtet. Die Mienen der anwesenden Feuerwehrleute sind ernst, das Thema betrifft alle. Glomdsa Wangen sind gerötet, als er von einem weiteren Fall erzählt.
„Ein weibliches Rettungsteam wurde zu einem internistischen Notfall in eine Wohnung gerufen. Als die Kolleginnen die Wohnung betreten, werden sie direkt ins Wohnzimmer geführt. Mehrere junge, angetrunkene Männer sind anwesend. Plötzlich geht die Tür zu. Aus dem Nichts gehen mehrere Männer den Sanitäterinnen an die Gurgel und schlagen auf die wehrlosen Frauen ein“, erzählt er.
Es ist still im Raum. Die Kollegen sind sichtlich bewegt. „Jedem von uns hätte das passieren können“, sagt Glomdsa. Später konnten sich die Sanitäterinnen losreißen und zu ihrem Auto flüchten. Beide Kolleginnen seien nach dem Vorfall lange ausgefallen, eine schließlich in die Pflege gewechselt.
Respekt ist Herzensthema
Christopher Lindermann räuspert sich. Er ist der Chef der Feuer- und Rettungswache. Die Stadt habe auf diesen Fall reagiert, sagt er. „Wir haben alle Kollegen angehalten, immer an einen Fluchtweg zu denken, wenn sie irgendwo reingehen. Wir bieten auch Schulungen für solche Situationen an“, sagt er.
Sven Glomsda findet es traurig, dass er und seine Kollegen bei der Arbeit über Fluchtwege und Befreiungs-Möglichkeiten nachdenken müssen. „Das passt nicht zu den Gründen, warum wir diesen Beruf gewählt haben“, findet er.
„Wir bringen die Fälle immer zur Anzeige“, sagt Lindermann, der auch stellvertretender Leiter der Freiwilligen Feuerwehr Kamen ist. Das Thema Respekt sei für ihn ein Herzensthema. Er wirbt für eine größere Wertschätzung der Einsatzkräfte.

Diese extremen Fälle sind Realität, aber sie seien zum Glück noch die Ausnahme. „Viele wissen unsere Arbeit auch sehr zu schätzen, besonders ältere Menschen. Die niemandem zur Last fallen wollen“, erzählt Sven Glomsda.
Regelmäßig erhielten die Kollegen auf der Wache Briefe von ihren genesenen Patienten, die sich für die Leistung der Retter bedanken, sagt der 44-Jährige. Jetzt lächelt er – und erzählt von Malereien in der Umkleide.
Krakelige Feuerwehrautos und Feuerwehrmännchen erinnern an die Einsätze der Kollegen. Gemalt wurden sie von Kindern, die von den Beamten im Dienst gerettet wurden. „Nach der Genesung malen sie uns Bilder“, erzählt der Notfallsanitäter. Hier in der Umkleide haben sie einen ganz besonderen Platz.
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