
Die aktuellen Corona-Zahlen sind alles andere als beruhigend. Nicht nur die Zahl neuer Fälle steigt ungewöhnlich stark, auch die Zahl der hospitalisierten Corona-Kranken hat wieder deutlich zugenommen. © picture alliance/dpa
Neue Coronawelle trifft Millionen Deutsche ohne jeden Schutz
Coronavirus
Wir befinden uns mitten im dritten Corona-Jahr und noch nie waren die Daten zu Sommerbeginn so verheerend wie jetzt. Eine neue Infektionswelle türmt sich auf und Millionen sind ohne Schutz.
Als der Frühling begann, die Corona-Zahlen rasch sanken und praktisch alle Schutzmaßnahmen aufgehoben wurden, hatten wir geglaubt: Das Schlimmste ist überstanden, uns steht zumindest ein Sommer bevor, in dem wir uns nicht mit dem Coronavirus beschäftigen müssen. Ein fataler Irrtum, wie sich jetzt zeigt. Seit Anfang Juni steigt die Zahl der Neuinfektionen, und zwar stark.
So meldet das Robert-Koch-Institut am Mittwoch (15. Juni) 92.344 Neuinfektionen, 7.689 mehr als vor einer Woche. Es gibt 112 weitere Corona-Tote. Die 7-Tage-Inzidenz hat sich innerhalb einer Woche praktisch verdoppelt von 238,1 auf jetzt 472,4. Just zu Beginn des Sommers zeigt die Kurve wieder steil nach oben. Und das kennen wir so ganz und gar nicht.
Im ersten Corona-Jahr 2020, als es noch keine Impfung gab, meldete das RKI am 15. Juni 2020 gerade einmal 192 Neuinfektionen in ganz Deutschland. Heute ist die Zahl neuer Fälle 480 mal so hoch. Die 7-Tage-Inzidenz lag seinerzeit bei 2,5, heute liegt sie bei 472,4.
Was uns heute von 2020 und 2021 unterscheidet
Und auch im zweiten Corona-Jahr war die Ausgangslage zu Beginn des Sommers deutlich besser als jetzt. Für den 15. Juni 2021 notierte das RKI 652 Neuinfektionen, heute liegt der Wert beim 142-Fachen. Die 7-Tage-Inzidenz betrug 15, aus heutiger Sicht also praktisch nichts.
Wichtig: Sowohl 2020 als auch 2021 gab es massive Schutzmaßnahmen. So gab es 2021, Sie erinnern sich vielleicht, ein dreistufiges System, wobei ab der dritten Stufe, also bei einer Inzidenz von mehr als 50, die schärfsten Maßnahmen griffen. Ab einer Inzidenz von 100 galt bis Ende Juni 2021 sogar eine bundesweite Notbremse, bei der es praktisch automatisch zum Lockdown kam.
Was Gesundheitsminister Lauterbach jetzt sagt
Und jetzt? Heute gibt es in ganz Deutschland überhaupt nur drei Landkreise, in denen die Inzidenz unter 100 liegt. Bisher aber gibt es lediglich die dringende Empfehlung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach an jeden einzelnen, zum einen freiwillig in Innenräumen eine Maske zu tragen und zum zweiten, sich einen Termin für eine Auffrischungsimpfung gegen das Virus zu holen.
Nach wie vor ist die Impfbereitschaft in Deutschland extrem niedrig. Stand heute haben rund 19,5 Millionen Menschen in Deutschland noch keine einzige Corona-Schutzimpfung erhalten, darunter 2,9 Millionen Menschen, die 60 Jahre und älter und damit besonders gefährdet sind. Knapp sechs Millionen Menschen der über 60-Jährigen haben noch keine Auffrischungsimpfung erhalten.
Auch wenn die Zahlen der Corona-Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen bislang noch nicht wieder steigt und auch die Zahl der Menschen, die an oder mit einer Corona-Infektion sterben, stagniert, deuten andere Indizien auf eine Trendwende zum Schlechteren hin.
Zum einen hat die Reproduktionszahl R, die angibt, wie viele andere Menschen ein Corona-Infizierter ansteckt, die kritische Marke von 1,0 deutlich überschritten. Sie liegt jetzt bei 1,29 (vor einer Woche lag sie noch bei 0,99). Das heißt: Es droht eine exponentielle, also unkontrollierbare Ausbreitung des Coronavirus.
Dafür gibt es zwei Hauptursachen. Zum einen breiten sich aktuell die beiden neuen Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 in rasender Geschwindigkeit auch in Deutschland aus. Experten gehen davon aus, dass sie schon in nächster Zeit die absolut dominierenden Corona-Varianten in Deutschland sein werden.
Das Problem der neuen Varianten
Das Problem: Diese Varianten sind noch deutlich ansteckender als ihre Vorgänger und: Auch Geimpfte können sich mit ihnen leicht infizieren. Bei ihnen verläuft eine Infektion zwar in der Regel deutlich leichter als bei Ungeimpften, aber sie können die Krankheit eben trotzdem leicht auch an Ungeimpfte übertragen.
Die zweite Hauptursache liegt darin, dass es aktuell dem Virus leicht gemacht wird, sich auszubreiten, da alle Vorsichtsmaßnahmen fallen gelassen wurden.
Ein zweites Indiz dafür, dass sich die aktuelle Entwicklung nicht in eine positive Richtung bewegt, ist ein Blick in die Krankenhäuser. So ist die Zahl der Menschen, die mit einer Corona-Infektion in ein Krankenhaus eingewiesen werden, in kurzer Zeit stark gestiegen. Lag die Hospitalisierungs-Inzidenz – also die Zahl der Einweisungen in Kliniken pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen – noch vor einer Woche bei 1,93, hat sich dieser Wert inzwischen auf 3,6 fast verdoppelt.
Und auch der Anteil der Intensivbetten, die von Corona-Kranken belegt werden, ist wieder gestiegen – innerhalb einer Woche von 2,9 auf 3,2 Prozent.
All das sind Zahlen, die noch keinen Anlass zur Panik geben, aber: Sie könnten beispielsweise dafür sorgen, dass in den nächsten Wochen die Diskussion um eine Impfpflicht erneut aufflammt. Wenn mit dem Herbst die Temperaturen sinken und das Virus sich noch besser verbreiten kann, wird eine Diskussion um neue Schutzmaßnahmen zwangsläufig einsetzen. Und dabei werden sich die Geimpften fragen, warum sie Einschränkungen nur zum Schutz der freiwillig Ungeimpften auf sich nehmen sollen. Eine Frage, deren Beantwortung der Politik zunehmend schwer fallen dürfte.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
