Ahmid Yahyaoui ist 62 Jahre alt – und schwankt in diesen Tagen zwischen Verzweiflung und Wut. Mit 20 Jahren kam er aus Tunesien nach Deutschland. „Mein Traum war, dass es meine Kinder einmal besser haben sollten als ich“, sagt er. In Deutschland gab es einfach viel mehr Möglichkeiten als in seinem Heimatland.
Er selbst arbeitete 18 Jahre lang beim Landmaschinenhersteller Claas in Harsewinkel, dann brachen für die Branche harte Zeiten an. Yahyaoui musste erst in Kurzarbeit, dann verlor er seinen Job. „Ich habe dann bei DHL, TNT und Transoflex als Paketbote gearbeitet“, erzählt er.
Und sein Traum wurde wahr. Die Kinder, die er bekam, konnten in Deutschland, seiner neuen Heimat, mit allen Möglichkeiten aufwachsen. Seine Tochter hat inzwischen einen Doktortitel und ist in ihrer Branche international erfolgreich. Einer seiner Söhne hat gerade den Master in der Tasche und will ebenfalls promovieren. Der Vater ist sichtlich stolz auf seine Kinder und deren Erfolge. Doch er selbst ist gerade am Boden.
Als seine erste Frau starb, war das ein Schicksalsschlag. Und sein Leben nahm eine weitere drastische Wendung, als er gesundheitliche Probleme bekam: „Durch das viele Schleppen beim Paketdienst habe ich kaputte Halswirbel, musste operiert werden“, erklärt er. Drei künstliche Platten und viele Schrauben stützen seither seine Wirbelsäule. Seine Arbeitsfähigkeit ist seither stark eingeschränkt. „Zwei Stunden am Tag darf ich arbeiten.“
Doch für diese Zeit einen Arbeitgeber zu finden, erst Recht in seinem Alter, das ist mehr als schwer. „Die Stimme der Leute am Telefon verändert sich spontan, sobald ich mein Alter nenne“, sagt er. Einzige Chance: Die Gastronomie sucht händeringend Leute. „Ich habe es in Selm versucht. Aber nach einer Woche musste ich aufgeben, obwohl mir der Chef da mehr Geld geboten hat und alles versucht hat, um mich zu halten. Aber es ging körperlich einfach nicht“, sagt Yahyaoui und zuckt resigniert mit den Schultern.
Seine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit bringt ihn finanziell an Grenzen. Rentenansprüche hat er noch nicht. „Ich kann ja offiziell noch arbeiten“, sagt er mit bitterem Ton in der Stimme. Also ging er in Hamm, wo er bis vor wenigen Wochen noch wohnte, zum Jobcenter. Dort half man ihm. Machte ihm sogar Mut, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen.

An der Heinrich-Jasper-Straße in Bergkamen betreibt er inzwischen einen kleinen Kiosk. Das schafft er körperlich. „Da kann ich mich zwischendurch setzen und Pausen machen, wie ich sie brauche. Das geht“, sagt er. Zum Kiosk gehört ein Pizza-Lieferdienst. Für die Fahrten hat er eine fest angestellte Mitarbeiterin und eine Aushilfe an den Wochenenden.
Das Jobcenter Hamm half ihm, für die Ausstattung einen Kredit zu bekommen, dessen Raten erst ab 2025 fällig werden. Er erhielt Beratung, wie er seinen Betrieb wirtschaftlich gut auf die Beine stellen kann. Weil der Umsatz aber (noch) nicht ausreicht, um davon den Lebensunterhalt bestreiten zu können, erhielt er Bürgergeld und einen Anteil an den Wohnungskosten. Ahmid Yahyaoui ist damit ein klassischer Aufstocker, wie es ihn tausendfach in Deutschland gibt, wenn das Gehalt zum Leben nicht ausreicht.
Aufgrund seines Gewerbes waren bei Ahmid Yahyaoui alle Leistungen bis Anfang 2024 zeitlich befristet. Dann wäre er neu beurteilt worden. Diese Unterstützung gab ihm Sicherheit.
Doch dann verlegte er seinen Wohnsitz nach Bergkamen, und seither ist das Jobcenter Kreis Unna für ihn zuständig. Yahyaoui musste die Anträge auf Bürgergeld neu stellen. Und seine Anlaufstelle in Bergkamen sieht anscheinend viele Dinge anders als die Kollegen in Hamm. Am 16. November kam der Ablehnungsbescheid auf seinen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

„Wir kann das sein?“, fragt sich Yahyaoui. „Es gelten doch in Hamm wie im Kreis Unna die gleichen Gesetze.“ Doch das Jobcenter Kreis Unna bewertet die Einnahmen aus dem Kiosk anders als das Jobcenter Hamm, meint, das viel Geld übrig bleibe, wie die Unterlagen zeigen. Doch Yahyaoui rechnet vor, dass es nach Abzug aller Kosten und Aufwendungen derzeit gerade mal rund 400 Euro sind. Von denen kann der 62-Jährige nicht leben.
„Eigentlich müssten mir das Jobcenter in Bergkamen daher doch genauso weiter helfen wie das in Hamm, dann bräuchte ich in ein paar Monaten kein Bürgergeld mehr“, sagt er. Zumal er arbeiten will. „Ich will nicht zu Hause rumsitzen. Ich kenne genug Leute, die daran kaputt gegangen sind. Ich möchte mich lebendig fühlen und Kontakt zu anderen Menschen haben.“ Und er sagt: “Ich will ja arbeiten, aber das zerstört mein Leben.“
Wenn sein Einspruch scheitert, kann er nur aufgeben. Wie es dann weitergehen soll: Er weiß es nicht. Ihn tröstet gerade nur eins: „Meine Kinder werden in diesem Land niemals leiden. Das war mein Plan, das habe ich geschafft. Doch wenn ich gewusst hätte, was mich in Bergkamen erwartet, wäre ich in Hamm wohnen geblieben.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 24. November 2023.