Olympia statt Kohle? Bernd Tönjes managte als RAG-Chef lange das Auslaufen des Bergbaus. Als Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung engagiert er sich für Zukunfts-Projekte im Ruhrgebiet.

15.12.2018, 11:41 Uhr / Lesedauer: 7 min

Eigentlich wollte Bernd Tönjes Mathematik studieren. Doch durch eine Werbekampagne während der großen Ölkrisen der 70er-Jahre hat er sich doch noch umentschieden und studierte in Aachen Bergbau. Sein Studium finanzierte er auch durch Schichtarbeit unter Tage und auf einer Bohrplattform in Norddeutschland. Nach dem Studium arbeitete er viele Jahre auf verschiedenen Posten im Bergbau – anfangs als technischer Angestellter auf dem Bergwerk Fürst Leopold/Wulfen, später als Werksleiter des Bergwerks Ewald/Hugo. Das Fachwissen, das er in dieser Zeit erlangte, half ihm auch in zehn Jahren als RAG-Vorstandschef. Seit Mai 2018 ist Bernd Tönjes Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung und somit zuständig für die Finanzierung der sogenannten Ewigkeitslasten. Im Interview spricht der 62-Jährige über das schleichende Sterben des Bergbaus, die Aufgaben der milliardenschweren RAG-Stiftung und seine Vision für das Ruhrgebiet.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Grubenfahrt?

Absolut lebhaft – weil ich mich da noch im holden Alter von 14 Jahren befand. In der Rückschau eine illegale Grubenfahrt, aber das ist mittlerweile verjährt. Mein Vater war Bergmann und ich habe ihn immer bedrängt, mich einmal mitzunehmen. Die Neugierde war riesengroß, das war ja eine ganz andere Welt. Eines Nachts hat er mich abgeholt und ich bin eingefahren: Fürst Leopold in Dorsten, dritte Sohle. Ich bekam einen Eindruck von der Tiefe, von den Geräuschen, den typischen Gerüchen unter Tage. Ich war sehr beeindruckt. Kohle habe ich da gar nicht gesehen. Nach 20 Minuten sind wir schon wieder raus. Das ist jetzt fast 50 Jahre her, mir aber noch in sehr lebhafter Erinnerung.

Die Bergbaukrise lief ja damals auch schon einige Jahre. Konnte man sich damals vorstellen, dass diese Bergbau-Ära mal endet?

Nein, als ich mich nach dem Abitur 1974 entschlossen habe, Bergbau zu studieren, war genau das Gegenteil der Fall. 1973 war die erste Erdölkrise. Da hieß es: Die Bundesrepublik muss weg vom arabischen Öl, wir brauchen mehr heimische Energiequellen. Die Kohle muss eine größere Bedeutung bekommen. Im Jahr 1990 sollten wieder 90 Millionen Tonnen gefördert werden, das Motto lautete 90/90. Es wurde massiv Werbung gemacht, junge Leute sollten wieder im Bergbau anfangen. 1978 gab es die zweite Ölkrise. Da hieß es noch einmal: Jetzt müssen wir aber wirklich auf die heimischen Quellen umstellen. Das war die Stimmung, als ich 1982 auf dem Bergwerk Fürst Leopold anfing. Da standen die Zeichen auf Wachstum. Kohle hatte wieder eine hohe Bedeutung.

Wann kippte das wieder?

Bereits Mitte der 80er-Jahre. 1957 war der Höchststand in der Förderung mit 150 Millionen Tonnen und 600.000 Beschäftigten. Von da an war der Weg nicht kontinuierlich abwärts, sondern wurde immer wieder unterbrochen durch andere Entwicklungen. Die bekanntesten waren die beiden genannten Erdölkrisen, in denen es sogar wieder bergauf ging.

2007 gab es den endgültigen Ausstiegsbeschluss, 1997 die letzten großen Bergarbeiterdemonstrationen noch unter Kanzler Kohl: Die letzten 20 Jahre arbeitete man endgültig aufs Ende hin.

Die große Zäsur war 1997. Da hat es eine riesige Solidarität mit dem Bergbau gegeben. Damals bildeten beispielsweise 220.000 Menschen eine 93 Kilometer lange Menschenkette von Neukirchen-Vluyn im Westen bis Lünen im Osten des Reviers. Zu der Zeit war es noch nicht durchsetzbar über ein endgültiges Aus zu sprechen. Das war ein Tabu-Thema, es wurde von Schrumpfung gesprochen. Über die Kohlerunden wurden die Abbaumengen immer weiter reduziert. Ein besonderes Augenmerk lag aber auch damals schon auf der Sozialverträglichkeit. Die ganz große Zäsur kam dann 2007 mit dem kohlepolitischen Eckpunktepapier. Wo sich alle – die Kohleländer, Bund, IGBCE und die RAG –auf ein Auslaufdatum einigten und zwar unter der Voraussetzung, dass der Auslauf sozialverträglich erfolgt. Das Unternehmen hat damals gesagt: Um keine Entlassungen durchführen zu müssen, brauchen wir Zeit bis Ende 2018. Das hat der Staat akzeptiert und eine entsprechende Finanzierungszusage bis zu diesem Zeitpunkt gegeben. Das Konzept des Ausstiegs hat die RAG dann in den vergangenen zwölf Jahren erfolgreich umgesetzt.

Trotzdem ist es ein Ende einer Ära, auf das man hinarbeitet. Wie motiviert man sich selber und ein ganzes Unternehmen?

Das war über die lange Zeit extrem schwierig, zumal wir vorgewarnt waren. Wir kannten ja das englische Beispiel, wo sich Gewerkschaftsführer Arthur Scargill und Premierministerin Margret Thatcher total verhakt haben. Das endete im Konflikt und in der Zerschlagung der gesamten Bergbauindustrie. Einen geordneten Strukturwandel hat es da nicht gegeben. Die Landschaften dort blühen bis heute noch nicht wieder. Oder das Beispiel des französischen Bergbaus: Der sollte 2005 auslaufen, aber es wurde schon 2002 keine Tonne Kohle mehr gefördert. Da hatten die Leute einen Krankenschein oder sind einfach wegdiffundiert und der Betrieb war nicht mehr ordnungsgemäß zu führen. Insofern haben wir gesagt: Wenn wir das jetzt über zwölf Jahre ordentlich machen wollen, müssen wir uns klar auf die Motivation unserer Mitarbeiter fokussieren.

Wie funktioniert das konkret?

Dafür ist viel gemacht worden. Wir haben ein sehr wertschätzendes Mitarbeiterbild. Mitarbeiter stehen bei uns im Mittelpunkt. Wir involvieren sie in Problemlösungen und nehmen ihre Vorschläge sehr ernst. Von daher gibt es bis heute eine hohe Motivation, eine große Berufsethik. Die Leute arbeiten gerne im Bergbau und würden es auch weiterhin tun. Wir haben es geschafft, die Motivation unserer Mitarbeiter auch im Auslaufprozess sehr hoch zu halten. Das sieht man unter anderem daran, dass der Krankenstand auf einem extrem niedrigen Niveau und auch die Unfallkennziffer von Jahr zu Jahr auf eine neue Rekordmarke gesunken ist – das liegt nicht an der abnehmenden Mitarbeiterzahl, sondern ist pro Arbeitsstunde berechnet. Meine persönliche Motivation ist bis heute die Sozialverträglichkeit. Hätte man vor zehn Jahren entschieden, wir müssen 25.000 Leute fristlos entlassen, dann hätte mir dieser Job auch keinen Spaß mehr gemacht. Aber da die Politik die Möglichkeit eingeräumt hat, den Prozess als Gleitflug zu gestalten, ist das für mich jeden Morgen ein großer Antrieb, genau dafür anzutreten.

Es gibt nicht wenige, die im Ruhrgebiet sagen: Jetzt haben wir 50 Jahre Strukturwandel. Jetzt reicht es auch. Es ist ein Abschied vom Abschied. Wie nehmen Sie das wahr?

Das Jahr 2018 steht schon sehr im Zeichen des Abschieds. Natürlich sind die Bergleute wehmütig. Aber wir müssen nach vorne blicken. Unser Projekt „Glückauf Zukunft!“ zum Ende des Bergbaus hat daher auch zwei Ziele: Zum einen wollten wir die Leistungen des Steinkohlenbergbaus und der Bergleute würdigen, zum anderen aber auch Zukunftsimpulse setzen. Meine persönliche Wahrnehmung ist: Wir müssen den Menschen 2018 Gelegenheit geben, Abschied zu nehmen. Danach muss unser Fokus aber wieder klar auf die Zukunft gerichtet sein.

Wie war es denn für Sie, als Sie die erste Zeche schließen mussten?

Meine erste Zechenschließung war 2000 das Bergwerk Ewald. Das ist am 1. April 2000 stillgelegt worden. Ich war dort bis Ende 1999 Werksleiter. Ich musste am 1. April da hin und zum ersten Mal in der Rolle des Vorstandes „mein“ Bergwerk Ewald/Hugo stilllegen. Das war sehr emotional. Tausende schwarze Luftballons wurden in den Himmel geschickt. Das war ein Moment tiefer Betroffenheit. Was da passiert und was das mit den Leuten macht, wenn so ein Bergwerk mit 5000 bis 6000 Leuten stillgelegt wird. Das ist schon heftig. Das Bergwerk Fürst Leopold, wo ich angefangen habe, wurde dann 2001 stillgelegt. Da war ich kurz vorher RAG-Vorstandsvorsitzender geworden. Das geht einem auch nahe. Danach gab es ja eine ganze Abfolge von Stilllegungen. Ich will nicht von Routine sprechen, aber es gibt schon sowas wie eine gewisse Gewöhnung. Richtig einfach ist es natürlich nie, weil man ja nachfühlen kann, was die betroffenen Bergleute empfinden. Das vergisst man nicht.

Was erwarten Sie im Dezember, wenn die letzten Steinkohlenzechen Deutschlands schließen?

Wenn Sie zwölf Bergwerke haben und legen eines still, haben Sie immer noch elf. Und wenn sie das elfte, das zehnte und neunte schließen, haben Sie immer noch welche. Das wird jetzt im Dezember eine andere Qualität haben – denn danach gibt es kein einziges Steinkohlenbergwerk mehr in Deutschland. Eine in der Tat historische Zäsur. Es ist ja was anderes, wenn Sie die Stilllegungen planen – und es dann erleben.

Und was erwartet die Menschen in der Region? Durch den geplanten Anstieg des Grubenwassers wird es zu Hebungen an der Tagesoberfläche kommen. Mit welcher Größenordnung rechnen Sie bei neuen Bergschäden und werden diese reguliert wie bisher?

Wir sprechen hier von möglichen Hebungen im Dezimeterbereich. Ob dann dadurch Bergschäden verursacht werden, ist eine andere Frage. Wir gehen davon aus, dass das eher nicht der Fall sein wird. Aber wenn doch, dann ist es ein Bergschaden, der behoben wird, wie jeder andere auch. Da braucht sich niemand Sorgen zu machen.

Manche sind auch besorgt um unser Trinkwasser. Zu Unrecht?

Der Bergbau tut nichts, was das Trinkwasser gefährdet – gleiches gilt für die Zeit nach dem Bergbau. Da gibt es klare Vorgaben und daran halten wir uns auch.

Es gibt Düsseldorfer Design-Studenten, die fänden es ganz sympathisch, die Pumpen abzustellen und Teile des Ruhrgebiets zur Seenlandschaft werden zu lassen, um Touristen anzulocken. Gute Idee?

Denken kann man alles Mögliche. Wir bevorzugen aber, das Ruhrgebiet, so wie wir es heute von der Topographie her kennen, in eine bessere Zukunft zu begleiten. Wir wollen das Ruhrgebiet nicht fluten. (lacht)

Neben der Finanzierung der Ewigkeitsaufgaben will die RAG-Stiftung auch das Ruhrgebiet gestalten. Investieren Sie auch in Start-ups, um den Strukturwandel zu befördern?

Ja. Wir befassen uns in der Tat aktuell auch mit einem solchen Thema. Auf verschiedenen Ebenen. Ich bin ja derzeit auch Moderator des Initiativkreises Ruhr, da haben wir zum Thema Gründer schon einiges umgesetzt. Es ist der Gründerfonds mit 34 Millionen aus der Taufe gehoben worden. Die ersten Gründer haben bereits Geld bekommen und können ihre Pläne umsetzen. Außerdem haben wir – der IR und die Initiatoren von „Glückauf Zukunft!“ – die Gründerallianz Ruhr ins Leben gerufen. Hier versammeln sich alle Akteure, die Angebote im Ruhrgebiet zur Förderung von Gründern einbringen wollen.

Traditionell ist die Gründerquote im Ruhrgebiet ja immer niedriger gewesen. Glauben Sie, dass da schon ein Mentalitätswechsel stattgefunden hat?

Ja, eindeutig. Das kann man auch an dem verfügbaren Venture Capital erkennen. Vor fünf Jahren gab es hier in dieser Richtung gar nichts. Jetzt gibt es unseren Fonds und die genannte Allianz. Das ist ein klarer Aufwärtstrend. Der Gründergeist nimmt zu. Das zeigt auch die Startup-Konferenz „Ruhr-Summit“, die mit 300 Teilnehmern startete und zuletzt 4500 Besucher angezogen hat. Das muss jetzt weiter befeuert werden.

Ist die Region fit für diesen Strukturwandel, diese Transformation?

Transformation ist diese Region ja gewohnt. Wir sind ja Fachleute auf diesem Gebiet. Wenn Sie 200 Jahre zurückschauen, da gab’s hier ein paar Bauern und Wildpferde im Emscherbruch, mehr nicht. Dann 600.000 Bergleute und keine Studenten. Jetzt haben wir 270.000 Studenten, aber bald keine Bergleute mehr. Transformation ist hier der Normalfall. Und die Leute machen das auch mit.

Dazu muss aber auch der Standort attraktiv sein. Berlin zieht ja nicht wegen der schönen Gebäude, sondern wegen des Flairs. Da hat das Ruhrgebiet sicher noch Nachholbedarf.

Im 19. Jahrhundert sind die Leute ausschließlich wegen der gut bezahlten Arbeit hergekommen. Das ist heute zu wenig. Allein die Arbeit zieht die jungen Leute, die wir hierher holen möchten, nicht mehr an. Sie brauchen Umfeld, das heißt auch Freizeitmöglichkeiten, ansprechende Quartiere, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung…

… und ein anständiges ÖPNV-System …

Völlig richtig. Das Auto ist bei jungen Leuten völlig out. Man braucht einen ÖPNV, der sauber und pünktlich ist, der WLAN bietet, wo man sicher und unkompliziert von A nach B kommt, damit man unterwegs was anderes machen kann. Wenn Sie das mit der Realität vergleichen: Da sind wir meilenweit von entfernt. Warum wir fünf ÖPNV-Unternehmen in NRW brauchen, hat sich mir noch nicht erschlossen. Wenn Sie andere Metropolen mit dem Ruhrgebiet vergleichen: Da brauchen sie kein Auto.

Engagiert sich die RAG-Stiftung auch dafür, dass die Olympischen Spiele ins Ruhrgebiet kommen?

Ja, das tun wir mit großer Überzeugung. Die Olympia-Idee involviert beispielsweise auch ein gutes Mobilitäts-Konzept. Wenn Sie hier mehrere Millionen Besucher erwarten und haben den ÖPNV von heute, dann wird das wohl nichts werden. Das heißt: Wenn man Olympia unterstützt, dann unterstützt man auch die Mobilitätsbemühungen hier. Beispiel ist München, das noch heute von den Olympischen Spielen in den 70er-Jahren profitiert, weil damals die Infrastruktur gebaut worden ist, die heute noch attraktiv ist.

Wenn die Kohle als historische Klammer des Ruhrgebiets wegfällt: Was bleibt dann?

Historische Klammern sind ja etwas ganz besonderes – die fallen nicht einfach weg, sondern wirken lange nach. Der Bergbau hat das Ruhrgebiet zu dem gemacht, was es heute ist. Und er hinterlässt uns Werte, die bleiben. Werte, die wir im Übrigen auch noch gut in Zukunft brauchen können.