Bergbau hinterlässt abgrundtiefe Gefahren in Nordrhein-Westfalen

Bergbau hinterlässt abgrundtiefe Gefahren in Nordrhein-Westfalen

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Es gibt Zehntausende alte Bergbauschächte und Grubenbaue in Nordrhein-Westfalen. Etliche drohen einzustürzen. Vor allem südlich der B1/A40 heißt es: Augen auf beim Haus- und Grundstückskauf.

NRW

, 15.11.2018, 15:02 Uhr / Lesedauer: 6 min

Unsichtbare Fallgruben. In rauen Mengen. Ohne Scharniere und ohne Warnung. Die Region, in der wir uns bewegen, ist ein unsicheres Geläuf, denn: Zehntausende Schächte und Hohlräume unter der Oberfläche drohen einzustürzen – nur wo genau, weiß niemand. Mehr als die Hälfte des Landes Nordrhein-Westfalen ist von den Hinterlassenschaften des Bergbaus betroffen. Und auch heute, kurz bevor die letzten beiden Steinkohlenzechen in Bottrop und Ibbenbüren schließen, steht das Risikomanagement eigentlich noch am Anfang, und die gesetzlichen Regelungen sind so löchrig wie der Untergrund von NRW. Dabei ist spätestens seit 18 Jahren bekannt, wie gefährlich die Folgen des Bergbaus sein können.

Die Geschichte beginnt einen Tag nach Neujahr im Jahr 2000: Die Menschen hatten gerade erst den Millenium-Kater hinter sich, als mitten in einer Wohnsiedlung in Wattenscheid-Höntrop plötzlich die Erde aufbricht. Der Krater, 20 Meter tief und bis zu 15 Meter im Durchmesser, verschluckt drei Garagen, einen schwarzen Mercedes sowie elf meterhohe Tannen. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt.

Der Tagesbruch in Wattenscheid-Höntrop im Jahr 2000 hat bei den Verantwortlichen einiges ausgelöst.

Der Tagesbruch in Wattenscheid-Höntrop im Jahr 2000 hat bei den Verantwortlichen einiges ausgelöst. © picture-alliance / dpa

Der Krater geht als „Höntroper Loch“ in die Bergbaugeschichte des Landes ein. Ein sogenannter Tagesbruch über dem Schacht des fast 100 Jahre zuvor stillgelegten Bergwerks Maria Anna und Steinbank. In der folgenden Nacht kracht es erneut in dem dicht bebauten Wohngebiet – ein zweiter Tagesbruch.

Vier Jahre später bietet sich ein ähnliches Bild in Siegen-Rosterberg. Am 12. Februar 2004 sackt der Boden unter einem Mehrfamilienhaus in die Tiefe. Die Ecke des Hauses bricht ab. Zwei Wochen später tut sich ein Krater zwischen zwei Häusern auf – rund 50 Quadratmeter groß. Fast 100 Menschen müssen am Rosterberg ihre Wohnungen verlassen. Auch diese Grube – in diesem Fall die Erzgrube Hohe Grete – wurde bereits 1900 stillgelegt und meldet sich jetzt zurück.

Die Löcher von Höntrop und Siegen haben noch einmal das Bewusstsein dafür geschärft, welche Gefahren als Folgen des Bergbaus unter unseren Füßen schlummern.

„Bilder, die ich nie vergessen werde“

„Und das noch für viele Jahre“, sagt Peter Hogrebe. Der Bergbauingenieur war in beiden Fällen vor Ort, nachdem sich die Erde aufgetan hatte und alles, was vorher auf ihr stand, verschluckte. Hogrebe ist bei der Bergbehörde in Dortmund für die Gefahrenabwehr zuständig. Er ist eine Art Gefahrensucher im Auftrag des Landes. Über Siegen sagt er: „Das waren Bilder, die ich im Leben nicht mehr vergesse. Diese Beklommenheit. Man traute sich nicht mehr von der Stelle, weil man ja nicht wusste, ob das nicht auch im weiteren Umfeld noch einbricht.“

Ein alter Erzbergbau-Schacht ist im Jahr 2004 in einem Siegener Wohngebiet eingebrochen.

Ein alter Erzbergbau-Schacht ist im Jahr 2004 in einem Siegener Wohngebiet eingebrochen. © picture-alliance/ dpa/dpaweb

Rund 120 Tagesbrüche gibt es in Nordrhein-Westfalen jedes Jahr. Das Land investiert jährlich mehrere Millionen Euro, um die Gefahren des Untergrundes für die Oberfläche zu erforschen und zu beseitigen, sagt der Leiter des Lehrstuhls für Markscheidewesen, Bergschadenkunde und Geophysik im Bergbau an der RWTH Aachen, Professor Axel Preuße. „Die beiden Tagesbrüche haben sehr viel bei den Verantwortlichen ausgelöst.“

Es ist eine Mammutaufgabe, das belegen die Zahlen eindrucksvoll: Rund 60.000 verlassene Tagesöffnungen gibt es schätzungsweise in NRW. Bei einem großen Teil davon ist die genaue Lage unbekannt. Mehr als zwei Drittel der alten Stollen und Schächte gehören der RAG, RWE, Eon, Thyssen-Krupp und anderen Altbetreibern. Für rund 2500 Schächte ist das Land zuständig, weil sich diese keinem Unternehmen mehr zuordnen lassen. Die Zahl könnte in den kommenden Jahren noch steigen.

Schächte in geringer Tiefe können gefährlich werden

Seit dem Jahr 2011 hat das Land ein Risikomanagement für diese Schächte, rund 30 arbeitet die Bergbehörde pro Jahr ab. „Bei rund 75 Prozent der untersuchten Schächte konnte eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nachgewiesen werden“, sagt Andreas Welz, Abteilungsleiter Nachbergbau bei der Bergbehörde. Bei diesem Risikomanagement sind andere unterirdische Hohlräume noch gar nicht mit drin. Daran wird gerade gearbeitet.

Schon vor dem industriellen Bergbau hat man in NRW jahrhundertelang nach Bodenschätzen gegraben: nach Erzen, Salzen, Schiefer oder Strontianit. Bis zum 18. Jahrhundert beschränkte sich der Bergbau vor allem auf den Abbau oberflächennaher Lagerstätten. In den Notzeiten nach dem Zweiten Weltkrieg buddelten Unternehmen und ganz normale Leute nach Kohle in geringer Tiefe – südlich der heutigen A 40, nur wenige Meter unter der Tagesoberfläche. „Zeche Eimerweise“ wurden diese Kleinstzechen auch genannt. Mehr als 1000 davon gab es zwischen 1945 und 1976 von Dortmund bis Essen. Insbesondere von dem alten oberflächennahen Bergbau mit seinen Schächten und Stollen gehen Gefahren aus, aber auch von Schächten, die bis Ende der 70er-Jahre eher locker verfüllt wurden. Stürzen diese ein, können an der Erdoberfläche metergroße Krater aufreißen.

Oberflächennaher Bergbau im Muttental

Oberflächennaher Bergbau im Muttental © Bezirksregierung Arnsberg

Damit sich so etwas wie in Höntrop oder Siegen nicht wiederholt, wird inzwischen einiges getan: Den besten Überblick, wo diese Schächte, Stollen und Grubenbaue im Untergrund lauern, hat das alte Oberbergamt in Dortmund. Der offizielle Name lautet: Bezirksregierung Arnsberg, Abteilung 6, Bergbau und Energie. In deren Keller lagert das beeindruckende, aber dennoch lückenhafte Gedächtnis des nordrhein-westfälischen Bergbaus. 130.000 Grubenkarten sind hier in Stahlschubladen und Rollregalen archiviert. Peter Hogrebe und seine Kollegen werten diese Grubenbilder, die auch in digitaler Form vorliegen, aus, und überprüfen die Erdoberfläche über alten Schächten. Sie bewerten das Gefahrenpotenzial – also die Eintrittswahrscheinlichkeit und das mögliche Schadensausmaß – und erstellen eine Prioritätenliste. Hohlräume unter Schulen, Krankenhäusern, Wohnhäusern oder Straßen stehen auf der Liste ganz oben, mögliche Löcher in einem Wald ohne Publikumsverkehr eher ganz unten. Der Blick in die Vergangenheit liefert Hogrebe und seinen Kollegen wertvolles Wissen für die Gegenwart. In einer Art Grundbuch für Grubenbetreiber sind alle Unternehmen verzeichnet, die das Recht haben, nach Bodenschätzen in NRW zu suchen. Peter Hogrebe rollt einen Grubenriss aus dem Jahr 1788 aus – der zeigt Stollen in unmittelbarer Nähe des Signal Iduna Parks in Dortmund.

Andreas Welz leitet das Dezernat Nachbergbau bei der Bergbehörde. Im Keller des ehemaligen Oberbergamtes lagern 130.000 Karten zum Bergbau in NRW.

Andreas Welz leitet das Dezernat Nachbergbau bei der Bergbehörde. Im Keller des ehemaligen Oberbergamtes lagern 130.000 Karten zum Bergbau in NRW. © Stephan Schuetze

Dort lässt eine Spezialfirma im Auftrag der Bergbehörde seit Wochen Beton in den Untergrund laufen – direkt unter dem Stadion-Parkplatz im Süden der Stadt. „Es gibt wirklich noch Menschen, die kaufen im südlichen Ruhrgebiet ein Grundstück, ohne sich vorher mit der Frage zu beschäftigen, habe ich da Altbergbau oder nicht“, sagt der Leiter des Dezernats Nachbergbau, Andreas Welz. Als Faustformel gelte: Jeder, der südlich der A40 ein Grundstück oder Haus erwerben möchte, sollte sich gründlichst mit möglichem Altbergbau befassen. „Ansonsten kann es am Ende teuer werden und die komplette Finanzierung ist hin“, sagt Welz und erzählt von einem spektakulären Fall in Essen.

In gutem Glauben gekauft

Der betroffene Eigentümer hatte in gutem Glauben ein Grundstück gekauft, ohne sich zu erkundigen, wie die bergbaulichen Verhältnisse sind. Im Zuge des Genehmigungsverfahrens bekam er von der Stadt Essen die Auflage, sein Grundstück nach Hohlräumen zu untersuchen. „Die Stadt Essen hatte uns im Bebauungsplanverfahren beteiligt und wir haben diese Information der Stadt Essen zukommen lassen“, sagt Welz. Das System funktionierte, die Kommune beteiligte die Bergbehörde. Doch niemand beteiligte den Käufer vor dem Kauf, wie es beispielsweise ein Notar hätte tun können. Der Mann musste eine hohe fünfstellige Summe allein dafür ausgeben, sein Grundstück baureif zu machen. „Dem ist die ganze Baufinanzierung aus dem Ruder gelaufen. Und nach eigenem Bekunden stand er kurz vor der Privatinsolvenz“, erinnert sich Welz. Dem Mann konnte nicht geholfen werden, denn als Grundeigentümer haftete er. Da ist jeder selbst gefragt, sich zu informieren, im Zweifelsfall auch durch Akteneinsicht im Keller der Dortmunder Bergbehörde, dem Bergbau-Gedächtnis des Landes.

Doch wie das mit dem Gedächtnis ist – mit dem Alter lässt es nach, wird löchrig. Der Bergbau in Nordrhein-Westfalen hat fast 1000 Jahre auf dem Buckel. Im Zweiten Weltkrieg wurden empfindliche Schneisen ins Archiv der Bergbehörde gebombt. „Es gibt heute nirgendwo in diesem Land die Stelle, die den kompletten Überblick hat“, sagt Welz. Weder Altgesellschaften noch die Bergbehörde NRW sind unmittelbar rechtlich verpflichtet, ein Risikomanagementsystem für Altbergbau zu betreiben oder durchgeführte Bauarbeiten an Schächten der Behörde zu melden. Das geht aus der Antwort der nordrhein-westfälischen Landesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen-Landtagsfraktion hervor.

Ich konnte das gar nicht glauben, als ich das gehört habe“, sagt Wibke Brems, energiepolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. In Deutschland werde doch sonst alles reguliert und kontrolliert. „Gerade, wenn man sich die Dimensionen deutlich macht, dann wird einem ja ganz anders. Es ist ein Wunder, dass da noch nicht mehr passiert ist.“ Die Bergbaugesellschaften meldeten sich allerdings häufig selbst, um die Behörde über Schachtsanierungen zu informieren, sagt Welz. Ob sie dies auch vollständig tun, wisse er natürlich nicht. Die RAG hat nach eigenen Angaben für „Schachtverfüllungen, die Überwachung, Sicherung und Nachverfüllung von Schächten Rückstellungen in Höhe von 962 Millionen Euro gebildet“, wie es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion heißt. Auch Thyssen-Krupp will bis 2035 alle Schächte untersucht haben, RWE ist auch dabei. „Der eine macht das besonders intensiv und besonders fix und der andere etwas langsamer. Da können wir nur zugucken“, sagt Welz.

Auch Autobahnen - hier die A40 bei Essen - werden immer wieder wegen entdeckter Hohlräume gesperrt.

Auch Autobahnen - hier die A40 bei Essen - werden immer wieder wegen entdeckter Hohlräume gesperrt. © picture alliance / dpa

Nicht nur in Wohnsiedlungen wie Wattenscheid-Höntrop oder dem Siegener Rosterberg sorgen Tagesbrüche für Gefahr, sondern auch auf Straßen, wie ein Beispiel aus dem Juli 2009 zeigt: Zwischen Olpe und Freudenberg klafft auf der A45 nach heftigen Regenfällen plötzlich ein elf Meter tiefes Loch mit eineinhalb Metern Durchmessern. Darunter entdeckt man einen ehemaligen Schacht. Auch die Autobahnen 40, 43 und 52 wurden schon über Wochen gesperrt – bergbaubedingte Tempolimits sind Tagesgeschäft. Menschen kamen bislang nicht zu Schaden, was erstaunlich ist. Im Februar 2000 verschwindet eine 79-jährige Nonne bei Wilnsdorf-Rödgen im Siegerland beim Spaziergang im Garten des Klarissenklosters. Sie wird unverletzt aus dem drei Meter tiefen Tagesbruch befreit. In Hattingen verschluckt 2012 ein Krater die Wippe auf einem Kinderspielplatz. Glücklicherweise war der Spielplatz zum Zeitpunkt des Einsturzes bereits gesperrt, weil der Stollen schon entdeckt worden war.

Im Dortmunder Zoo verfüllte das Bergamt auch in umittelbarer Nähe des Löwengeheges alte Hohlräume mit Beton.

Im Dortmunder Zoo verfüllte das Bergamt auch in umittelbarer Nähe des Löwengeheges alte Hohlräume mit Beton. © Bezirksregierung Arnsberg

Auch die Deutsche Bahn mit ihrem 4900 Kilometer langen Streckennetz in NRW ist betroffen: So musste vom 20. November bis zum 19. Dezember 2013 der Zugverkehr zwischen Essen-Hauptbahnhof und Essen-Werden auf Schrittgeschwindigkeit reduziert werden. Wohlgemerkt: Da war kein Schaden eingetreten. Die Bergbehörde informierte die Bahn über die potenzielle Gefahr durch das Flöz Plaßhoffsbank. Die Bahn checkte die Gleise, entdeckte tatsächlich eine Trichterbildung im Schotterbett und sperrte die Strecke. Nach zwei Dutzend Bohrungen wusste man: Der Gefahrenbereich ist 70 mal 25 Meter groß und liegt sechs Meter unter den Gleisen. Die Folge waren 93.316 Minuten Verspätung, 580 Züge fielen komplett aus, 5744 teilweise. Kosten: rund 2,1 Millionen Euro. Auch die Bahn reagierte mit einem eigenen Risikomanagement: Im Juni 2016 greift es zum ersten Mal: In Dortmund-Aplerbeck saniert die Bahn die erste Strecke. In bis zu 27 Metern Tiefe waren Hohlräume entdeckt worden.

Internetseite mit weitere Informationen

Wie viele Grundstückseigentümer aber auf eigene Faust solche Untersuchungen und Verfüllungen machen, ist unbekannt. „Das sind alles so Dinge, die bekommen wir nicht oder nur so am Rande mit“, sagt Welz. „Deswegen ziehen wir seit Jahren über das Land und sagen, es muss eine katasterführende Stelle im Lande geschaffen werden, wo alle Informationen über durchgeführte Untersuchungs- und Sicherungsmaßnahmen zusammenlaufen. Ich denke mal, das hat die Politik jetzt auch erkannt.“ Ein entsprechendes Rechtsgutachten ist in Arbeit. Mehr als 18 Jahre, nachdem sich mitten in einer Wohnsiedlung in Wattenscheid-Höntrop die Erde aufgetan hat.

Wer wissen möchte, ob sein Grundstück betroffen ist, kann das auf dem Onlineinformationsportal „Gefährdungspotenziale des Untergrundes in NRW“ vom Geologischen Dienst und der Bergbehörde nachsehen.
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