Armutsgefährdung in Deutschland Welche Gruppen besonders bedroht sind

Armutsgefährdung in Deutschland: Welche Gruppen besonders bedroht sind
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Es ist ein überraschender Befund, den die Daten aus dem Mikrozensus für die Entwicklung der Armutsgefährdung in Deutschland nahelegen: Der Statistik zufolge ist das Armutsrisiko in Deutschland zuletzt gesunken. Waren 2021 noch 16,9 Prozent der Menschen von Armut gefährdet, waren es 2022 noch 16,7 Prozent. Doch der Eindruck, den die Zahlen vermitteln, ist trügerisch.

Denn der verwendeten Definition von Armutsgefährdung liegt ein Vergleich der Einkommen zugrunde: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, ist demnach von Armut bedroht – unabhängig davon, was er sich von dem Geld kaufen kann.

Wer von Armut bedroht ist

„Das große Problem war 2022 die Inflation“, sagt daher Andreas Peichl, Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen. „Die Preise sind gestiegen.“ Dieser Faktor jedoch fehle in den Einkommensdaten. Berechnet man die Inflation mit ein, sind die Reallöhne in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 2022 um rund 4 Prozent geschrumpft.

Doch selbst wenn man das nicht berücksichtigt, zeigen die Daten bei zwei Gruppen einen Anstieg der Armutsgefährdung: Das sind zum einen die Kinder und Jugendlichen. In der Gruppe der unter 18-Jährigen waren 2022 laut Statistik 21,6 Prozent armutsgefährdet nach 21,3 Prozent im Vorjahr. Darauf weist auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch hin. „Kinder und Jugendliche sind die Verlierer der Inflation“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Kinderarmut habe „einen neuen Rekordwert“ erreicht.

Armut in Deutschland: Alleinerziehende sind am häufigsten bedroht

Zum anderen ist das Armutsrisiko im vergangenen Jahr auch für alleinstehende Erwachsene mit Kindern gestiegen. Unter allen Haushaltstypen waren Alleinerziehende mit einem Anteil von 42,9 Prozent mit Abstand am häufigsten von Armut bedroht. 2021 waren es noch 42,3 Prozent gewesen, 2020 waren es 40,4 Prozent.

Ifo-Forscher Andreas Peichl zufolge gibt es für das hohe Armutsrisiko unter Alleinerziehenden einerseits statistische Gründe. Denn für die Statistik wird ein sogenanntes Äquivalenzeinkommen errechnet: Bei gleichem Einkommen ist eine alleinerziehende Person demnach ärmer als ein alleinstehender Mensch, da das Einkommen unter anderem mit der Anzahl von Personen im Haushalt verrechnet wird.

Gleichzeitig sinken mit Kindern auch die Erwerbsmöglichkeiten. Vor allem, wenn kostenlose Betreuungsangebote fehlen, sehen sich Alleinerziehende oftmals in einer Zwickmühle: Muss man für die Kinderbetreuung bezahlen, um arbeiten gehen zu können, lohnt sich die Arbeit finanziell entsprechend weniger.

Das System schafft Anreize, nur wenig zu arbeiten

Zudem senken die Zuverdienstgrenzen die Anreize: „Wenn man Transferleistungen bekommt, lohnt es sich oft, ein bisschen zusätzlich zu arbeiten“, sagt Ifo-Forscher Peichl. „Wenn ich aber mehr arbeiten will, bekomme ich netto kaum mehr raus, weil die Transferleistungen damit verrechnet werden.“ Dieses System schaffe vor allem für Alleinerziehende Gründe, nur wenig oder gar nicht zu arbeiten. „Wir nennen das die Armutsgefährdungsfalle“, sagt der Volkswirt.

„Wir brauchen in diesem Jahr eine Kindergrundsicherung, die diesen Namen verdient“, fordert deshalb Dietmar Bartsch gegenüber dem RND. „Die Bekämpfung der Kinderarmut muss uns auch das notwendige Geld wert sein“, sagt der Linken-Politiker. „Wenn Kanzler und Finanzminister 100 Milliarden Euro über Nacht für die Bundeswehr lockermachen können, dürfen sie notwendige Mittel für Familien nicht blockieren.“ Gebraucht werde nun „eine Zeitenwende in der Armutsbekämpfung in Deutschland“.

Lebenshaltungskosten sind regional unterschiedlich

Andreas Peichl vom Ifo-Institut weist zudem auf weitere Schwächen der Statistik hin: „Es wird nicht regional differenziert. Deshalb ist die Armutsquote in Ostdeutschland immer höher als in Westdeutschland.“

Die Lebenshaltungskosten seien in Ostdeutschland jedoch niedriger, weshalb der reine Einkommensvergleich nicht aussagekräftig sei. Auch würden bei dieser Betrachtung andere Dimensionen, etwa das Vermögen, nicht berücksichtigt. „Ein anderer Ansatz wäre die Definition eines bestimmten Warenkorbs“, so der Volkswirt, „und erst, wenn man sich die darin enthaltenen Güter nicht leisten kann, gilt man als arm.“

RND

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