Amir (9) nach Zugunglück in Recklinghausen wieder zu Hause „Unsere Familie ist endlich vereint“

Nach Zugunglück im Februar: Amir (9) ist endlich wieder zu Hause
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Ein Mehrfamilienhaus in Recklinghausen. Vier Jungs toben durchs Wohnzimmer, machen auf ihren Handys Videospiele und streiten darüber, wer von ihnen am besten Fußball spielen kann. Eine scheinbar normale Situation, wie man sie sicher in vielen Recklinghäuser Haushalten beobachten könnte. Doch dass die Jungs hier auf der Hillerheide miteinander toben, grenzt an ein Wunder. Denn eines der Kinder, der neunjährige Amir El-Jaddouh, ist vor dreieinhalb Monaten von einem Güterzug erfasst worden.

Das Zugunglück am 2. Februar hat ganz Recklinghausen erschüttert. In der Nähe des Ostbahnhofs waren Amir und sein zehnjähriger Freund von einem Zug erfasst worden. Amir überlebte den Unfall schwerst verletzt, sein Freund starb bei der Kollision.

Große Narbe am Hinterkopf

Seit dem 6. Mai ist Amir El-Jaddouh wieder zu Hause bei seinen Eltern und seinen drei Geschwistern. Viele Wochen im Krankenhaus und eine knapp dreimonatige Reha liegen hinter ihm. „Er ist nicht mehr wie früher, aber er ist Gott sei Dank noch da“, sagt Vater Fadi El-Jaddouh (46), „unsere Familie ist wieder vereint“. Bis auf eine große Narbe an seinem Hinterkopf erinnert äußerlich zwar nichts mehr an den Unfall, aber Amir kämpfe noch mit einigen körperlichen und psychischen Folgen.

Durch die vielen Tage im Koma habe er eine Epilepsie entwickelt, sein Seh- und Hörvermögen sei noch eingeschränkt und er habe Schwierigkeiten beim Laufen. Deshalb dürfe er auch noch nicht wieder Fußball spielen. „Ich bin der Beste im Dribbeln“, erzählt er mit einem breiten Grinsen und sein Kumpel nickt zur Bestätigung.

Zwei Jungs sitzen auf einem Sofa in Recklinghausen und schauen sich Videos auf einem Handy an
Amir (l.) hat seine Freunde vermisst. Umso glücklicher ist er, dass er sie jetzt in der Schule und zu Hause wiedersehen kann. © Jörg Gutzeit

Therapiemaßnahmen gehen weiter

Dass er noch nicht wieder am Training teilnehmen könne, sei für Amir, der einmal Fußballprofi wie sein Vorbild Cristiano Ronaldo werden möchte, großes Pech, sagt Fadi El-Jaddouh. „Aber alleine, dass er hier sitzt, ist ein Wunder. Er hatte zehn Engel bei sich, die aufgepasst haben.“ Nach Angaben des vierfachen Vaters habe man Amir nach dem Unglück nicht gleich finden können, weshalb sein Gehirn lange Zeit nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde.

Die Diagnose im Februar: Fraktur des Corpus callosum, der Hirnregion, die die rechte und linke Gehirnhälfte miteinander verbindet. Anfangs konnte Amir weder sprechen noch selbstständig essen. Kaum vorstellbar, wenn man ihn jetzt mit seinem besten Freund auf der Couch sitzen sieht.

Seine Therapie gehe auch jetzt, da er wieder zu Hause ist, ambulant weiter. Ob sein Sohn vollständig genesen wird, werde sich erst im Laufe der Zeit zeigen, sagt Fadi El-Jaddouh, man müsse abwarten, wie weit die Therapie-Maßnahmen greifen.

Die Schule hat Amir zum ersten Mal am Montag (15.5.) wieder besucht. Er fange langsam mit drei Stunden täglich an. Ob er sich freut, wieder am Unterricht teilzunehmen? „Ja, aber nur wegen meiner Freunde“, entgegnet der Neunjährige und lacht. Er weiß, dass er an der Schule vermisst wurde. Alle Klassenkameraden und Mitschüler seien an seinem ersten Schultag nach der Reha zu ihm gekommen, um ihn willkommen zu heißen.

Fadi El-Jaddouh sitzt während des Interviews auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer in Recklinghausen-Hillerheide
Fadi El-Jaddouh möchte auf lange Sicht in ein anderes Haus mit seinen Kindern ziehen – weg von den Bahngleisen, die seine Familie täglich an den Unfall erinnern. © Jörg Gutzeit

Gedanke an toten Freund ist immer präsent

In kleinen Schritten kehrt für Amir El-Jaddouh wieder Normalität ein – soweit es eben möglich ist. „Uns als Familie geht es noch nicht wie früher“, sagt sein Vater Fadi El-Jaddouh immer wieder. Der Gedanke an Amirs verstorbenen Freund sei immer präsent, ebenso das Mitgefühl gegenüber dessen Familie, aber auch die eigene Trauer. Er besuche regelmäßig das Grab des Jungen, erzählt Fadi El-Jaddouh. Amir frage noch ab und an nach seinem Freund, man wolle ihn aber nicht überfordern. „Er ist im Paradies.“

Fadi El-Jaddouh wolle jetzt weiter seiner Arbeit nachgehen, um auf lange Sicht ein anderes Haus für seine Kinder zu bekommen. Ein Zuhause, weit weg von den Bahngleisen, an denen das Unglück passiert ist.

Den Gedanken an eine Klage habe er noch nicht ganz verworfen. Trotz der Freude und Erleichterung, dass sein Sohn wieder zu Hause ist. Geld wolle er nach eigener Aussage keines, sein Ziel sei es viel mehr, dass die Deutsche Bahn dazu verpflichtet wird, Gleise in der Nähe von Wohngebieten einzuzäunen und mit Warnschildern zu versehen. Damit ein Unglück, wie es seinem Sohn passiert ist, nicht noch einmal geschieht.

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