Wiedergutmachung ist ein Wort, das es für Alex Deutsch nicht gibt. Das gleichnamige Formular, das er 1963 vom Deutschen Konsulat erhielt, hat er nie ausgefüllt. „Geld kann Tote nicht lebendig machen“, sagt der damals 97-Jährige. Er habe den Tätern vergeben, ja – aber wie um alles in der Welt solle Geld die Ermordung seiner geliebten Thea und seines zweijährigen Dennis wiedergutmachen? In der Hölle von Auschwitz wurden sie vergast. Alex Deutsch überlebte. Jeden Tag aufs Neue. Zwei Jahre lang.
Es stinkt nach verbranntem Fleisch, nach verkohlten Knochen. Alex Deutsch kann das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau schon riechen, bevor er es in der Nacht auf den 4. März 1943 überhaupt sieht. Die lauten Kommandos der SS-Männer, die die Berliner Juden aus den Waggons prügeln, nimmt er kaum wahr. „Alles, woran ich dachte, war meine Familie.“
Jeder Siebte erlebte wenigstens die nächsten Stunden
Sechs Tage zuvor hatte ihn die SS beim Kohlenschippen auf der Arbeit festgenommen. Weil er Jude ist. Und Jude zu sein, kommt in dieser Zeit einem Todesurteil gleich. Getrennt von Frau und Kind, pfercht ihn die SS in einen Waggon der Reichsbahn. Heinrich Himmler will Berlin bis zum 20. April judenfrei wissen. Als Geburtstagsgeschenk für den Führer. Fünf Tage rollt der Zug bis Auschwitz, das heute auf polnischem Territorium liegt. Fünf Tage Hunger, fünf Tage Durst, fünf Tage Ungewissheit. Es geht direkt in die Vernichtung. Als der Zug vor den Toren des Lagers zum Stehen kommt, wird von den 1750 Menschen an Bord nur jeder Siebte wenigstens die nächsten Stunden erleben.

Alex Deutsch schafft es. Ein Arzt weist ihn auf die linke Seite. Links heißt arbeitsfähig, rechts heißt unbrauchbar. Links bedeutet Leben, rechts Sterben. Was der zu diesem Zeitpunkt 29-Jährige nicht ahnt: Thea und Dennis, einen Transport früher in der Hölle angekommen, gehen diesen Moment ins Gas. „Sie hätte unseren Jungen niemals allein gelassen“, sagt er Jahrzehnte später zu Hause am Küchentisch. Alex Deutsch kennt seine Thea. Und Kleinkinder werden vernichtet. Sie sind für die Rüstungsproduktion der Nazis nicht vorgesehen.
„Vernichtung durch Arbeit“
Lastwagen bringen die Häftlinge ins Lager Auschwitz III. Sie müssen für den Chemiekonzern IG Farben arbeiten. Hitler braucht Synthetik-Benzin für seinen Angriffskrieg. Die Gaskammern in Birkenau liegen fünf Kilometer weiter östlich. Wie schnell es dort für jeden Einzelnen zu Ende gehen kann, teilt der Lagerälteste sofort mit: „Ihr wisst, weshalb ihr hier seid. Vernichtung durch Arbeit. Solange ihr arbeitet, werdet ihr leben.“ Deutsch ahnt, dass die Nazis keinen einzigen Juden jemals lebendig herauslassen wollen.

Von nun an erfährt er täglich, wozu Menschen imstande sind. „Es gab keine Regel, an die man sich halten konnte, um sicher zu sein, den Tag zu überstehen.“ Alex Deutsch senkt den Kopf. Seine Stimme zittert. Er ist in seiner Erzählung an Szenen angekommen, die er sonst nicht schildert und die er so gerne vergessen möchte. Doch er kann nicht. Alex Deutsch hat das Grauen gesehen. Menschen, auf die mit Stöcken eingeschlagen wird, bis sie am eigenen Blut ersticken. Häftlinge, die mit dem Gewehr hingerichtet werden, weil sie um etwas mehr Suppe bitten. „Eines Morgens bei der Barackenkontrolle wurde ein Mithäftling totgeschlagen, weil er seine Bettdecke nicht faltenfrei geglättet hatte. Die Wache trat auf den am Boden Liegenden ein. Immer und immer wieder. Selbst dann noch, als er sich schon lange nicht mehr bewegte. Wir sahen tatenlos zu“, flüstert Deutsch.
Auch er muss Qualen erleiden, wenn er von den Kapos grundlos geschlagen wird. Es sind nichtjüdische Häftlinge, die von der SS als Helfershelfer eingesetzt werden. „Ohne Rechenschaft abzulegen, durften sie uns umbringen“, erklärt Alex Deutsch. Einmal entgeht er dem Tod nur knapp, als er auf dem Weg vom Chemiewerk zurück ins Lager Zweige schmuggeln will, um einen Besen zu bauen. Der Lagerälteste hatte ihm dafür Brot versprochen. Bei einer stichprobenartigen Leibesvisitation erwischt es ihn. Vor aller Augen wird er zu 25 Stockhieben verurteilt, die er auf einem Bock liegend über sich ergehen lassen muss. Mit aller Kraft schlägt der SS-Mann zu, die Haut platzt auf. Als Alex Deutsch wieder bei Sinnen ist, kann er die Wunden nur mit seinem eigenen Urin behandeln. „Eine Infektion wäre mein Tod gewesen“, sagt er.
„Jeden Morgen hoffte ich, den Abend zu erleben“
Gute Menschen geben Hoffnung in der Hölle. Wie der zivile Vorarbeiter bei IG Farben. Er verbietet den Kapos, während der Arbeitszeit die Häftlinge zu schlagen und steckt ihnen regelmäßig Brot zu. Auf dem Weg zum Lager sieht Deutsch einen Wehrmachtsangehörigen, der sich weigert, auf Frauen und Kinder zu schießen, die vor einer ausgehobenen Leichengrube stehen. Der Soldat wird erschossen.
Zwei Jahre überlebt Alex Deutsch das Lager. Wie er die seelischen Qualen überstehen konnte? „Der Glaube ist die Stärke des Menschen. Wer verzweifelte, starb. Aber ich wollte leben. Jeden Morgen hoffte ich, den Abend zu erleben. Jeden Abend hoffte ich, den Morgen zu erleben.“

Am 18. Januar räumt die SS das Lager. Auf Befehl Himmlers. Flucht vor der Roten Armee. Die Arbeitskräfte aber werden gebraucht. Für den Endkampf. Wer laufen kann, muss mit Richtung Gleiwitz. „Von Hunger und Kälte entkräftet, waren viele dem dreitägigen Marsch nicht gewachsen, brachen zusammen und wurden noch auf der Chaussee erschossen.“ Wer es schafft, wird von Gleiwitz aus erst zu Arbeiten nach Halberstadt, später nach Magdeburg gebracht, um Bombenschäden zu beseitigen. Als die SS Mitte April flüchtet, versteckt sich Alex Deutsch gemeinsam mit zwei weiteren Häftlingen in den Ruinen der Stadt. Fünf Tage später marschieren die Amerikaner in Magdeburg ein. Alex Deutsch hat den Holocaust überlebt. Und doch ist sein Leben vorbei. Nichts ist mehr, wie es war. Damals. Er schaut auf ein Familienbild aus den 30er Jahren. Darauf zu sehen sind Alex und Thea Deutsch an ihrem Hochzeitstag, umringt von 29 Familienmitgliedern. Von diesen fröhlichen Menschen auf dem Foto lebten nach Kriegsende nur noch vier. Drei Verwandte waren Alex Deutsch geblieben. Drei von 29.
Kurz vor seinem Tod 2011 blickt Alex Deutsch in ein erfülltes Leben zurück. Er lebt in Neunkirchen im Saarland, ist damals 97 Jahre alt, zum dritten Mal verheiratet und glücklich, sagt er. Hat er den Tätern wirklich verziehen? „Ich musste es, wenn ich ein neues Leben beginnen wollte. Um selbst inneren Frieden zu finden, musste ich den Hass ablegen. Ich habe vergeben, aber vergessen kann ich nicht. Niemals.“
Diese Reportage stammt aus dem Jahr 2010. Alexander Deutsch starb am 9. Februar 2011.
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