5 bis 20 Prozent der Polizeibeamten in NRW rechtsextrem? Experten fordern neue Studien

Rechtsextreme Netzwerke

Hitler-Bilder und Mord-Fantasien: Bundesweit ist das Entsetzen groß über rechtsextreme Netzwerke bei der NRW-Polizei. Dem Entsetzen sollen nun Taten folgen, fordern Experten.

Düsseldorf

17.09.2020, 06:46 Uhr / Lesedauer: 2 min
An fünf aufgedeckten rechtsextremen Chatgruppen in Nordrhein-Westfalen sollen 29 Polizistinnen und Polizisten beteiligt gewesen sein.

An fünf aufgedeckten rechtsextremen Chatgruppen in Nordrhein-Westfalen sollen 29 Polizistinnen und Polizisten beteiligt gewesen sein. © picture alliance/dpa

Nach der Aufdeckung von rechtsextremen Chatgruppen bei der nordrhein-westfälischen Polizei hat ein Experte anonyme Meldeverfahren für interne Missstände gefordert. „Man kann sich ja nicht vorstellen, dass so ein Netzwerk innerhalb der Polizei niemandem aufgefallen ist“, sagte der Bochumer Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein der Deutschen Presse-Agentur.

„Aber wenn einer etwas bemerkt, gilt bisher in der Regel der offizielle Dienstweg. Zugleich wird das „Anschwärzen“ von Kollegen in der Polizei nach wie vor nicht goutiert.“ Anonyme Whistleblower-Kommunikationsangebote gebe es bei der Polizei nur in zarten Anfängen, sagte Singelnstein.

In Nordrhein-Westfalen waren fünf rechtsextreme Chatgruppen aufgedeckt worden, an denen 29 Polizistinnen und Polizisten beteiligt gewesen sein sollen. Das hatte Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch in Düsseldorf mitgeteilt. Die Betroffenen seien suspendiert worden, gegen alle seien Disziplinarmaßnahmen eingeleitet worden. 14 Beamte sollen aus dem Dienst entfernt werden. Reul will an diesem Donnerstag den NRW-Landtag über den Ermittlungsstand zu rechtsextremen WhatsApp-Gruppen bei der Polizei informieren.

Die aufgedeckten Chatgruppen seien sicher keine Einzelfälle

Im ZDF-„heute journal“ betonte der CDU-Politiker am Mittwochabend: „Ich will solche Leute nicht in der nordrhein-westfälischen Polizei sehen.“ Notwendig sei ein Bündel an Maßnahmen. Reul verwies zugleich darauf, dass Polizisten melden müssten, wenn sie von solchen Vorfällen erfahren. Das gehöre zum Amtseid dazu. Es dürfe nicht zugelassen werden, dass wenige die gesamte Polizei in Misskredit bringen.

Singelnstein sagte, die aufgedeckten Chatgruppen seien sicher keine Einzelfälle, sondern zeigten ein strukturelles Problem. Nach Untersuchungen aus den 1990er Jahren neigten zwischen 5 bis 15 oder 20 Prozent der Polizei zu rechtsextremistischem Gedankengut, sagte Singelnstein. Leider seien die entsprechenden Untersuchungen alt, „wir brauchen dringend neue Studien“.

Vorfälle wie jetzt zerstörten die Legitimität der Polizeiarbeit und könnten damit eine negative Spirale in Gang setzen, sagte der Kriminologe. Mit dem Vertrauen in die Polizei gehe auch die Bereitschaft verloren, ihre Anweisungen zu befolgen. Besonders in migrantischen Milieus habe die Polizei viel Vertrauen verloren, wie etwa die Aufarbeitung der NSU-Ermittlungen gezeigt habe.

Befragungen der Bewerber sollte intensiver ausfallen

Als Gegenmaßnahme müsse die Polizei bei der Personalauswahl stärker als bisher auf einen antifaschistischen und antirassistischen Grundkonsens achten. Befragungen der Bewerber dazu könnten ruhig intensiver ausfallen. Bei der bestehenden Organisation sollten Fortbildungsbemühungen vor allem bei der mittleren Führungsebene ansetzen - Dienstgruppenleiter könnten durch ihr Vorbild und ihre Führungskultur die Ausbreitung von rechtsextremistischen Einstellungen in besonderer Weise fördern oder verhindern.

Zur angekündigten Entfernung aus dem Dienst von Beamten äußerte sich der Polizeiexperte eher skeptisch. Dafür seien die Hürden disziplinarrechtlich hoch. Wissenschaftliche Studien hält auch der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, für notwendig. Mit Hinweis auf Vorfälle in Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Nordrhein-Westfalen sagte Fiedler im ZDF: „Wer da jetzt wirklich noch die Vokabel Einzelfall in den Mund nimmt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen“.

Grüne fordern Rassismus-Studie in allen Bundesländern

In den ARD-„Tagesthemen“ fügte Fiedler hinzu: „Wenn jetzt noch irgendein Innenminister in Deutschland glauben sollte, sein Bundesland sei immun gegen solche Facetten, das wäre an Naivität kaum mehr zu überbieten.“ Der Kriminalgewerkschafter forderte ebenfalls ein Bündel an Maßnahmen und warnte vor „einfachen Antworten“.

Die Grünen im Bundestag fordern einen Beschluss der Innenministerkonferenz, in allen Bundesländern unabhängige wissenschaftliche Studien über die Verbreitung verfassungsfeindlicher Einstellungen in Sicherheitsbehörden durchzuführen. Es glaube nun kaum noch jemand, „dass wir es lediglich mit Einzelfällen zu tun haben“, sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Irene Mihalic, dem „Tagesspiegel“ zur Begründung. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) lehnt solche Studien bisher ab.

dpa