200 000 feiern bei der «Extraschicht» das Ruhrgebiet

Vor dem Eingang zu den «Katakomben» eines stillgelegten Stahlwerks in Bochum bilden Besucher eine lange Schlange.

Dortmund/Bochum (dpa)

20.06.2010, 19:39 Uhr / Lesedauer: 2 min

Das illuminierte Schloss Oberhausen.

Das illuminierte Schloss Oberhausen.

Sie wollen das staubige Fundament aus Fachwerk und Stahlrippen sehen und Geschichten aus der Zeit hören, als auf dem Gelände der Jahrhunderthalle aus glühendem Stahl noch Schiffsteile gegossen wurden. Lange Wartezeiten musste man in Kauf nehmen, wenn man zur «Extraschicht» eines der Industriedenkmäler des Ruhrgebiets besuchen wollte. Zur zehnten «Nacht der Industriekultur» am Samstag pilgerten laut Veranstalter über 200 000 Menschen zu alten Zechen, Hochöfen und Kokereien. Schauspieler, Musiker und andere Kreative machten an 50 Wahrzeichen im Ruhrgebiet auf den Strukturwandel der Region aufmerksam.

Leise Klavierklänge ertönen, als die Katakomben-Führerin Angelika Bartsch den Zuschauern erzählt, dass sie 30 Jahre im Ausland gelebt hat und sich «die Augen reiben musste», als sie zurück in ihre Heimat Bochum kam. «Es ist unglaublich, was sich hier verändert hat. Freunde aus anderen Teilen Deutschlands glauben ja, dass hier immer noch die Briketts durch die Luft fliegen», sagt Bartsch. Nachwuchspianistin Yunjin Choi von der Folkwang Universität im benachbarten Essen ist Quelle der Klaviertöne, die in den Katakomben nur leise, im Veranstaltungssaal darüber raumfüllend klingen.

Talente der regionalen Hochschulen spielen bei einem vierstündigen Klaviermarathon unter Stahlbögen und der grauen Betondecke Chopin, Schumann und Bach. Nach acht-Minuten-Intervallen können die Zuschauer die Halle verlassen. Es gibt noch viele Spielorte zwischen Dinslaken und Hamm, Hagen und Marl zu sehen. «Wir wollen heute Abend kreuz und quer durch das Ruhrgebiet fahren», sagt denn auch Besucher Bernd Codura aus Duisburg.

Doch ein zu straffes Programm lasse die «Extraschicht» in Freizeitstress ausarten, meinen viele Besucher, die schon einmal da waren. Und das trotz 30 Shuttlebuslinien, die alle Spielorte auf einer Strecke von 600 Kilometern im Ruhrgebiet an diesem Abend für die Besucher verbinden. Andere begnügen sich daher lieber mit einigen wenigen Spielorten. Wie Ilse Peters, die aus Neuss kommt, um ihre alte Heimat Bochum zu besuchen. Im Westpark, der rund um die Jahrhunderthalle liegt, wird sie mit einem «gevan d vandola mora» begrüßt. Das heißt «Guten Tag im Land Mora» - eine Fantasiewelt, in die der Westpark heute verwandelt wird. Die Darsteller des Theater Anu sind als Leuchtwesen mit Lampenschirmhüten verkleidet.

In der Dunkelheit sollen tausende Teekerzen hier und Lichtinstallationen an vielen anderen Stätten die Ruinen der Schwerindustrie noch einmal ins rechte Licht setzen. Versteckt hinter einem Hügel verschmelzen Geschichte und Gegenwart. Arbeiter des Bochumer Vereins legen hier - einmal im Jahr vor Publikum - eine echte Extraschicht ein und produzieren Stahlfelgen für ICE. Der 800 Kilo schwere Hammer, der die glühenden Eisenzylinder in runde Scheiben formt, wummert schon 50 Meter vor dem Werk im Bauch und unter den Füßen. Werksleiter Klaus-Dieter Eggemeyer freut sich über die kurzfristige Prominenz durch die Kulturtouristen: «Wir freuen uns, dass die Besucher in dieser Nacht auch zu uns kommen, die Arbeit hier ist sonst ja eher anonym.»

Über eine «einmalige Gelegenheit» und sein erstes Massenpublikum freut sich auch der junge Künstler Johann Sebastian Kopp von der Fachhochschule Dortmund. Seine Bilder einer Ausstellung zum Thema Markt hängen im Dortmunder U-Turm, einem ehemaligen Brauereihochhaus. Er ist als eines von 20 Projekten der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 im Programm vertreten. Ein Videoglockenspiel des Ruhrgebiet-Regisseurs Adolf Winkelmann ziert seit einiger Zeit den Turm: Auf den Leinwänden lassen sich sechs Meter große Tauben in der Dachkrone des Gebäudes nieder.

www.extraschicht.de

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