100 Tage nach dem schwärzesten Tag Halterns

Gespräch mit Bürgermeister Klimpel

Den 24. März nannte Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel den schwärzesten Tag für Haltern: Bei dem Absturz der Germanwings-Maschine über den französischen Alpen starben 16 Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums auf dem Rückweg von einer Austauschreise. 100 Tage danach sprachen wir mit dem Bürgermeister über die Zeit nach dem Unglück.

HALTERN

02.07.2015, 06:00 Uhr / Lesedauer: 3 min
„Die Leute haben sich einigermaßen arrangiert, um den Alltag zu meistern“, sagt Bürgermeister Bodo Klimpel.

„Die Leute haben sich einigermaßen arrangiert, um den Alltag zu meistern“, sagt Bürgermeister Bodo Klimpel.

Inzwischen ist das Lichtermeer auf den Stufen der Schule verschwunden, Menschen sitzen wieder in Cafés, die Schützen feiern ihre Feste. Doch was wie normaler Alltag aussieht, bleibe tief geprägt von dem Unglück, sagt Bürgermeister Klimpel im Interview mit Florentine Dame. Am 2. Juli ist der Absturz 100 Tage her.

Wie geht es Haltern heute?

Es ist nach wie vor eine unglaubliche Betroffenheit da. Die verschwindet dann im Alltagsleben, meint man. Aber so richtig verschwindet sie nicht, sondern die Menschen kümmern sich um das, was jetzt eben so zu tun ist. Abitur. Beruf. Schützenfest. Vereinsleben. Aber das Thema ist nie ganz weg. Es gibt nicht eine Veranstaltung in der Stadt, wo nicht eine Gedenkminute gehalten wurde. Es gibt keine karitative Veranstaltung, wo nicht gesammelt wird oder gebetet wird. Die Leute haben sich einigermaßen arrangiert, um den Alltag zu meistern.

Unmittelbar nach der Katastrophe war das Leid überall zu sehen in der Stadt. Gleichzeitig war viel vom Zusammenrücken der Bürger die Rede. Wie haben Sie das erlebt?

Dieses stadtweite und langandauernde Entsetzen hat mich auch ein Stück weit überrascht. Woher das kommt, ist mir erst jetzt bei den Beerdigungen klar geworden, als ich gesehen habe, dass zum Beispiel komplette Sportvereine am Grab standen. Das ist diese so dichte Vernetzung: 16 junge Menschen, die mit ihren Familien und Freunden so verbunden waren in Vereinen, in der Schule, in den Ortsteilen, dass wirklich jeder irgendwie betroffen ist. Ich glaube, von den 38000 Einwohnern haben 30000 in irgendeiner Form und Weise Kontakt zu den Angehörigen oder Freunden.

Welche Rolle spielen die Kirchen in dieser Zeit der Trauer?

Die Kirchen sind in dieser Zeit unheimlich wichtig - und waren zuletzt auch voller als sonst. Man geht ja häufig sehr kritisch mit der Kirche um. Aber wenn es den Leuten schlecht geht, wenn sie traurig sind und trauern wollen, dann auf einmal ist die Kirche wieder gut genug. Das ist schon bemerkenswert, sage ich jetzt mal ein bisschen vorsichtig. Ich muss sagen: Die Geistlichen, die das hier bei uns gemacht haben, die haben sich wirklich unglaublich viel Mühe gegeben. Das ist ja auch eine riesige Herausforderung für sie: Wie soll ein Geistlicher beim Vaterunser den Leuten die Zeile "Dein Wille geschehe" erklären? Aber sie haben diesen Spagat immer wieder hingekriegt und schaffen es, glaube ich, den Menschen Trost zu spenden.

Wie hat das Erlebte Ihr Leben verändert?

Man wird realitätsbezogener. Es ist nicht mehr alles so wichtig. Das sage ich Ihnen ganz offen. Über welche Nebensächlichkeiten wir uns da in so einem Stadtrat manchmal streiten, erscheint dann geradezu lächerlich. Man sieht ein paar Dinge anders: Man ist sofort zufriedener.

Sie haben die Angehörigen in vielen schweren Stunden begleitet, waren bei den Beerdigungen der Schüler. Wie gehen Sie mit der persönlichen Belastung um?

Wenn ich abends nach Hause komme, dann sind meine Kinder da. Mein Sohn ist eine Jahrgangsstufe unter den Verunglückten. Nach der Arbeit kann ich ihn sehen, kann Zeit mit ihm verbringen. Das gibt mir Kraft, genau wie meine Frau. Ich habe Glück, dass ich meine Familie komplett habe. Dieses Glück wird einem jetzt viel bewusster. Absolut.

Wird Haltern jemals wieder so sein wie vor dem Unglück?

So ganz wird es die Stadt nie loslassen. Da bin ich ziemlich sicher. Haltern wird immer - auch für Außenstehende - mit dem Unglück verbunden sein. Für die Angehörigen hoffe ich, dass sie den Sommer und die Ferien nutzen können, mal etwas Ablenkungen zu bekommen. Vielleicht können sie durch andere Eindrücke ein Stück wieder zu sich selbst finden.

Was können Sie als Stadtoberhaupt gemeinsam mit Ihrer Verwaltung tun für die Hinterbliebenen?

Gerade entsteht eine Gedenkstätte auf dem Friedhof der Stadt, die wir wohl nach den Ferien einsegnen und der Öffentlichkeit übergeben. Darüber hinaus wollen wir den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Als Bürgermeister ist das natürlich auch eine Gratwanderung: Es gibt Eltern, die wollen in Ruhe gelassen werden, andere finden die Ansprache okay. Ich habe den Angehörigen versprochen: Wir werden die Kinder und die beiden Lehrerinnen nie vergessen. Und das darf natürlich kein Lippenbekenntnis sein.

dpa