
© Stadtarchiv/Claeßen, Montage
Vor 75 Jahren: Diese Zeitung berichtete den Lünern vom Ende des Krieges
Erstausgabe der „Ruhr Zeitung“
Ursula Henser besitzt die Erstausgabe der „Ruhr Zeitung“, in der die deutsche Bevölkerung auch in Lünen vom Ende der NS-Herrschaft erfuhr. Bei uns können Sie die Ausgabe digital lesen.
Als Ursula Henser die erste Ausgabe der „Ruhr Zeitung“ in ihren Händen hielt, war die Begeisterung überschaubar. „Ehrlich gesagt habe ich mich eher weniger für die Tageszeitung interessiert“, beschreibt die Lünerin ihre Reaktion - durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Ursula Henser damals zehn Jahre alt war. Heute, 75 Jahre später, kann sie die Bedeutung jener Zeitung wesentlich besser einschätzen: „Es war das erste Mal, dass in unseren Medien der Krieg wirklich kritisiert worden ist.“
Das ist noch freundlich formuliert: Die Herausgeber der ersten Ausgabe erklären der deutschen Bevölkerung unmissverständlich, welchem Regime sie jahrelang die Treue hielten, welche Gräueltaten im Namen Deutschlands begangen wurden - und dass das alles nun vorbei sei: „Die Waffen wurden gestreckt“ lautete die erste Überschrift der „Ruhr Zeitung“ am 12. Mai 1945, vier Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
„Allen Truppen schulde ich Dankbarkeit“
Auf vier Seiten richtet sich die 12. amerikanische Heeresgruppe an die deutsche Zivilbevölkerung. Die erste Seite zeigt die Fotos der Sieger: Josef Stalin, den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill.
Unter den Bildern zeichnet die Redaktion das Ende des Krieges in Europa nach: Von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 7. Mai 1945 um 2.41 Uhr über die Einstellung der Kampfhandlungen am 8. Mai um eine Minute nach Mitternacht bis hin zum Statement des US-Generals Dwight D. Eisenhower, die Alliierten hätten Deutschland zu Lande, zur See und in der Luft vollständig geschlagen: „Allen Truppen schulde ich eine Dankbarkeit, die ich nie wirklich erfüllen kann.“
Die nicht namentlich genannten Autoren machen in ihrem Leitartikel zudem klar, wieso Deutschland diesen Krieg nur verlieren konnte: „Weil es eine Sache vertrat, die die Welt naturnotwendig gegen Deutschland vereinigen musste.“ So habe der Nationalsozialismus den Keim der Katastrophe in sich getragen: „Der Militarismus, der Rassenhass, die Theorie vom deutschen Übermenschen, der Wirtschaftsplan der Autokratie, die „kämpferische“ Erziehung der Jugend, die Bekämpfung der Glaubensbekenntnisse - all das (...) musste zum Krieg führen, weil jede einzelne dieser Theorien die friedliebenden Nationen der Welt zu gefährden geeignet war.“

Der Ausweis für "Total-Fliegergeschädigte" in Lünen. © Claeßen
Hungersnot im Ruhrgebiet
Wohin diese Theorien Deutschland geführt hatten, musste Ursula Henser selbst erleben: Sie war mit ihrer Familie am Ende des Krieges in einer alten Zechenhalle untergebracht, nachdem eine Bombe ihr Haus zerstört hatte. „Schlafplätze im Bunker waren nicht selbstverständlich, da musste man hartnäckig sein“, erinnert sich die 85-Jährige heute.
Die zweite Seite der Ruhr Zeitung widmet sich dem Ruhrgebiet und dem Rheinland: Die Korrespondenten melden den Beginn einer Steuerregelung in Köln, schreiben von drohenden Hungersnöten im Ruhrgebiet, vom Ende der Kriegs- und dem Start der Friedensproduktion in der Industrie und dem Problem des Nachwuchses: „Die Schwierigkeiten in der Umerziehung der deutschen Jugend sind hauptsächlich die Knappheit an brauchbaren Lehrkräften und das Fehlen geeigneter Lehrbücher.“
Auf Seite 3 wird dem Leser gewahr, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist: „Japan bleibt allein“, heißt es über einem Artikel, der die Situation im Pazifik betrachtet - noch ahnt niemand, dass die US-Amerikaner diesen Konflikt mit einer Massenvernichtungswaffe beenden werden.
Bemerkenswert sind Schilderungen der Rubrik „Ihr sollt es wissen“ - laut Redaktion Zitate alliierter Zeitungen aus dem Material, das die Siegermächte zu den Verbrechen des Dritten Reiches gesammelt haben. Offen wird hier über die Massenmorde in Konzentrationslagern berichtet. Einzelschicksale stehen für das Grauen, das SS und SA über die Menschen gebracht haben. Eine befreite KZ-Insassin bittet einen Soldaten um Milch für ihr Neugeborenes, das offensichtlich schon mehrere Tage tot ist. Als der Soldat ihr die Milch trotzdem gibt, singt sie ein Wiegenlied und bricht dann tot zusammen.

Lebensmittelmarken aus dem Januar 1950. © Claeßen
Die letzte Seite schließlich widmet sich noch einmal der Kapitulation und der Niederlage Deutschlands. Auch hier scheuen die Herausgeber nicht vor drastischen Mitteln zurück: Sie drucken ein Bild der Leiche des „Nazi-Oberbürgermeisters von Leipzig“ ab, der „vor den Amerikanern und seinem Gewissen in den Tod“ floh. Auch andere Nazi-Schergen hatten den Freitod gewählt, wie eine Auflistung am Ende der Seite zeigt. Andere NS-Größen wurden festgenommen, wer fliehen konnte, gilt laut Zeitung als „vermisst“.
Ausweis für Total-Fliegergeschädigte
Die Ruhr Zeitung ist nicht die einzige Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Ursula Henser besitzt: Ein Ausweis für „Total-Fliegergeschädigte“ erlaubte damals den Kauf für „nicht zwangsbewirtschaftete Waren des Haushalts und des persönlichen Bedarfs“ - zum Beispiel Kartoffeln am 1. Juni 1945. Lebensmittelmarken von Januar 1950 zeigen zudem, dass sich die Bevölkerung nur langsam vom Krieg erholte - ein Krieg, den Deutschland nicht verlor, weil die Alliierten zufällig stärker waren, wie die Ruhr Zeitung am 12. Mai 1945 feststellt. „Sondern weil das Schlechte im Nationalsozialismus so stark war, dass es alle Kräfte des Guten verschmolz und zusammenschmiedete.“
Die Geschichte der „Ruhr Zeitung“
- Ursprung der „Ruhr-Zeitung“ war laut dem Institut für Zeitungsforschung die Rheinische Westfälische Zeitung, die es bereits seit 1883 gab.
- Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die „Ruhr Zeitung“ erstmalig am 12. Mai 1945 erschienen. Zuständig war Hans Habe, US-Offizier und zurückgekehrter Emigrant. Er ließ die Zeitung in Essen mit einer Auflage von rund 1,5 Millionen Exemplaren drucken - zunächst zweimal wöchentlich.
- Ein Jahr später wurde die Redaktion von Essen nach Dortmund verlegt und an Dietrich Oppenberg übertragen. Die Auflage ging auf 750.000 zurück.
- Kurz darauf wurde die Ruhr Zeitung mit der Rheinischen Zeitung und der Neuen rheinischen Zeitung zusammengelegt - es entstanden die „Neue Rhein Zeitung“ beziehungsweise die „Neue Ruhr Zeitung“ - später bekannt als „NRZ“, die heute zur Funke-Mediengruppe gehört.
Angehende Journalistin und Studentin des wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität in Dortmund. Seit sechs Jahren schreibt sie frei für Tageszeitungen mit.
Geboren und aufgewachsen im Sauerland, dort erste Erfahrungen im Lokaljournalismus gesammelt und für das Journalistik-Studium schließlich nach Dortmund gezogen. Dem Lokaljournalismus weiterhin treu geblieben, schreibe ich hier über alles, was in Lünen und Umgebung so los ist.

Journalist, Vater, Ehemann. Möglicherweise sogar in dieser Reihenfolge. Eigentlich Chefreporter für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen. Trotzdem behält er auch gerne das Geschehen hinter den jeweiligen Ortsausgangsschildern im Blick - falls der Wahnsinn doch mal um sich greifen sollte.
