Lüner beziehen Stellung

Wie belastet ist das deutsch-türkische Verhältnis?

Tiefpunkt im deutsch-türkischen Verhältnis - der Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Minister in Deutschland kochte hoch, Präsident Erdogan warf Kanzlerin Merkel zuletzt sogar "Nazi-Methoden vor". Wir haben drei Lüner gefragt, die türkische Wurzeln haben: Wie stehen sie zu dem hitzig diskutierten Thema? Wirkt sich der Streit bis nach Lünen aus?

LÜNEN

, 21.03.2017 / Lesedauer: 6 min

Durch den Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Regierungspolitiker' tag=' in Deutschland für die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsänderung haben die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mit der Änderung will Erdogan weitreichende Vollmachten für sich erreichen' tag='. Es besteht die Befürchtung, dass mit der Verfassungsänderung, über die am 16. April per Referendum abgestimmt wird, der türkische Rechtsstaat ausgehöhlt und einer autoritären Ein-Mann-Herrschaft der Weg bereitet wird.

Im deutsch-türkischen Verhältnis gibt es schon seit längerem Belastungen, zuletzt wegen der Inhaftierung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel' tag='. Nach einer Serie abfälliger Bemerkungen über Deutschland - unter anderem hatte Präsident Erdogan Bundeskanzlerin Angela Merkel "Nazi-Methoden" vorgeworfen' tag=' - verschärft nun auch die Bundesregierung den Ton gegenüber der Türkei.

Wie stark wirkt sich der Streit auf das Miteinander vor Ort aus?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie sich der Streit auf Regierungsebene auf das Miteinander von Deutschen und Türken in Deutschland auswirkt. Dazu hat Redakteur Torsten Storks in Lünen die Integrationsbeauftragte der Stadt, Dr. Aysun Aydemir, den Vorsitzenden des Integrationsrates, Gürbüz Demirhan, und Kenan Küçük, Geschäftsführer des Multikulturellen Forums (MKF) schriftlich befragt: Wie stehen sie zum geplanten Präsidialsystem, zu den umstrittenen Wahlkampfauftritten, zum Nazi-Vergleich, zur Verhaftung des deutsch-türkischen Korrespondenten Deniz Yücel, zu Ditib und Spitzel-Vorwürfen.

Während Demirhan und Küçük unsere Fragen beantworteten, gab die Integrationsbeauftragte Aydemir keine konkreten Antworten, sondern ließ uns über die Pressestelle der Stadt eine allgemeine Stellungnahme zukommen - Passagen, die zu unseren Fragen passten, haben wir entsprechend zugeordnet. Alle Fragen hat Aydemir jedoch nicht beantwortet.

 

1. Wie stehen Sie zu der von Staatspräsident Erdogan geplanten Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei?

Küçük: Durch die Verfassungsänderung wird dem Präsidenten eine enorme Machtfülle eingeräumt. Anders als in anderen Präsidialsystemen wie in Frankreich oder den USA gibt es im Gegenzug kein starkes Parlament, keine „checks and balances“, wie die Amerikaner es nennen. Insofern teile ich die Einwände der Venedig-Kommission des Europarates. Aus meiner Sicht gleitet die Türkei eindeutig in Richtung eines „Ein-Mann-Regimes“ ab.

Demirhan: Ob das Präsidialsystem gut für die Türkei ist oder nicht, werden letzten Endes die türkischen Staatsbürger am 16. April selber entscheiden. Ich wünsche allen türkischen Bürgern die Weisheit, das Richtige für die Zukunft ihres Landes zu wählen. Persönlich hoffe ich, dass die Demokratie weiter Bestandteil der türkischen Gesellschaft bleibt.

Aydemir: Ich persönlich schätze, respektiere und lebe Demokratie und Meinungsfreiheit, weshalb ich der Meinung bin, dass diese Errungenschaften der Demokratie bewahrt werden müssen.

 

2. Halten Sie es für richtig, dass türkische Minister dafür in Deutschland Wahlkampf machen?

Küçük: Es gibt einen Unterschied zwischen einer Meinungsäußerung, die in einem demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland natürlich jedem zugestanden wird, und dem gezielten Werben um Stimmen durch Propaganda. Letzteres ist Sache des jeweiligen Landes und sollte grundsätzlich nicht in anderen Ländern ausgetragen werden. So steht es ja auch zurecht im türkischen Wahlgesetz, wo es in Paragraph 94 a heißt: „Im Ausland und in Auslandsvertretungen darf keine Wahlpropaganda stattfinden.“

Demirhan: 1,4 Millionen der hier lebenden Menschen sind in der Türkei wahlberechtigt und somit eine Zielgruppe, die von Parteien in ihren Herkunftsländern umworben werden. Dass dann zu Wahlkampfzwecken Politiker nach Deutschland kommen, ist ihr gutes Recht. So, wie es das gute Recht der Kritiker ist, hierzulande gegen solche Auftritte zu demonstrieren. Beides gehört zur Demokratie und beides muss eine Demokratie auch aushalten können.

Das gleiche Interesse der hier in Deutschland lebenden türkischen Mitbürger zur ausländischen (türkischen) Politik würde ich mir auch zur hiesigen (deutschen) Kommunalpolitik wünschen. Hier sehe ich ein Versäumnis der deutschen Einwanderungspolitik, welche leider verhindert hat, dass diese Menschen sich als gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft fühlen.

Ein erster und wichtiger Schritt wäre daher, die Einführung des kommunalen Wahlrechts auch für Drittstaatler, welches der Landesintegrationsrat, die Wahlinitiative NRW mit einhundert Migrantenorganisationen und der Integrationsrat der Stadt Lünen seit Jahren fordern.

Aydemir: keine Antwort

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3. Erdogan verglich die deutsche Absage eines Auftritts eines türkischen Ministers mit Nazi-Praktiken: Was sagen Sie dazu?

Küçük: Ein solcher Sprachgebrauch ist eines Staatsmannes absolut unwürdig. Inhaltlich bedarf er eigentlich keiner weiteren Auseinandersetzung. Spontan fällt mir dazu ein bekanntes türkisches Sprichwort ein, dessen deutsche Entsprechung mit den berühmten Worten „Wer im Glashaus sitzt…“ beginnt.

Demirhan: Solche Äußerungen fördern nicht gerade das friedliche Zusammenleben der Menschen hier in Deutschland. Im Gegenteil, damit wird Öl ins Feuer gegossen. Trotzdem dürfen die diplomatischen Beziehungen dadurch nicht abgebrochen werden.

Aydemir: In schwierigen und politisch angespannten Zeiten ist es nicht immer ganz einfach, die passenden Worte zu finden. So ist es aufgrund der aktuellen Situation wichtiger denn je, darauf zu achten, dass man mit seiner Wortwahl und seinen Äußerungen nicht unnötig provoziert und polarisiert. Unangemessene und unqualifizierte Nazivergleiche tragen zu einer Polarisierung bei, die es zu verhindern gilt.

 

4. Der Welt-Korrespondent Deniz Yücel sitzt in türkischer Untersuchungshaft: Ihre Meinung dazu?

Küçük: Dass Deniz Yücel seit Wochen ohne Anklage in Haft sitzt, ist ein Skandal. Immerhin wird dieser Fall in den deutschen Medien und damit auch in einer größeren Öffentlichkeit thematisiert. Aber was ist mit den anderen über 150 inhaftierten Journalisten, die nicht das Privileg einer deutschen Staatsangehörigkeit haben? Mit Pressefreiheit hat das, was in der Türkei gerade passiert, absolut nichts zu tun. Und ein Land ohne Pressefreiheit ist schlichtweg keine Demokratie.

Demirhan: Um hier eine abschließende Meinung gegen Herrn Yücel bilden zu können, sollten die laufenden Untersuchungs-Ermittlungen (Vorwurf: Propaganda für eine verbotene Partei, Volksverhetzung…) noch abgewartet werden.

Aydemir: keine Antwort

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5. Die Türkisch-Islamische-Union der Anstalt für Religion (Ditib) steht unter Beschuss: Ditib-Imame sollen Lehrer in Deutschland bespitzelt und als vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung diffamiert haben. Halten Sie diese Vorwürfe für glaubwürdig, wie stehen Sie zu Ditib?

Küçük: Wir haben schon immer kritisiert, dass ein nach deutschem Vereinsrecht organisierter Kulturverein von einer türkischen Behörde strukturell abhängig ist. Dieser Umstand gipfelt nun in dem untragbaren Verhalten der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Ditib-Imame Bespitzelungsaufträge zu erteilen. Dem Verband und seinen Mitgliedern fügt diese Praxis beträchtliche Imageschäden zu. Deshalb ist eine Entkopplung des Vereins vom türkischen Staat, hin zu einer rein zivilgesellschaftlich organisierten Religionsanstalt, längst überfällig. Und ich weiß, dass einige Moscheegemeinden diese Meinung teilen.

Demirhan: Auch hier sind die laufenden Ermittlungen des Generalbundesanwalts noch abzuwarten. Sollten sich die Spitzelvorwürfe bestätigen, wäre dies ein Vertrauensverlust auch für die jeweilige Gemeinde. Ich warne jedoch vor einer pauschalen Verurteilung der Ditib. Den Dialog und die Zusammenarbeit mit der Ditib zu beenden – wie mancherorts gefordert – lehne ich strikt ab. Das wäre kontraproduktiv. In vielen Städten und Gemeinden, wie auch in Lünen (Selimiye und Ulu Moschee) leistet die Ditib mit ihrer Arbeit einen großen Beitrag für die deutsche Gesellschaft sowie für die Integration und das friedliche Miteinander der Kulturen.

Aydemir: keine Antwort

 

6. Befürchten Sie angesichts der genannten Punkte Auswirkungen auf das Zusammenleben von Deutschen und Türken in Lünen?

Küçük: Das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken ist eindeutig gestört. Die Propaganda in den regierungstreuen türkischen Medien erreicht auch viele in Deutschland lebende Menschen mit türkischen Wurzeln. Diese Menschen verinnerlichen eine Rhetorik, die für das Zusammenleben vor Ort kontraproduktiv ist. Auf deutscher Seite stelle ich andererseits fest, dass sich das Bild von der Türkei so sehr verschlechtert hat, dass es zu einer Art Generalverdacht gegenüber allem, was türkisch klingt oder aussieht, kommt. Darunter leiden wiederum alle Deutsch-Türken, auch jene, die sich kritisch mit dem Regime auseinandersetzen. Mir persönlich ist es ein Anliegen zu betonen, dass nicht alle türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern blind hinter Erdogan stehen.

Demirhan: Lünen: Da die unterschiedlichen Institutionen, Migrantenorganisationen und Gemeinden hier in Lünen untereinander gut vernetzt beziehungsweise sich in einem offenen und regen Austausch befinden, befürchte ich keine negativen Auswirkungen für das Zusammenleben von Deutschen und Türken. Bundesebene: Ich wünsche mir in dieser angespannten Zeit mehr Besonnenheit, eine sachliche Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Themen. Der gemeinsame, verständnisvolle Dialog muss zwischen beiden Ländern gepflegt und weiter aufrecht gehalten werden. Wie heißt es: „Politiker kommen und gehen, aber Freundschaft besteht“. Diese wird auch immer bestehen bleiben.

Aydemir: Die Lünerinnen und Lüner mit türkischer Einwanderungsgeschichte habe ich, in meiner inzwischen sechsjährigen hauptamtlichen Tätigkeit, stets als offene, engagierte und kooperative (Mit-) Bürger, die viel Wert auf friedliche und freundschaftliche Beziehungen zu ihren deutschen Nachbarn und Freunden legen, kennen- und schätzengelernt. Auch ihre Beziehungen untereinander, das heißt, innerhalb der türkischen Community, sind recht stabil. So haben wir zum Beispiel im Integrationsrat der Stadt Lünen auch bei schwierigen und kontroversen Themen eine offene und von Toleranz und Akzeptanz geprägte Diskussionskultur. Ich bin der Meinung, dass auch aufgrund von langjährigen und engen Freundschaften untereinander, trotz der aktuellen brisanten Ereignisse (Referendum und Präsidialsystem in der Türkei, Ditib-Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), in Lünen keine negativen Auswirkungen auf das hiesige Zusammenleben zu erwarten sind. Mein Plädoyer: Man sollte aufgrund von tagesaktuellen politischen Geschehnissen und Ereignissen die langjährigen freundschaftlichen und partnerschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen aus Deutschland und der Türkei nicht aufs Spiel setzen. Auf gar keinen Fall dürfen politische „Macht-Spiele“ auf dem Rücken der Personen mit türkischer Einwanderungsgeschichte ausgetragen werden.“

Zur Person: Kenan Küçük Kenan Küçük gehörte 1985 zu den Mitbegründern des Türkisch-Deutschen-Familien-Kulturvereins. Daraus entstand 1992 das Multikulturelle Forum (MKF) mit Sitz in Lünen, an dessen Spitze Küçük bis heute steht. Für sein soziales Engagement für die Belange von Migranten wurde er 2013 mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Küçük wurde am 15. Mai 1960 in der Kleinstadt Divrigi in der türkischen Provinz Sivas geboren. Seit 1980 lebt er in Lünen. Kenan Küçük ist verheiratet und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Einen türkischen Pass hat er nicht. Kenan Küçük ist kein Mitglied einer Moscheegemeinde.
Zur Person: Gürbüz Demirhan Gürbüz Demirhan ist seit 2010 Vorsitzender des Integrationsrates der Stadt Lünen. Demirhan wurde am 18. September 1975 in Lünen geboren. Er besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, einen türkischen Pass besitzt er nicht. Gürbüz Demirhan ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist Mitglied der Ditib-Selimiye-Moschee.
Zur Person: Dr. Aysun Aydemir Die Fragen unserer Redaktion zu ihrer Person beantwortete Dr. Aysun Aydemir nur in Teilen: „Sie ist 48 Jahre alt, verheiratet und seit Februar 2011 als Integrationsbeauftragte bei der Stadt Lünen beschäftigt“, teilte uns die Pressestelle mit. Nach früheren Angaben der Stadt wurde Dr. Aysun Aydemir in der Türkei geboren, von wo sie im Alter von sieben Jahren nach Deutschland kam.

 

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