Eigentlich sollten sie glücklich sein. Nico T. (27) und Jenny O. (30) haben sich gefunden: die große Liebe, endlich, nach den Enttäuschungen zuvor. Das gemeinsame Kind ist unterwegs. Jenny ist im siebten Monat schwanger. Sie erwartet einen Sohn. Ein Grund zu strahlen. Doch der Frau mit dem Babybauch und ihrem Freund steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. „Ich weiß nicht, was jetzt noch kommen soll“, sagt der 27-Jährige. Alles scheine sich gerade gegen sie verschworen zu haben, wie er meint: Probleme, wohin man schaut. Eine dunkle Zeit, durch die die beiden gerade gehen - und das im wortwörtlichen Sinne.
In der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Lünen sind die Lichter ausgegangen am 16. November um 14.30 Uhr. Nico T. und Jenny O. waren zu diesem Zeitpunkt nicht zuhause, sondern im 115 Kilometer entfernten Ahaus - aus traurigem Anlass. Jennys Mutter ist gestorben. Die beiden besuchten die Beerdigung, als die Stadtwerke in Lünen die Energielieferung an sie einstellten: Stromsperre - etwas, das in diesem Winter immer mehr Menschen droht, besonders solchen mit geringem oder ganz ohne Einkommen wie Nico T. und Jenny O.
50 statt 100 Euro mehr
Die Preise stiegen laut Statistischem Bundesamt im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich um 10,4 Prozent, manches - insbesondere auch Lebensmittel - wurde drei- bis viermal teurer in diesem vom Ukraine-Krieg geprägten Krisenjahr. Die Anhebung des Hartz-IV-Satzes um 3 Euro zum Jahreswechsel 2021/22 war da schnell verpufft. Und das ganze Jahr 2022 über blieb der Hartz-IV-Satz starr.
Partner in einer Bedarfsgemeinschaft wie Nico T. und Jenny O. erhalten aktuell jeweils 404 Euro (Alleinstehende 449 Euro). Ab 2023 werden sie jeweils 50 Euro mehr bekommen (Alleinstehende 53 Euro mehr). Seit Ende November ist diese Anhebung beschlossene Sache, genauso wie der neue Name für die Sozialleistung, die laut Bundesagentur für Arbeit schon die ganze Zeit über „ein würdevolles Leben“ garantieren soll: Bürgergeld statt Hartz IV. Dass ein Auskommen auch damit immer noch schwierig sein wird, mahnen Sozialverbände an. Der Sozialverband Deutschland hatte im Sommer eine Erhöhung um mindestens 100 Euro gefordert.

Ob Hartz IV oder Bürgergeld: Die Empfänger müssen Strom aus dem verfügbaren Regelsatz selbst bezahlen, anders als die Kosten für Miete und Heizung. Die Verbraucherzentrale rät: „Zahlungen für Strom, Heizung und Miete sollten immer Vorrang haben.“ Leichter gesagt als getan. Bei T. und O. hat das nicht geklappt. Dabei hätten sie sich durchaus bemüht, dem Verhängnis der Stromsperre zu entgehen, behauptet der werdende Vater.
Fünf Schritte bis zur Stromsperre
„Wir hatten eine Ratennachzahlung vereinbart“, sagt er beim Besuch in der Redaktion. Danach habe er nichts mehr vom Stromlieferanten gehört. Bis zu dem Tag, als er und seine Freundin nach der Beerdigung die Wohnungstür aufschließen und es nicht nur dunkel blieb. Es war auch warm geworden - zumindest im Tiefkühlfach. „Viele der aufgetauten Vorräte mussten wir wegwerfen“, sagt Tenbeitel: Ein Albtraum, wenn man ohnehin nicht viel hat. Inzwischen hat sich das Paar einen Rechtsbeistand genommen, der die Stadtwerke kontaktiert hat.
Die Stadtwerke Lünen möchten den konkreten Fall nicht kommentieren. Sprecherin Jasmin Teuteberg beschreibt aber das allgemeine Verfahren in fünf Schritten:
- Kunde zahlt den vertraglich vereinbarten Abschlag nicht.
- Kunde erhält die erste Mahnung nach gut fünf Tagen mit 14-tägiger Zahlungsfrist und dem Hinweis, dass nach Ablauf der gesetzlichen Frist (vier Wochen) die Versorgung eingestellt werden kann, wenn keine Zahlung erfolgt. (...)
- Reagiert der Kunde weder auf den Hinweis zur Abwendungsvereinbarung noch zahlt er den säumigen sowie den weiteren Abschlag für den Folgemonat, erhält er eine Mahnung für den Abschlag des Folgemonats und die Mahnstufe 2 für den ersten Monat. "In dem Schreiben weisen wir darauf hin, dass gemäß GVV eine Sperrung durchgeführt werden darf, wenn sich die Forderung auf mindestens 100 Euro beläuft und zwei Abschläge nicht gezahlt worden sind.“ (...)
- Erfolgt dann noch immer keine Reaktion in Form von Zahlung oder Kontaktaufnahme seitens des Kunden, erhält dieser eine Zahlungsaufforderung inklusive Sperrankündigung mit konkretem Datum (in der Regel: Datum des Schreibens plus acht Werktage). (...)
- Erfolgt auch darauf keine Reaktion, wird die Sperrung ausgeführt.
Die Stadtwerke-Sprecherin versichert: „Ein Kunde hat innerhalb dieses Prozesses mehrfach die Möglichkeit, eine Sperrung abzuwenden.“ Nico T. hält dagegen, dass es ja eine Vereinbarung gegeben habe. Inzwischen ist es für Ratenzahlung zu spät. „Die Wiederinbetriebnahme erfolgt nach vollständiger Bezahlung und ist gesetzlich entsprechend geregelt“, schreibt Teuteberg. Keine Ausnahme, wie die Verbraucherzentrale weiß: „Eine Energiesperre zu verhindern ist leichter zu bewerkstelligen als einen gesperrten Anschluss wieder freizuschalten.“
Das Ende einer Glückssträhne
Noch hielten sich Stromsperren auf dem Vorjahresniveau, sagt Teuteberg. „Wir halten aber nach wie vor vermehrte Zahlungsausfälle für möglich, wie dies auch zahlreiche andere Stadtwerke in Deutschland für möglich halten.“ Es bleibe zu hoffen, dass die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung einen deutlichen Anstieg von Zahlungsausfällen verhindern.
Um finanzielle Mehrbelastungen infolge der Pandemie sowie die Preissteigerungen durch den Ukraine-Krieg aufzufangen, hatten alle Hartz-IV-Bezieher im Juli eine Einmalzahlung von 200 Euro erhalten, den sogenannten Hartz-IV-Bonus. Die aktuelle Energiepauschale in Höhe von 300 Euro erhalten dagegen nur Menschen, die eigene Einkünfte haben, und sei es aus 450-Euro-Minijobs. Nico T. und Jenny O. gehören nicht dazu. Dabei war es bei der Arbeit, als die zwei sich kennenlernten.
Der gebürtige Lüner hatte, wie er erzählt, zweieinhalb Jahre als Auszubildender in einer Fleischerei in Ahaus gearbeitet, als er eine blonde Kundin traf, die ihn ins Herz traf: Jenny. Nachdem eine andere Beziehung, aus der er zwei Kinder hat, gescheitert war, hatte T. nicht mehr an die Liebe geglaubt. Und an beruflichen Erfolg sowieso nicht. Der junge Mann hatte eine Förderschule besucht und danach als Hilfsarbeiter gejobbt, unter anderem auf der Kirmes. Dass er überhaupt die Chance bekam, eine Ausbildung zu beginnen, habe er einem Besuch bei Verwandten im Westmünsterland zu verdanken und einer zufälligen Begegnung mit dem Fleischermeister, der an ihn glaubte. Die Glückssträhne hielt aber nicht lange. Die Fleischerei ging in Konkurs. T. zog es zurück ins Ruhrgebiet - mit Jenny. Aber ohne Arbeit.
Eskalation im Jobcenter
T. sagt, dass er im Sommer einige Wochen in stationärer Behandlung war nach einem Nervenzusammenbruch. Jetzt liegen seine Nerven erneut blank. Einen Tag nach der Stromsperre war er im Job-Center, um über seine verzweifelte finanzielle Situation zu sprechen. Tatsächlich kann das Jobcenter einem Leistungsempfänger ein Darlehen bewilligen, mit dem dann die Stromschulden bezahlt werden. Dazu wird dann jeden Monat ein gewisser Teil vom Regelsatz einbehalten. So weit kam das Gespräch in Lünen aber gar nicht. Stattdessen wurde es laut.

T. behauptet, beleidigt worden zu sein von einem Sachbearbeiter. Antonia Mega, die Sprecherin des Jobcenters, widerspricht. Der Lüner habe laut schimpfend das Büro verlassen, wo ein klärendes Gespräch stattfinden sollte. Fest steht: Das Jobcenter drohte ihm für den Wiederholungsfall ein Hausverbot an. Und er wiederum erstattete Anzeige wegen Beleidigung. Eine Eskalation, wie sie die Ausnahme sei, sagt Mega. Was die Verbraucherzentrale bundesweit beobachtet: „Verhandlungen mit dem Energieversorger und den Sozialleistungsträgern können unter Umständen schwierig und zeitintensiv werden“.
Wann in der 1,5-Zimmer-Wohung in Lünen wieder die Lichter angehen werden, ist offen. Die werdenden Eltern haben sich indes bemüht, an der Tafel Lebensmittel zu beziehen - ohne Erfolg: Aufnahmestopp bis zum Jahresende. „Einfach zum Verzweifeln“, sagt Nico T.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben in einer vorherigen Version des Textes mit Namen und Adresse über die Situation der beiden Lüner berichtet. Weil beide von Anfeindungen und Drohungen gegen ihre Person berichtet haben, haben wir uns entschlossen, die vollen Namen und die Adresse wieder zu entfernen.
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