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Politik-Professor Holtkamp: Lünens Blockade ist ein „interessanter Fall“
Politik in Lünen
Wenn Rat und Bürgermeister streiten wie in Lünen, freut sich kein Dritter. Davon ist Prof. Dr. Lars Holtkamp überzeugt. Die Bürgerschaft werde unter der vorläufigen Haushaltsführung leiden.
Lünen ist das, was Lars Holtkamp einen „interessanten Fall“ nennt. Und das will etwas heißen. Denn der 52-Jährige kennt sich aus mit Kommunen und ihren Problemen. Er ist einer der führenden Politikwissenschaftler Deutschlands, wenn es um lokale Politikforschung geht. An der Fernuniversität Hagen leitet der Hochschul-Professor mit Wohnsitz in Oberaden das Lehrgebiet Politik und Verwaltung. Die Stadt Lünen liefert derzeit Anschauungsmaterial, wie beides - Politik und Verwaltung - aufeinanderprallen können. Und sich dabei blockieren, wie Holtkamp sagt. „Das ist mit Nachteilen verbunden.“
Eigentlich sollte es 2022 eine Wende zum Besseren geben in Lünen. Danach hatte es zumindest noch im Dezember 2021 ausgesehen. Auch wenn der Lüner Schuldenberg weiter wachsen würde, wollte Kämmerin Bettina Brennenstuhl mit dem Jahresabschluss 2022 den verbotenen Zustand der Überschuldung beenden - nach sieben Jahren. 2015 war es, dass die Stadt an der Lippe den letzten Cent ihres einst 68 Millionen Euro zählenden Eigenkapitals aufgezehrt hatte. Damit war sie in den laut Kommunalrecht rechtswidrigen Zustand der formalen Überschuldung gerutscht. Ende 2022 - so die Perspektive - wollte die Stadt erstmals wieder die Nulllinie überschreiten. Das ist noch nicht unmöglich geworden. Doch anstatt diesem Ziel entgegenzugehen, herrscht erst einmal Stillstand in Lünen.
Wann Haushalt genehmigt wird, ist ungewiss
Der Haushalt ist weder genehmigt noch gültig beschlossen. Denn Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns hat den Beschluss beanstandet, den der Rat vorbehaltlich einer Änderung im Stellenplan getroffen hatte. Nur wenn es nicht zu der kurzfristig vom Bürgermeister mitgeteilten Beförderung eines Spitzenbeamten komme, gelte die Zustimmung, hieß es damals. Solche Bedingungen zu stellen, stehe dem Stadtrat aber gar nicht zu, hielt die Bürgermeister dagegen. Jetzt muss die Kommunalaufsicht - also der Kreis Unna - entscheiden. Ein Einlenken kommt für den Rat nicht infrage, wie bis auf die AfD alle Fraktionen - inklusive der GFL, deren Mitglied Kleine-Frauns ist - in einer gemeinsamen Erklärung am Freitag (4.2.) bekanntgaben.

Das Bild zeigt SPD-Fraktionschef Rüdiger Billeb (r.) beim Verlesen der gemeinsamen Erklärung von SPD, CDU, Grünen, FDP und GFL in der Sondersitzung des Stadtrates am Freitag (4.2.) im Erlebnisreich Campus. © Torsten Storks
„So lange das nicht geklärt ist, wird die Bezirksregierung Arnsberg auch nicht den Haushalt prüfen“, bestätigt Holtkamp. Für die nächste Zeit - ob Wochen oder Monate - muss die Stadt sich also mit einem vorläufigen Haushalt begnügen. Dass Beamte jetzt nach Hause geschickt werden, wie es in den USA der Fall ist, wenn ein gültiger Haushalt fehlt, wird nicht passieren. Allerdings müssen Bürgerinnen und Bürger mit Einschränkungen rechnen.
Worauf Lünerinnen und Lüner zurzeit verzichten müssen
Diese Nothaushalts-Phase bedeutet, dass Projekte auf die lange Bank geschoben werden müssen. Die Stadt darf nur solche Ausgaben entstehen lassen, zu denen sie rechtlich verpflichtet ist oder die zur Weiterführung bereits begonnener Aufgaben unbedingt notwendig sind. Die laufende Bewirtschaftung städtischer Gebäude und die Fortführung bereits begonnener Baumaßnahmen sind in Ordnung, Neubaumaßnahmen - ob Kita oder Spielplatz - und Neuanstellungen, die so noch nicht im Stellenplan vorgesehen waren - etwa für das Brambauer Zentrumsmanagement -, sind es nicht.
Nicht die vorläufige Haushaltsführung ist in den Augen des Experten etwas Besonderes, sondern dass sich nahezu der gesamte Stadtrat gegen den Bürgermeister gestellt hat. Das sei in NRW eher selten zu beobachten. „In NRW sind Kommunen konkurrenzdemokratisch geprägt“, sagt er, also durch den Wettbewerb zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion. Der Bürgermeister verstehe sich als Politiker und nicht als jemand, der über dem Parteienstreit stehe, wie es in Baden-Württemberg in der Regel zu beobachten sei. „Wie im Lüner Fall ein Kompromiss aussehen könnte, kann ich mir nicht ausmalen“, sagt Holtkamp.
Abwahl des Bürgermeisters oder Entsendung des Staatskommissars?
„In der Regel spielen viele persönliche, aber auch parteipolitische Dinge eine Rolle in solchen Konflikten.“ Die ließen sich nicht von außen lösen. Einen Mediator, der Stadtrat und Bürgermeister wieder zusammenführe, gebe es nicht. Und die Bestellung eines Staatskommissars, der - wenn gar nichts anderes mehr geht - in Vertretung des Rates die Verantwortung übernimmt, werde sich niemand wünschen - nicht nur, weil das dem Wählerwillen widerspricht. „Viermal gab es das bereits in NRW“, stets sei das mit Steuererhöhungen einhergegangen. Die Stadt Lünen hat indes seit 2015 nicht mehr an der Steuerschraube gedreht.
Und was ist, wenn sich Rat und Bürgermeister gar nicht mehr zusammenraufen sollten zum Wohle der Stadt? Im Extremfall wäre es möglich, die Zusammenarbeit in der laufenden Legislaturperiode zu beenden - etwas, das ebenfalls nicht wünschenswert sei, wie der Politikwissenschaftler sagt, da es nicht nur weiteren Stillstand, sondern auch zusätzliche Kosten bedeutete. „Da unsere Bürgermeister von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt werden, können auch nur die Bürgerinnen und Bürger sie wieder abwählen vor Ablauf einer Amtszeit“, sagt Holtkamp. Zur Einleitung eines solchen Abwahlverfahrens bedarf es eines Bürgerentscheids oder eines von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Zahl der Ratsmitglieder gestellten Antrags und eines mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Ratsmitglieder zu fassenden Beschlusses.
Holtkamp hält etwas anderes für wahrscheinlich: Dass die Kommunalaufsicht die Beteiligten an einen Tisch holt zu einem ernsten Gespräch.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
