Nerma Kadiric: „Der Krieg zeigte mir Monster, aber auch Menschlichkeit“

© Stephanie Tatenhorst

Nerma Kadiric: „Der Krieg zeigte mir Monster, aber auch Menschlichkeit“

rnAls Kind geflüchtet

Nerma Kadiric war sieben Jahre alt, als sie mit Mutter und Schwester aus Bosnien fliehen musste. Die Bilder aus der Ukraine wecken nun unzählige Erinnerungen in ihr. Doch sie macht auch Mut.

Lünen

, 14.03.2022, 05:20 Uhr / Lesedauer: 4 min

Es ist eine Mischung aus Entsetzen, Traurigkeit und Wut, mit der Nerma Kadiric jeden Tag die Nachrichten schaut. „Das, was in der Ukraine gerade passiert, ist genau dasselbe, was uns Bosniern angetan wurde“, sagt die 37-jährige Lehrerin am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. „Es macht mich einfach traurig zu sehen, dass die Menschheit nichts von der Geschichte gelernt zu haben scheint.“

Es sind die angsterfüllten und traurigen Blicke der Kinder, die Nerma Kadiric besonders nahe gehen. Sie weiß genau, wie sich diese Kinder fühlen. Sie war sieben Jahre alt, als der Balkankrieg ihr den Vater, das Zuhause, die Kindheit nahm. „Das Leben dieser Kinder wird nie wieder so sein, wie es früher war. Das nimmt mich besonders mit.“ Und noch etwas sieht sie auf den Bildern: „Die Taschen, die vereinzelten Taschen der Menschen auf der Flucht. Wie ein ganzes Leben auf eine einzige Tasche reduziert werden kann - wie bei uns damals.“

Von langjährigen Arbeitskollegen verhaftet

Nermas Familie lebte in Prijedor, einer Stadt, in der Bosnier und Serben ganz normale Nachbarn waren - bis der Krieg kam. Im Mai 1992 wird die Stadt über Nacht angegriffen und eingenommen. Die bosnischen Männer werden sofort getötet - oder in Konzentrationslager gebracht. Nermas Vater ist stadtbekannter Polizeikommissar. „Er wurde von seinen nun militarisierten serbischen Arbeitskollegen bei uns zu Hause abgeholt und zum Konzentrationslager Omarska gebracht.“

Nerma erlebt die Abholung mit. „Ich weiß noch, wie ich mich an ihm festgeklammert und hysterisch geweint habe. Das letzte, was er meiner Schwester und mir sagte, war, dass er nur zur Arbeit fahren muss, dass er bald wieder nach Hause kommen würde, und dass er uns lieb hatte. Das war das letzte Mal, das ich meinem Vater gesehen habe.“

Alles, was Nerma Kadiric von ihrem Vater blieb, sind einer seiner Ringe und sein letzter Brief aus dem Konzentrationslager Omarska.

Alles, was Nerma Kadiric von ihrem Vater blieb, sind einer seiner Ringe und sein letzter Brief aus dem Konzentrationslager Omarska. © Stephanie Tatenhorst

Sein bester Freund, ein Serbe, kann aber einen Brief und die Ringe aus dem KZ schmuggeln. „Das ist alles, was ich noch von meinem Vater habe“, sagt Nerma Kadiric mit Tränen in den Augen. In dem Brief nimmt der Vater Abschied. „Er schreibt uns, wir sollten weiter so lieb sein - und meiner Mutter, dass sie nicht vor uns weinen soll, wenn ihm etwas passieren sollte.“

„Es sind nicht die Menschen, die den Krieg wollen“

Der Brief ist inzwischen vergilbt, das Papier ganz dünn geworden. „Ich hab immer Angst, dass er zerreißt“, sagt Nerma Kadiric, als sie ihn wieder vorsichtig faltet und in die Klarsichthülle schiebt. Dass sie den Brief überhaupt hat, und noch viel mehr, ist Serben zu verdanken. „Das sollten doch die Feinde sein“, sagt Nerma Kadiric kopfschüttelnd. „Der Krieg hat mir zwei Dinge gezeigt: Monster - und Menschlichkeit.“ Denn dass Nerma Kadiric, ihre Schwester und Mutter noch leben, verdanken sie tatsächlich Serben.

Nach der Verhaftung des Vaters leben sie in „Dauerangst und Anspannung. Wir mussten weiße Armbinden tragen - und überall gab es Scharfschützen. Wir waren ein leichtes Ziel.“ Also gehen sie selten nach draußen, verschanzen sich im Keller. Nachts gehen erst Sirenen, dann die Angriffe los. „Mit der Zeit wurde das Essen knapp, wir hatten kein Strom mehr, Wasser wurde knapp, medizinische Versorgung war nicht vorhanden, denn die ganze Gesellschaft kollabierte und man konnte nirgendswo was kaufen.“

Noch versucht die Mutter, den Vater über Beziehungen zu retten, doch vergeblich. Schließlich warnt der Freund des Vaters, dass die Namen der Familie auf einer Liste zur Deportation ins KZ stehen. Hektisch beginnt die Mutter, für die Flucht zu packen. „Dass sie da an unsere Ausweise und Papiere dachte, ist für mich unvorstellbar“, sagt Nerma Kadiric. Kleidung und Spielzeug bleiben zuhause. Drei Tage später kommen wirklich serbische Soldaten zum Haus, doch da sind Mutter und Töchter schon auf der Flucht.

Der Hund läuft den Flüchtenden hinterher

Die serbischen Nachbarn begleiten sie im Bus zur Grenze, um sicher zu gehen, dass ihnen nichts passiert. „Die haben dabei ihr eigenes Leben riskiert“, weiß Nerma heute. Damals will sie nicht ohne ihren Vater gehen - und auch Hund Rocky, den sie „von Papa zum Geburtstag bekommen“ hatte, muss zurückbleiben. „Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie er neben dem Auto, in dem wir zum Busbahnhof fuhren, ganz lange hergelaufen ist, bis er es nicht mehr schaffte.“ Doch trotz ihrer erst sieben Jahre versteht sie, warum das alles sein muss: „Meine Mama hat uns klar und deutlich gesagt, dass wir sonst getötet werden würden.“

Das Foto auf dem Ausreisevisum nach Schweden zeigt die damals achtjährige Nerma. „Dieser leere Blick“, sagte Nerma Kadiric heute schaudernd. Für die Flucht musste sie ihre hüftlangen Haare abschneiden. Ein heftiger Schritt, denn der Vater hatte das nie erlaubt und sich stets um das Haar der Tochter gekümmert.

Das Foto auf dem Ausreisevisum nach Schweden zeigt die damals achtjährige Nerma. „Dieser leere Blick“, sagte Nerma Kadiric heute schaudernd. Für die Flucht musste sie ihre hüftlangen Haare abschneiden. Ein heftiger Schritt, denn der Vater hatte das nie erlaubt und sich stets um das Haar der Tochter gekümmert. © Stephanie Tatenhorst

Über Kroatien soll es nach Slovenien gehen, wo der Onkel lebt. Doch dessen Telegramm, das die Grenzüberquerung erlaubt hätte, wurde beim Drucken beschädigt. „Die UNPROFOR hat uns dann geholfen, ein neues Telegramm zu beantragen, was sieben Tage dauern sollte“, weiß Nerma. Da waren es wieder Serben, die Nerma, der Schwester und Mutter halfen.

„Den herzlichen Empfang dieser Menschen werde ich nie vergessen. Das ganze Dorf hat uns mit offenen Armen aufgenommen, uns Essen und Unterkunft gegeben - uns Sicherheit gegeben.“ Sie verstecken sie vor dem Militär auf einem Bauernhof. „Der alte Bauer hat mich auf dem Traktor mitgenommen und ich durfte die Tiere füttern. Da konnte ich für ein paar Tage wieder Kind sein“, sagt Nerma.

Humanität ist immer präsent

Diese Erfahrung zeigte ihr mehr als irgendwas anderes, „dass die Menschen selbst nie diejenigen sind, die Krieg wollen, und dass die Humanität selbst in solchen Situationen präsent ist.“ Dann geht die Flucht weiter, und wird zur Odyssee. Slovenien machte zwischenzeitlich die Grenzen für bosnische Flüchtlinge dicht, doch illegal kommen die drei über die Grenze. Sechs Monate bleiben sie beim Onkel, der insgesamt neun Geflüchtete in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung unterbringt. Dann kommt ein begeisternder Brief der ebenfalls geflüchteten Tante aus Schweden an, wo die Zuflucht gefunden hat. Da entscheidet auch Nermas Mutter, weiter nach Norden zu ziehen.

Traumatisiert in neuer Heimat angekommen

Nach insgesamt anderthalb Jahren Flucht kommt Nerma mit ihrer Familie schließlich schwer traumatisiert im småländischen Gislaved an, wo sie neue Wurzeln schlagen. Erst durch ihren Mann kommt sie viel später der Liebe wegen nach Deutschland. „Damals habe ich nicht gesprochen, ich“, betont Nerma Kadiric, wenn sie sich an die Zeit als Achtjährige erinnert. „Und ich habe meine Mutter nie losgelassen.“

Sie bekam professionelle Hilfe, und auch viel Nächstenliebe zu spüren. „So viele unbekannte Menschen wollten uns helfen, mit Klamotten, mit übersetzen, mit einer Unterkunft. Ich fühlte mich wieder sicher.“ Ein Gefühl, dass sie während ihrer Flucht nur spürte, „sobald ich ein Rotes Kreuz oder blaue Helme sah.“

Deshalb spendet sie jetzt auch. „Das ist meine Pflicht als Mensch“, sagt sie und ergänzt: „Uns wurde damals so geholfen, ich habe mich so gefreut, wenn ich etwas bekam. Das kann ich jetzt zurückgeben.“ Den jetzt Flüchtenden kann sie nur eins raten: „Die Hoffnung und den Glauben an ein besseres Morgen und die Menschheit nicht aufzugeben. Hilfe wird sie an jeder Ecke erwarten. Hilfe, die ihnen erlauben wird, ihr Leben langsam, aber sicher wieder aufzubauen.“

Das schaffte auch Nermas Familie. „Meine Mama hat meiner Schwester und mir immer gesagt, dass wir keine Opfer, sondern Überlebende sind. Und wenn man durch die Hölle gegangen ist und überlebt hat, dann weiß man Kleinigkeiten im Leben zu schätzen.“