Vom Bergweg in Lünen-Gahmen aus, etwa auf Höhe des Hauses 154, kurz vor der Ortsgrenze nach Dortmund-Brechten, fällt der Blick ohne Hindernisse auf ein Naturdenkmal mitten auf dem Acker, das die Menschen seit mehr als 200 Jahren bewegt: die Napoleonsbuche. Wie lange das wohl noch so sein wird in Zeiten des Klimawandels, warum der Name des Baums in die Irre führt, und andere Fragen beantworten wir hier.
Wie groß ist die Napoleonsbuche?
Der Stammumfang misst nach Angaben des Kreises Unna, der den Baum als eines von kreisweit rund 480 Naturdenkmälern führt, 5,20 Meter. Er ist 18 Meter hoch. Und der Durchmesser der Baumkrone beträgt rund 14 Meter. Zum Vergleich: Die sogenannte Bavaria-Buche aus Eichstätt in Oberbayern, die immer wieder als schönster Baum Deutschlands bezeichnet wurde, maß 22 Meter Höhe, hatte einen Stammumfang von 9 Metern und einen Kronen-Durchmesser von 30 Metern. Der größte Unterschied zwischen den beiden Rotbuchen ist aber ein anderer: Die Bavaria-Buche gibt es nicht mehr. Ein Sturm hatte ihr 2013 den Todesstoß gegeben. Die Napoleonsbuche lebt dagegen nach wie vor, wenn auch mit Einschränkungen - nicht nur altersbedingten.
Wie geht es der Napoleonsbuche?
„In diesem Jahr ein bisschen besser“, sagt Paul Pawlowski 2023. Er ist als Anwohner des Bergwegs so etwas wie der nächste Nachbar des Baums. Seitdem er denken kann, war die Buche da. War es für ihn früher unvorstellbar, dass das einmal nicht mehr so sein könnte, hat er sich inzwischen damit abgefunden, dass die Tage des Ausnahmebaums gezählt sind. „Vielleicht noch zehn Jahre“, meint Pawlowski. Dabei tun er und die Fachleute der Umweltbehörde des Kreises Unna schon eine Menge für den angeschlagenen Baum, der in den zurückliegenden Jahren sehr unter der Dürre in Folge des Klimawandels gelitten hat: ein Schicksal, das er mit anderen Buchen landauf, landab teilt.
2019 hatte der Kreis Unna einen Bewässerungswagen geschickt: ein Tropfen auf dem heißen Stein. Seit 2020 arbeiten Paul Pawlowski und der Kreis zusammen, um den Durst des großen Baums zu stillen. Pawlowski hat zum Bewässern einen Schlauch von seinem Haus zu der Buche verlegt, und der Kreis zahlt für das dorthin gepumpte Wasser: „2022 waren das 180.000 Liter“, sagt Pawlowski. 2023 weniger, weil der Sommer sehr nass war. „Das tat der Buche gut, sie hat sich etwas erholt.“ Nicht nur von der Dürre.
2022 hatte ein Sturm an der Nordseite einen großen Ast abgerissen und hat eine Große Wunde im Stamm hinterlassen: ein Einfalltor für tödliche Pilze.

Woher hat die Napoleonsbuche ihren Namen?
Die Völkerschlacht bei Leipzig fand vor 210 Jahren statt: vom 16. bis 19. Oktober 1813, mit weit über 500.000 Soldaten sowie mehr als 90.000 Toten und Verwundeten eine der größten und blutigsten Schlachten der europäischen Geschichte. Sie brachte den Verbündeten Österreich, Preußen, Russland und Schweden den Sieg über Napoleon. Auf dem fluchtartigen Rückzug nach Westen soll Napoleon mit den Resten seiner Grande Armée durch Gahmen gekommen sein. In der Nähe der Buche habe er sein Pferd in einem Tümpel getränkt und sei dann durch den charakteristischen Doppelstamm des Baums hindurchgeritten. Eine Sage, an deren historischer Wahrheit, der ehemalige Lüner Stadtarchivar Fredy Niklowitz zweifelt. Auf seiner Flucht sei Napoleon durch Erfurt, Fulda, Hanau und Mainz gekommen, aber nicht durch Gahmen.
Und selbst wenn der Kaiser in Gahmen gewesen wäre: Durch die Stammgabelung hätte er nicht hindurchreiten können. „Der Baum wäre damals gerade einmal 60 Zentimeter hoch gewesen“, sagt der Lüner Baumexperte Jochen Heinrich. Er selbst hat eine andere Theorie für den Namen. Napoleon sei auf zeitgenössischen Bildern gerne breitbeinig dargestellt worden. „Genauso wie der Baum.“
Dass die Buche nachweislich besonders groß ist, ihr Namensgeber indes ungewöhnlich klein war, stimmt indes nicht wie der deutsche Historiker Thomas Schuler festgestellt hat. Mit 1,68 Metern Körpergröße habe der französische Kaiser, der Europa umkrempelte, exakt die Durchschnittsgröße eines mitteleuropäischen Mannes vor gut 200 Jahren gehabt. Heute liegt sie bei 1,79 Metern.
Was hat die Gahmener Napoleonsbuche mit dem Weltfrieden zu tun?
Leider wenig. Aber immerhin ist sie so etwas wie eine Botschafterin dafür geworden. Das kann sie Jochen Heinrich verdanken. Der hatte den markanten Baum mehrfach fotografiert und die Fotos auf der Seite des Lüner Arbeitskreises für Umwelt und Heimat veröffentlicht. Dort hatten Mitarbeiter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2012 die Aufnahmen gesehen und waren beeindruckt.
Eine der Aufnahmen der ineinander greifenden Stämme der Zwillingsbuche wählten sie aus als Titelbild für eine englischsprachige Broschüre für Entwicklungshelfer auf der ganzen Welt, die das BMZ zusammen mit dem Zivilen Friedensdienst und dem Deutschen Institut für Menschenrechte herausgebracht hat. Der Titel lautet: „Connecting Human Rights and Conflict Transformation Guidance for Development Practitioners“, zu Deutsch: „Verknüpfung von Menschenrechten und Konflikttransformation. Eine Anleitungen für Entwicklungshelfer“. Dass Frieden nur möglich ist, wenn Menschenrechte gewahrt werden - das eine also nicht ohne das andere funktioniert - , symbolisieren die beiden Baumstämme, die eins geworden sind.
Wie ist der besondere Wuchs der Napoleonsbuche zu erklären?
Das lässt sich wohl nie klären. Dabei gibt es durchaus eine Theorie. Fredy Niklowitz, Wilfried Heß und Dr. Widar Lehnemann haben sie in dem Buch „Hundert und eine Erzählung“ über Sagen und Geschichten aus dem Raum Lünen aufgegriffen. Sie zitieren dazu den 2010 verstorbenen Brechtener Heimatforscher Friedrich Rabenschlag: „Es ist anzunehmen, dass zwei einzelne Buchen in einem Abstand von circa 1,50 Metern gepflanzt und dann in jungen Jahren durch einen Eingriff zusammengeführt (gedreht?) wurden.“ Solche Eingriffe seien einst nicht selten gewesen. Sie dienten laut Rabenschlag der Ausgestaltung der Grenzlandwehre, die so besonders dicht und undurchdringlich wurden. Das Ergebnis passt zumindest: Die beiden Stämme der Napoleonsbuche sind im Laufe der Zeit im Mittelbereich so fest zusammengewachsen, dass der Eindruck eines einzigen Stammes entstanden ist. Dass das tatsächlich absichtsvoll passiert ist, halten Niklowitz, Heß und Lehnemann aber für unwahrscheinlich. Denn laut einer Karte aus dem Jahr 1827 stand die Buche abseits einer Landwehr am Rande eines Wäldchens. Eine gezielte Veränderung sei wohl „weniger wahrscheinlich“.

Wie sind die Chancen für Rotbuchen in Zeiten des Klimawandels?
Die Rotbuche - ihr lateinischer Name lautet Fagus sylvatica - galt unter Forstexperten noch vor wenigen Jahren als konkurrenzkräftige, weitgehend angepasste Baumart, die mit den Herausforderungen gut zurechtkommen würde. Sie habe ein hohes Anpassungspotenzial, hieß es: ein Grund, warum die Rotbuche als bisher einzige Baumart bereits zum zweiten Mal zum Baum des Jahres in Deutschland gewählt worden war: 1990 und 2022. Während der „Wissenschaftlichen Buchentagung 2023“ in Würzburg, zu der die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft eingeladen hatte, wurden Sorgen laut: Die zurückliegenden, klimatischen Extremjahre hätten gezeigt, dass auch die Rotbuche starke Schädigungen zeigt und in einigen Bereichen Deutschlands bereits jetzt an ihre Grenzen stoße.
Wächst die Napoleonsbuche eigentlich noch?
An Höhe schon seit einigen Jahren kaum noch. Der Spalt zwischen den beiden Stämmen hat sich aber weiter verengt. „Oder ich bin dicker geworden“, sagt Nachbar Paul Pawlowski und lacht. Fest steht aber: Ein Pferd - ob mit Napoleon oder wem auch immer - passt schon lange nicht mehr hindurch.
Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist zum ersten Mal am 10. Oktober 2023 erschienen. Wir haben ihn neu veröffentlicht.


Apfelbaum spielt verrückt: Lüner Apfelexperte Papius: „Das habe ich noch nicht gesehen“
Gelb leuchtende Borken in der Natur: Flechte ist ein Grund zum Freuen und Fürchten
Nacktschnecke im Tiger-Dress ist der Kamasutra-Meister der Weichtiere