Seit der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März regt sich breiter Protest in der Türkei. In Istanbul demonstrierten seitdem Hunderttausende. Auch in deutschen Städten finden Kundgebungen statt. Offiziell wird İmamoğlu Korruption und Terrorismus vorgeworfen, viele politische Beobachter sehen in seiner Festnahme jedoch ein politisch motiviertes Vorgehen, da er als starker Herausforderer Erdoğans bei der Wahl 2028 gilt.

Die CHP, die Partei İmamoğlus, die die meisten der Proteste organisiert, hat jüngst angekündigt, weiterhin zu großen Demonstrationen aufzurufen: jeden Mittwoch in Istanbul sowie an jedem Wochenende an verschiedenen Orten im Land.
Lüner mit türkischen Wurzeln
Eine erste Annäherung an die Frage, wie die türkischstämmigen Bewohner Lünens all das wahrnehmen und bewerten, kann ein Blick auf die Ergebnisse der türkischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2023 liefern: Die 732.000 Menschen, die in Deutschland gewählt haben, haben überdurchschnittlich stark pro Erdoğan gestimmt, insbesondere diejenigen im Ruhrgebiet und Münsterland.
Erdoğan: „lediglich größeres Übel“
Mustafa Kurt sitzt für Die Linke im Lüner Stadtrat. Er selbst hat einen kurdischen Hintergrund und deswegen einen dritten Blickwinkel auf die derzeitige Lage in der Türkei. Angeführt werden die Proteste von der CHP, der Partei des inhaftierten Ekrem İmamoğlu. Sie gilt laut Kurt als die links-liberal-grüne Partei in der Türkei, sei laut Kurt jedoch auch elitär und rassistisch gegenüber der kurdischen Minderheit. Kurt wirft der CHP eine Doppelmoral vor, da sie geschwiegen habe, als Erdoğan zahlreiche kurdische Bürgermeister illegitim absetzen ließ, wie nun auch İmamoğlu.

Der Groll der Protestierenden richte sich gegen Erdoğan und seine Partei AKP, die als konservativ, autoritär und kurdenfeindlich gilt, so Kurt. Er schätzt, dass 70 Prozent der in Lünen lebenden Türkeistämmigen die AKP oder die rechtsextreme Partei MHP wählen würden. Diese Menschen würden die aktuellen Proteste nicht gutheißen und den Anschuldigungen gegen İmamoğlu Glauben schenken. Die MHP soll dem nationalistischen Verein „Graue Wölfe“ nahestehen, der auch in Lünen Räume hat.
Der Lüner Mustafa Kurt hält die Proteste für legitim, denn er handle willkürlich und undemokratisch. Hoffnung auf Veränderungen habe er aber wenig, denn die Anhängerschaft Erdoğans sei ebenso gefestigt wie sein Machtapparat, so Kurt. Gegen ihn selbst liege in der Türkei ein Haftbefehl vor – aufgrund von politischen Meinungsäußerungen, die er in sozialen Medien getätigt habe.
„Leben in Lünen wichtiger“
Ferhat Aydin ist Stadtratsmitglied für die SPD. Er legt einen anderen Fokus auf die Situation. Er sei durch familiäre, freundschaftliche und ehrenamtliche Beziehungen in der türkischen Community Lünens gut vernetzt – „genauso aber mit der Lüner Community“, betont er. Aus seiner Sicht ist Lünen eine Stadt mit einer besonders gelungenen Integrationsgeschichte. Nach seinen Beobachtungen sorgen sich die Türkeistämmigen in Lünen weniger um die Lage in der Türkei als um ihr Leben in Lünen sowie darum, dass mittlerweile „die verfassungsfeindliche AfD von einem Viertel der Menschen gewählt wird und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist“.
Die Wahlbeteiligung an der Türkei-Wahl 2023 in Deutschland lag bei unter 50 Prozent. Aydin sieht also ein gewisses Desinteresse der Menschen an der Politik in der Türkei.
Für die Zukunft hofft Aydin auf eine Annäherung der Türkei an die europäischen Werte, fügt aber auch an: „Schimpfend und belehrend werden wir die demokratischen Kräfte in der Türkei nicht stärken können.“ Den Menschen in der Türkei wünscht er „viel Kraft in dieser schwierigen Phase“.
Der Lüner Soziologe und Politikwissenschaftler Ümithan Yağmur ist Vorsitzender des Integrationsrats Lünen. Er ordnet die aktuelle Lage in der Türkei so ein, dass dort zurzeit das Volk sein legitimes Demonstrationsrecht wahrnimmt. Es freut ihn vor allem, dass sich dabei viele junge Menschen in der Türkei politisch engagieren.

Yağmur hofft, dass das Justizsystem der Türkei noch zu gerechten Urteilen über die Anschuldigungen kommt, die die Massendemonstrationen in Gang gesetzt haben. Als Vorsitzender des Integrationsrats sei es ihm wichtig, abseits der politischen Situation in der Türkei für ein integratives Zusammenleben aller Herkunftsgruppen in Lünen zu werben – diese Felder seien nicht zu vermischen, so Yağmur. In der türkeistämmigen Community Lünens bestehe ein Meinungsspektrum von konservativ bis links und natürlich spreche man unter Vertrauten über die Lage in der Türkei, aber im Vordergrund stehe ihr Leben in Lünen, ordnet er ein.
Selahattin Tatma ist seit diesem Februar neuer Vorsitzender der Selimiye-Moschee in Lünen. Er sagt, dass innerhalb seiner Glaubensgemeinde die Politik in der Türkei eine untergeordnete Rolle spiele. „Natürlich reden die Menschen untereinander darüber, aber für uns als Gemeinde ist das kein Thema“, so Tatma.

Die Stadt Lünen verfügt über eine Integrationsbeauftragte, Dr. Aysun Aydemir. Auf unsere Fragen dazu, wie die in Lünen lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln die Situation in der Türkei wahrnehmen, verwies der Stadtsprecher darauf, dass „Vorgänge in der Türkei seitens der Stadtverwaltung Lünen weder kommentiert noch gedeutet werden können“.
Soziologische Einordnung
Auf der Suche nach einer weiteren einordnenden Stimme fragten wir auch bei Prof. Dr. Ahmet Toprak nach. Er ist Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule Dortmund. Er stellt zunächst klar, dass er keine konkreten Aussagen zu den türkeistämmigen Menschen in Lünen machen kann, da dies nicht Teil seiner Forschung ist und er in Dortmund lebt. Im Allgemeinen aber müsse man wissen, dass ein Großteil der in den 1960er- und 1970er-Jahren von der Türkei nach Deutschland eingewanderten Menschen aus Regionen stammt, die als AKP-Hochburgen gelten, etwa aus Zentralanatolien oder von der Schwarzmeerküste. Die politischen Einstellungen der Eltern würden tendenziell an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.
Hinzu komme, dass diejenigen Einwanderer aus eher links-liberalen Milieus der Türkei sich entsprechend ihrer Einstellung eher in Deutschland integrieren würden, eher ihre türkische Staatsbürgerschaft abgelegt hätten und somit gar nicht aus Deutschland heraus an der türkischen Wahl teilnehmen. Vor allem in den 1980ern eingewanderte Kurden, die in jedem Fall andere Parteien wählen als die als kurdenfeindlich geltende AKP, seien eine eher kleine Gruppe.
Dafür, dass sich in Deutschland lebende Menschen mit türkischen Wurzeln sehr zurückhaltend oder gar nicht zu der aktuellen politischen Situation in der Türkei äußern wollen, sieht Toprak zwei mögliche Gründe: „Die einen trauen sich nicht, sich kritisch gegenüber der Erdoğan-Regierung zu äußern, aus Angst vor Gängelung oder juristischen Konsequenzen für ihre Verwandten in der Türkei oder für sich selbst, sollten sie erneut in die Türkei reisen. Die anderen wollen sich nicht kritisch gegenüber Erdoğan oder positiv zu den aktuellen Massendemonstrationen äußern, weil sie in ihrer politischen Einstellung eher Erdoğan zugeneigt sind.“
