
© Michael Sulwessak / Privat
Kurzarbeit in Lünen: „Für nächsten Jahre finanziell und psychisch kaputt“
Arbeiten in der Pandemie
Kurzarbeit gibt es in der Pandemie bei vielen Betrieben. Lüner Mitarbeiter aus der Reise- und Cateringbranche berichten, wie sie seit fast einem Jahr sie in eine ungewisse Zukunft blicken.
Michael Sulwessak war vor der Pandemie Vollzeit-Beschäftigter in einem Lüner Reisebüro. Arbeitszeiten: 9.30 bis 18.30 Uhr, fünf Tage die Woche. Für seine inzwischen 3-jährige Tochter blieb da wenig Zeit. Seit einem Jahr ist der 38-Jährige aber inzwischen in Kurzarbeit und arbeitet täglich dreieinhalb Stunden aus dem Homeoffice.
„Die Zeit, die dann bleibt, verbringe ich mit meiner Tochter. Meine Partnerin arbeitet in der Pflege,“, erzählt er. Gerade, als die Kitas geschlossen waren, war die Kurzarbeit für ihn mehr Glück als Fluch.
Um die finanziellen Einbußen auszugleichen suchte sich Sulwessak einen Zweitjob: Einen Tag pro Woche macht er jetzt Verkehrserhebungen für die Deutsche Bahn. „Auch wenn ich die Zeit mit meiner Tochter sehr genieße, ist man auch irgendwann am Ende seiner Möglichkeiten angelangt“, sagt der Familienvater.
Wenn das Geld nicht für Essen reicht
Während viele Eltern kürzere Arbeitszeiten auch lockdownbedingt in die Familie investieren und sich im besten Fall finanziell gegenseitig ausgleichen, geht es Alleinstehenden deutlich schlechter - vor allem wenn sie gar nicht arbeiten können.
So wie eine Stolzenhoff-Mitarbeiterin, die ihren Namen hier aber nicht veröffentlicht sehen möchte. Sie ist 55 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines Auszubildenden, seit 30 Jahren Service-Kraft, rutschte von der Teilzeit in die Kurzarbeit und ist seit einem Jahr komplett zu Hause.
Miete und Strom trägt ihr Sohn von seinem Ausbildungsgehalt. „Ich habe Angst“, sagt sie. „Das ist eigentlich kein Leben mehr, das ist eine Katastrophe. Ich hoffe einfach, dass ich meinen Job behalte. Aber der Chef hat sich sehr für mich eingesetzt.“ Irgendwann werde man lustlos, verschiebe „eins aufs andere“, erzählt sie. „Ich war immer ein Temperamentbündel. Aber jetzt kann ich die Tage einfach nicht mehr füllen.“
Auch Thorsten Monique ist davon betroffen. Er war in den vergangenen elf Jahren für den Equipmentaufbau bei von Stolzenhoff ausgetragenen Veranstaltungen tätig. Seit nunmehr einem Jahr ist er coronabedingt in Kurzarbeit. Außer bei einigen kleinen Hochzeiten im vergangenen Sommer, die sich an einer Hand abzählen lassen, konnte Monique seinen Beruf über diese lange Zeit nicht ausüben.
„Ich bin ja nicht in der Position etwas zu verändern“, sagt der 47-Jährige. „Also helfe ich einem Kollegen bei der Gartenarbeit und versuche mich viel zu bewegen.“
Dabei fehlen ihm wegen des reduzierten Kurzarbeitergeldes 500 Euro pro Monat, so dass sich der Alleinstehende auch deutlich beim Essen einschränken muss. Auch wenn er versucht, zuversichtlich zu bleiben, gebe es aber durchaus „Momente, in denen alles sehr schwer fällt, es finanziell und psychisch schwer ist und man sich eine Perspektive wünscht“. Von „denen da oben“ komme in dieser Hinsicht eindeutig zu wenig.
1800 Lüner in Kurzarbeit
51 Lüner Betriebe hatten im Dezember 2020 für 300 Mitarbeiter Kurzarbeit beantragt. Im April 2020 waren es 440 Betriebe für 1800 Kurzarbeitende. „Aktuell gehen wir davon aus, wenn wir den Mittelwert aus den Erfahrungswerten nehmen, dass 250 Lüner Betriebe für rund 1800 Mitarbeiter Kurzarbeit beantragt haben“, sagt Ulrich Brauer, Pressesprecher Agentur für Arbeit Hamm.
„Kurzarbeit“ kann sich dabei sowohl auf reduzierte Arbeitszeiten wie auch auf Aussetzung der Arbeit beziehen.
Von den 800 Mitarbeitern, die die Firma Stolzenhoff als einer der größten Arbeitgeber in Lünen vor der Pandemie beschäftigte, sind 300 Festangestellte geblieben. Von diesen 300 sind 150 seit einem Jahr ohne Beschäftigung und müssen laut Bundes-Beschluss aus dem April 2020 mit 70 Prozent (77 Prozent mit Kinderfreibetrag) ihres vorherigen Lohnes auskommen. Ab dem siebten Monat gibt es 80 Prozent (87 Prozent mit Kinderfreibetrag)
Dringender Wunsch nach einer Perspektive
„Für uns ist der Vorhang runter gegangen“, beschreibt der Stolzenhoff-Betriebsratsvorsitzende Lars God die Lage. „Das bisschen Mittagstisch und To-Go-Geschäft schafft man mit zehn Prozent der Belegschaft.“ Während der vergangenen zwölf Monate war er erster Ansprechpartner für die Mitarbeiter.
„Viele quälen Existenzängste. Die Banken machen inzwischen Druck und die Leute haben Schlafstörungen. Sie sind mürbe und auch mental runter. Gerade jetzt ist die Situation sehr dramatisch.“ Dabei drängten er und die anderen Mitarbeiter gar nicht auf Lockerungen im Bereich der Großveranstaltungen, sondern wünschten sich lediglich eine Perspektive.
Über das weitere Vorgehen, Großveranstaltungen betreffend, soll erst in der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März entschieden werden. Am 22. Februar wurde ein von Experten aus zehn relevanten Wissenschaftsbereichen erarbeitetes Konzept veröffentlicht: „Schrittweise Rückkehr von Zuschauern und Gästen: Ein integrierter Ansatz für Kultur und Sport“, das der kommenden Konferenz als Entscheidungsgrundlage dienen könnte.
„Die Novemberhilfen sind nach wie vor nicht angekommen“, berichtet God weiter. „Wir hatten zahllose SGB II-Anträge mit sehr langen Wartezeiten und viele Privatinsolvenzen, weil die Leute die Kredite nicht mehr bedienen können. Wir alle verbringen die Coronazeit in Angst. Wir sind ins künstliche Koma verlegt worden und jetzt wird uns auch noch der Sauerstoff genommen.“ Betriebsrats-Kollege Thorsten Weber pflichtet ihm bei: „Die Menschen werden aktuell vergessen. Die sind für die nächsten Jahre finanziell und psychisch kaputt.“
In und um Stuttgart aufgewachsen, in Mittelhessen Studienjahre verbracht und schließlich im Ruhrgebiet gestrandet treibt Kristina Gerstenmaier vor allem eine ausgeprägte Neugier. Im Lokalen wird die am besten befriedigt, findet sie.
