Mehr als drei Stunden lang hat der Streit im Lüner Ratssaal um die vierte Beigeordnetenstelle gedauert. Am Ende haben sich Rüdiger Billeb (2. v
. l.) von der SPD und Christoph Tölle (4. v.l.) von der CDU mit ihren Fraktionen durchgesetzt.

Mehr als drei Stunden lang hat der Streit im Lüner Ratssaal um die vierte Beigeordnetenstelle gedauert. Am Ende haben sich Rüdiger Billeb (2. v. l.) von der SPD und Christoph Tölle (4. v. l.) von der CDU mit ihren Fraktionen durchgesetzt. © Goldstein

Streit um 4. Beigeordnetenstelle in Lünen: Kungelei und Überlastung im Rathaus

rnVier Knackpunkte

Trotz Protests: Lünen bekommt die vierte Beigeordnetenstelle und einen neuen Dezernats-Zuschnitt. Vier Knackpunkte aus der leidenschaftlichen Diskussion vor der Abstimmung werden bleiben.

Lünen

, 18.09.2022, 15:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Am Tag eins nach einer der umstrittensten Entscheidungen des Stadtrates in dieser Wahlperiode ist im Rathaus das aufgeregte Stimmengewirr im großen Saal verstummt. Die 100 Menschen, die sich noch am Vorabend auf der Tribüne und vor den Türen gedrängt hatten, sind verschwunden. Fast könnte man meinen, es sei wieder die übliche geschäftige Ruhe eingekehrt. Ein Irrtum.

Denn irgendwo in dem Büroturm werden an diesem Freitag (16. 9.) Ausschreibungen auf den Weg gebracht: die Einladung, sich auf drei leere Stellen im Verwaltungsvorstand zu bewerben, darunter auch die am Vorabend mit knapper Mehrheit und unter großem Protest beschlossene vierte Beigeordnetenstelle: der Beginn einer Umstrukturierung der Verwaltung, vor der sich viele der rund 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fürchten - den Beteuerungen der Großen Koalition zum Trotz.

Tölle: „Stadt soll Think-Tank bekommen, der auch umsetzt“

Es gehe nicht nur darum, die Leistungsfähigkeit der Stadtverwaltung zu steigern, sondern auch die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, hatte SPD-Fraktionschef Rüdiger Billeb“ am Abend betont: „Wir wollen ihnen nicht mehr Probleme bereiten als sie ohnehin schon haben.“ CDU-Fraktionsvorsitzender Christoph Tölle, selbst Betriebsratsvorsitzender bei der Postbank, versprach dem verunsicherten städtischen Personal ebenfalls: „Wir wollen ihnen nichts nehmen, sondern die Verwaltung exzellent aufstellen“. Die Stadt solle einen „Think-Tank“ bekommen, „der nicht nur Konzepte schreibt, sondern auch umsetzt“. Mit solchen Erfolgserlebnissen „macht der Job auch wieder mehr Spaß“.

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Spaß? Sabrina Delies vom Personalrat der Stadt schüttelt den Kopf. Sie hatte auf der Tribüne verfolgt wie nach der geheimen Abstimmung 32 Ja-Stimmen für den Groko-Antrag ausgezählt wurden, drei mehr als erforderlich. „Jeder und jede von uns wird hier weiter sein Bestes geben“, sagt sie. Anerkennung und Wertschätzung fühlten sich aber anders an, ergänzt Betriebsratsvorsitzende Annette Wittemeier.

1. Knackpunkt: Stadtspitze contra Personalrat - das Problem der Mitbestimmung

Jahre lang war immer nur hinter vorgehaltener Hand zu hören, wie schlecht das Arbeitsklima im Rathaus sei. Spätestens seit März 2022 ist das auch öffentlich. Damals war der Personalrat vor das Verwaltungsgericht gezogen, nachdem - so der Vorwurf - der Bürgermeister veranlasst habe, dass eine Stellungnahme der Personalvertretung von der Homepage verschwand.

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Jürgen Kleine-Frauns hatte zuvor die Beförderung eines Spitzenbeamten durchsetzen wollte, ohne auf den Widerstand des damals noch geschlossen auftretenden Rates Rücksicht zu nehmen und den Personalrat einzubinden. Von „Machtspielen auf Kosten der Mitarbeiter“ sprach Stefan Radau vom Personalrat damals. Ein halbes Jahr später spricht er gar nicht - zumindest nicht im Rat.

Stefan Radau vom Personalrat der Stadt Lünen hat kein Rederecht bekommen.

Stefan Radau vom Personalrat der Stadt Lünen hat kein Rederecht bekommen. © Goldstein

Warum? Jürgen Kleine-Frauns rügte zwar, dass „das hier eine Einwohnerfragestunde und keine Mitarbeiterfragestunde ist“, antwortete dann aber doch mit Verweis auf die Gemeindeordnung auf diese Frage. Wenn es um Beigeordnete, also Wahlbeamte geht, sei der Personalrat nicht hinzuzuziehen Auch für den neuen Zuschnitt der Dezernate sei das nicht nötig. Es gehe schließlich „nur um die Aufgabenverteilung, nicht um die Änderung der Organisation des Hauses“. Warum er den Personalrat nicht zumindest im Vorfeld informiert hatte und warum es nicht die Möglichkeit gab, Radau während einer Sitzungsunterbrechung sprechen zu lassen, ließ Kleine-Frauns offen.

2. Knackpunkt: Groko contra Kleine - Kungeln statt an einem Strang ziehen?

Auf Einigkeit und Solidarität in Zeiten der Krise haben Ende der Woche - also fast parallel zur Lüner Ratssitzung - Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die EU und Kanzler Olaf Scholz die Bundesregierung eingeschworen. Was dort schwierig ist, scheint im Lüner Rat gerade unmöglich zu sein.

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Die Groko aus SPD und CDU und die kleineren Fraktionen hatten zum Jahreswechsel noch an einem Strang gezogen und sich im Etatstreit gemeinsam gegen den Bürgermeister gestellt - mit Erfolg. Spätestens seit dem Sommer ist Schluss damit: seit dem Alleingang der Groko in Sachen vierte Beigeordnetenstelle. Der machte den Beschluss des Rates aus dem Juli, möglichst schnell zwei Dezernatsleitungen auszuschreiben und zu besetzen, hinfällig. Denn nach der jetzt beschlossenen Neuanpassung der Aufgabenbereiche muss die Ausschreibung erneuert und auch für die neue vierte Stelle jemand gesucht werden. Eigentlich.

Kurz vor der Auszählung der Stimmen: Vertreter aller Fraktionen haben sich bei der Wahlurne eingefunden. Die Grünen hatten die geheime Abstimmung beantragt. Zuvor hatte die FDP namentliche Abstimmung gefordert, "damit man weiß, wer das gewollt hat", wie Karsten Niehues sagte.

Kurz vor der Auszählung der Stimmen: Vertreter aller Fraktionen haben sich bei der Wahlurne eingefunden. Die Grünen hatten die geheime Abstimmung beantragt. Zuvor hatte die FDP namentliche Abstimmung gefordert, „damit man weiß, wer das gewollt hat“, wie Karsten Niehues sagte. © Goldstein

Tessa Schächter (Grüne) ist sicher, dass der passende Kandidat längst gefunden ist und das neue Dezernat bereits für ihn zurecht geschneidert wurde. „Warum jetzt noch Geld für die Ausschreibung ausgeben, wenn SPD und CDU schon alles ausgekungelt haben“, fragte sie. Ihr Fraktionskollege Reiner Hohl sprach davon, dass die Groko kein Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen gehabt habe, sondern die Angelegenheit „Par ordre du mufti“ durchgesetzt habe. SPD-Fraktionschef Billeb verwies darauf, dass die Groko durchaus den Schulterschluss gesucht habe, die Indiskretion im Ältestenrat (erst die Berichterstattung dieser Redaktion hatte die Pläne öffentlich gemacht) aber gezeigt habe, dass keine Vertrauensbasis bestehe.

3. Knackpunkt: Arbeiten am Limit - wer Entlastung braucht und wer sie bekommt

2015, als er Bürgermeister wurde, habe die Stadtverwaltung 950 Beschäftigte gehabt, sagte Jürgen Kleine-Frauns. Jetzt seien es 1100. „Im Verwaltungsvorstand hat sich seitdem aber nichts geändert“, obwohl auch für ihn und die Beigeordneten die Fülle der Aufgaben deutlich gestiegen seien. Der für eine zweite Amtszeit gewählte Erste Bürger Lünens stellt selbst fest: „Wir brauchen eine stärkere Führung.“ Davon werde die ganze Belegschaft profitieren.

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Die stärkste Entlastung werde der Technische Beigeordnete Arnold Reeker und der Bürgermeister selbst erfahren. Reeker wird sich künftig allein auf die „notwendigen Aufgaben der Stadtplanung“ und auf „Vermessung, Vergabe, Straßenbau, Stadtgrün usw.“ konzentrieren können. Der wichtige strategische Bereich der Stadtentwicklung Klimaschutz und Mobilität wandert dafür in das neue Dezernat. Und Kleine-Frauns braucht sich nicht mehr mit den Bürgerdiensten und der öffentlichen Ordnung zu beschäftigen, sondern nur noch mit Repräsentation und „aktuellen Tagesereignissen sowie medialen Ansprüchen“.

„Ich brauche dringend diese Entlastung“, sagte er. Denn die aktuellen Krisen, insbesondere die Energiekrise, forderten ihn extrem: „Wenn das Gas abgedreht wird, was machen die Menschen dann?“ Um sich darauf vorzubereiten, „braucht es einen freien Kopf.“

Christoph Tölle hatte Probleme der Stadtverwaltung skizziert: keine freien Termine im Bürgerbüro, ein Klimakonzept, das nicht umgesetzt wird, zu lange Wartezeiten auf Baugenehmigungen und, wie Reiner Hohl (Grüne) ergänzte, längst beschlossene Schulsozialarbeiterstellen, die bislang nicht ausgeschrieben wurden. Wie die zusätzliche Führungsposition da Abhilfe schaffen kann, blieb offen.

5. Finanzen am Abgrund: Welche Spielräume bleiben

Bettina Brennenstuhl, die bisherige Kämmerin und neue Hafenchefin von Dortmund, hatte zum Abschied allen Verantwortlichen eine Mail geschickt: ein Brandbrief mit dem Hinweis auf die fatale Finanzsituation mit riesigem Schuldenberg und galoppierenden Zinsen. Das beeinflusste die Groko und den Bürgermeister nicht in ihrem Votum: Wenn Lünen „einfach so weiter macht“, sagte Kleine-Frauns, „wird der Schaden viel höher“ als die 165.000 bis 200.000 Euro für die vierte Beigeordnetenstelle.

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