Migrationspaket

Geduldete Lüner leben in ständiger Angst: „Ich kann nicht schlafen“

Sie leben in permanenter Sorge, doch abgeschoben zu werden. Jetzt hat die Bundesregierung Erleichterungen für die sogenannten Geduldeten beschlossen. Zwei betroffene Lüner erzählen.

Lünen

, 14.07.2022 / Lesedauer: 4 min

Amanuel Tesfaye lebt seit 2016 in Lünen. Alle drei Monate, zu Beginn sogar jede Woche, muss er sich bei der Ausländerbehörde melden. Dort wird dem Äthiopier dann eine neue Duldung ausgestellt, eine sogenannte „Aussetzung der Abschiebung“, gültig für weitere drei Monate. Der Grund: „Ich schaffe es einfach nicht, einen Pass zu bekommen“, erzählt der 27-Jährige. Gekommen ist er ohne einen solchen Identitätsnachweis, nur mit Geburtsurkunde. Ausstellende Behörde eines Passes ist immer die jeweilige Botschaft des Landes, die im Fall von Tesfaye, in Berlin sitzt. „Schon zehn oder zwölf Mal war ich dort“, erinnert er sich. „Aber weil die äthiopische Regierung neu ist und weil es einen Konflikt zwischen zwei Regierungen gibt, haben sie dort keine Ahnung.“

Wegen der ständigen Unruhen in seinem Land ist er auch geflohen. Seit November 2020 nahmen die Konflikte in Äthiopien noch einmal neue Ausmaße an: Die Regierung der Region Tigray führt mit der Zentralregierung in Addis Abeba einen Kampf um die Vorherrschaft. Das Auswärtige Amt (AA) schätzt die Lage vor Ort als unbeständig ein. In verschiedenen Regionen des Landes finden derzeit Militäraktionen verschiedener bewaffneter Gruppen statt. „Es kommt überall im Land regelmäßig zu Demonstrationen und Unruhen, oft mit Todesopfern“, heißt es auf der Homepage des Auswärtigen Amtes.

Arbeitserlaubnis wurde entzogen

Amanuel Tesfaye spricht gut verständliches Deutsch. Er hat einen Kurs mit dem Zertifikat B1 bestanden. Das ist nötig, um zum Beispiel ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu bekommen. Von 2018 bis 2021 arbeitete er bei Remondis. Das ist auch mit einer Duldung nach drei Monaten möglich. Die Entscheidung liegt dabei bei der Ausländerbehörde. „Einen Monat vor der Geburt meiner Tochter haben sie mir gesagt, ich darf nicht mehr arbeiten. Das war eine extrem große Enttäuschung“, erinnert sich der junge Mann.

Warum er plötzlich nicht mehr arbeiten durfte, weiß er nicht genau. Er vermutet, dass es am fehlenden Pass liegt. „Nicht arbeiten zu dürfen und die ständige Unsicherheit ist ein großer Stress für mich“, sagt er. „Ich kann nachts nicht schlafen und habe eigentlich keine Hoffnung für die Zukunft. Ich liebe mein Heimatland und möchte auch gerne zurück, sobald dort Frieden herrscht.“

Unsicherheit soll beendet werden

Um Menschen mit Duldung eine Chance zu geben, beschloss die neue Bunderegierung Anfang Juli in ihrem ersten Migrationspaket unter anderem die Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts. „Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht schaffen wir einen Perspektivwechsel. Wir wollen, dass Menschen, die gut integriert sind, auch gute Chancen in unserem Land haben“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

Man wolle die bisherige Praxis der Kettenduldungen und damit auch die Bürokratie und die Unsicherheit für Menschen, die schon Teil der Gesellschaft geworden sind, beenden. „Wer Straftaten begeht oder hartnäckig Angaben über seine Identität verweigert, bleibt vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausgeschlossen“, stellt Feaser klar.

Geburtsurkunde reicht nicht aus

Faktisch regelt das Chancen-Aufenthaltsrecht die Aussetzung der Duldung für ein Jahr. Geduldete, die zum 1.1.2022 bereits fünf Jahre im Land sind, haben dann zwölf Monate Zeit, ihre Angelegenheiten für einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu regeln, für den Lebensunterhalt aufzukommen, einen Sprachkurs mit B1-Niveau abzuschließen und die Identität mittels eines Passes nachzuweisen. Eine Geburtsurkunde reicht dafür nicht aus.

Zeynep Kartal ist Sprecherin des Multikulturellen Forums, das als Weiterbildungseinrichtung, Beratungsstelle und Interessensvertretung für Migranten in Lünen, Hamm, Düsseldorf, Köln, Bergkamen und Dortmund tätig ist. © Jens Nieth

„Eine Duldung zu bekommen, bedeutet ja, ‚ich ertrage dich, solange du da bist‘“, ordnet Zeynep Kartal, Sprecherin des Multikulturelles Forums in Lünen ein. „Durch den Chancen-Aufenthalt sollen die Migranten die Gelegenheit bekommen, sich auf diese Dinge zu fokussieren, ohne ständig Angst vor einer Abschiebung haben zu müssen“, erklärt sie. „Aber wir fragen uns, ob ein Jahr reicht. Wenn zum Beispiel eine Botschaft nicht funktioniert, reicht auch ein Jahr nicht.“ Dabei herrsche überall ein akutes Personalproblem. Es wäre dabei so sinnvoll, die Menschen, die schon hier sind, zu qualifizieren“, so Kartal. 136.000 nennt sie als Zahl derer, die von dem unsicheren Aufenthaltsstatus der Duldung betroffen sind - eine überschaubare Gruppe.

Ukrainer findet keine Arbeit

Im Falle eines ukrainischen Flüchtlings ist die Arbeitsstelle der Knackpunkt. Der 47-Jährige aus Donezk möchte seinen Namen nicht nennen - aus Angst, jemanden bei der Ausländerbehörde zu verärgern. Seit 2015 ist er in Lünen. Also lange bevor der Großteil der Ukrainer in diesem Jahr kam, die direkt eine einjährige Aufenthaltserlaubnis bekommen. Seit er im März seinen Pass vorlegte, hat er zwar die offizielle Erlaubnis zum Arbeiten bekommen. Doch er findet nichts. Als Geduldeter hat er keinen Anspruch auf die Leistungen des Jobcenters.

„Ich habe kein Netzwerk, keine Verwandtschaft, sondern bin ganz auf mich allein gestellt. Und ich möchte wirklich sehr gerne arbeiten“, sagt er mit Hilfe einer Übersetzerin. „Ich bin wirklich sehr frustriert. Die Behörden unterstützen Menschen mit einer Duldung nicht, Fuß zu fassen.“ Den Chancen-Aufenthalt sieht der Ukrainer tatsächlich als Chance, in Ruhe eine Möglichkeit zu finden, sein eigenes Geld zu verdienen.

Für viele keine Lösung

„Geduldete leben in einer prekären Lebenssituation“, stellt Jannik Willers, Berater beim Multikulturellen Forum klar, „und in ständiger Angst, abgeschoben zu werden. Für Personen, die zum Beispiel ihre politische Verfolgung nicht glaubhaft machen können oder auf Grund dessen Angst haben, ihre Botschaft zu besuchen, bietet der Chancenaufenthalt aber keine Lösung.“

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