
© Daniel Magalski
Flucht nach Lünen: Familien aus der Ukraine entkommen Putins Hölle
Flucht
Sonne scheint durch das Fenster. Der Himmel über Lünen ist blau, die Luft ist klar und ohne Rauchsäulen. Wika, Oksana, Ilia und die anderen entkamen Putins Hölle in der Ukraine.
Die Koffer stehen im Flur, darüber die Jacken und daneben die Schuhe. Im Wohnzimmer der Vogels in der hellen Wohnung in der Stadtmitte sitzen sie am Tisch. Es sind die ersten Stunden nach der Ankunft in Lünen.
Nachrichten laufen im Fernsehen: ein ukrainischer Sender. Kein Zweifel. Der Krieg ist und bleibt schreckliche Realität - daran ändert weder der so viel Lebensfreude verbreitende Sonnenschein etwas, noch der strahlend blaue Himmel über Lünen.
Rettung für Oksana Vogels Familie
Oksana Vogel, lebt seit elf Jahren in Lünen, etwa 2000 Kilometer entfernt von ihrer ukrainischen Heimat. Mama Tanja und Bruder Vova waren in der vergangenen Woche bei ihr und ihrem Mann Dieter zu Besuch in Lünen, da erklärte Putin der Ukraine den Krieg.
Dieter Vogel und Vova machten sich am Dienstag von Lünen aus mit dem Wohnmobil auf den Weg zur ukrainischen Grenze bei Korczowa im südöstlichen Polen. Eine Rettungsmission für Oksanas Familie. Wika, Oksanas Schwester, wartete dort mit den Kindern Anja und Maxim. Ihre Schwägerin Oksana Yaremko mit den Kindern Jarzyna und Ilia sowie ihrer Mutter.
Kinder in einem Karton
„Die Einsatzkräfte aus Polen machen da an der Grenze eine tolle Arbeit“, lobt Dieter Vogel. „Die Beamten brachten uns zu einer Art Einkaufszentrum, hier sammeln sich auch die Flüchtenden aus der Ukraine.“ Eine wird ihm besonders im Gedächtnis bleiben: eine Ukrainerin aus Charkiw. Die Frau schützte ihre beiden Kinder in einen Karton vor der Kälte. Wärme spendeten zwei Kerzen.
Von Polen ging es im Wohnmobil zurück nach Lünen, am Donnerstagvormittag (3. März) kamen sie an: Die Freude darüber, dass sie nun in Sicherheit sind, wird maskiert von der Angst in ihren Gesichtern. Angst nicht nur um ihre Heimat, sondern vor allem um ihre Lieben.
Vova bangt um seine Tochter
Vova bangt um seine 13 Jahre alte Tochter und seine Ex-Frau. Vova konnte sie nicht retten, denn er war ja in Lünen. Von Kiew, wo sie zuletzt waren, bis zur Grenze, sind nun überall Soldaten.

Dieter Vogel und Vova, der Bruder seiner Frau, fuhren im Wohnmobil zur Grenze zwischen Polen und der Ukraine, holten sieben Verwandte nach Lünen. © Daniel Magalski
Wika musste ihren Mann Andrej zurücklassen und Oksana Yaremko ebenfalls ihren Mann, den Vater ihrer beiden Kinder. „Taras muss arbeiten“, erzählt Oksana und obwohl er kein Soldat ist mit Waffe in den Händen, macht sie sich große Sorgen. „Taras arbeitet in einer Raffinerie, und darum herum finden sich schon Zeichen.“
Hinweise sind das für Putins Truppen, dass es sich um ein für die ukrainische Infrastruktur wichtiges Gebäude handelt - und damit um ein Ziel für die so oft den Tod bringenden Raketen.
Vom Bett in den Bunker
Ihre Familie, so erzählt Oksana, wartete bis zur letzten Minute, um den Ehemann und Papa nicht zurückzulassen, doch mit jedem Tag wuchs die Gefahr. Die Grenzen sind zu für Männer im wehrfähigen Alter. Oksana flüchtete schließlich allein mit den Kindern.
Die Tage zuvor waren traumatisch für die Familie: Wenn Sirenen vor der nächsten Attacke warnten, rissen sie die Kinder aus dem Schlaf. Vom Bett mussten sie in den Bunker. „Unserer Tochter ist erst drei Jahre alt, ihr haben wir erst erklärt, dass das ein Spiel ist, dann aber doch die Wahrheit, natürlich ohne die Details.“
Die Situation, sie sei nicht leicht für sie, schildert Oksana Yaremko. „In Deutschland suchen wir kein besseres Leben, sondern Sicherheit - aber am liebsten wollen wir zurück nach Hause.“
Kinder füllen Molotow-Cocktails
Was Krieg bedeutet, lernen Kinder schnell in diesen Tagen. Dieter Vogel erzählt: „Kinder in der Ukraine helfen unter anderem beim Füllen von Molotow-Cocktails.“ Die Brandsätze sind die Waffen der kleinen Leute.
Nachrichten aus der Heimat bekommen sie alle auch in Lünen rund um die Uhr, halten mit dem Handy Kontakt und erfahren manche schlimme Geschichte, wie Mama Tanja aus ihrem Dorf nahe Kiew.

Dieter Vogel an der Sammelstelle kurz vor der Grenze zur Ukraine. "Die Beamten hier machen einen tollen Job", lobt der Lüner. © Dieter Vogel
„Soldaten erschossen den Mann“
„Putins Soldaten plünderten dort einen Kiosk und einen Supermarkt, nahmen alles mit, auch Wodka“, übersetzt Dieter Vogel. „Ein Mann aus dem Dorf wollte Fotos von ihnen machen, da haben sie ihn erschossen, direkt aus dem Panzer.“ So hat man es ihr erzählt. Der Vorfall, der hier im friedlichen Deutschland wohl meist blankes Entsetzen hervorruft, ist in diesen Tagen im Ukraine-Krieg kaum mehr als eine Randnotiz: In Kiew und den anderen Großstädten, da sind sich alle einig, passiere noch viel Schlimmeres.
Schlaf ohne das Heulen der Sirenen
Verständnis für den Krieg haben die Entkommenen, die nun am Wohnzimmertisch der Vogels in Lünen sitzen, alle nicht: „In der Ukraine leben so viele russisch-ukrainische Paare - warum schaffen das nicht auch die Länder?“ „Europa kann sehr stolz sein, die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern für unseren Frieden“, sagt Dieter Vogel.

Alltag seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine: Der Keller verspricht bei Raketen-Angriffen etwas Sicherheit. © Dieter Vogel
Schlaf brauchen sie nun: Ruhe ohne das Heulen der Sirenen. Eine Garantie, dass sie die schlimmen Bilder nicht im Traum einholen, haben sie nicht.
Der Kreis Unna ist meine Heimat, im Beruf wie im Privaten. Die Geschichten der Menschen in Lünen und Selm zu erzählen, das ist seit über zwanzig Jahren meine Leidenschaft - und für die Ruhr Nachrichten schaue ich auch gerne über die Grenzen nach Nordkirchen und Olfen.