Aykut Tütüncü hilft in der Türkei „Letzte Woche noch zu Hause, heute bergen wir tote Babys“

„Letzte Woche noch zuhause, heute bergen wir tote Babys“
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Während des Gesprächs mit dieser Redaktion ist im Hintergrund Aykut Tütüncüs Arbeitskollege zu hören. Er hat offenbar einen Säugling zwischen den Trümmern entdeckt. „Lebt?“, fragt Tütüncü nur. Sein Kollege verneint.
Es sind gerade mal knapp zehn Minuten, die wir mit Aykut Tütüncü sprechen. Doch sie reichen aus, um all das Leid, das das verheerende Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet angerichtet hat, zu verdeutlichen. Dienstagabend ist der Torwart der SG Gahmen in die Türkei geflogen, um bei den Bergungsarbeiten zu helfen. Er und ein Arbeitskollege haben beschlossen, alles stehen und liegen zu lassen, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Sie fliegen von Düsseldorf nach Adana und sind seitdem eigentlich nur auf den Beinen. Am Donnerstagnachmittag erreicht diese Sportredaktion ihn.

Man könne es sich nicht vorstellen, wenn man nicht selbst vor Ort sei und es mit eigenen Augen sehe, sagt Tütüncü: „Wenn man an zehn Häusern vorbeifährt, sind acht dem Erdboden gleich, nur noch Schutt und Asche. Das neunte steht so eben noch, das zehnte sieht vielleicht noch halbwegs intakt aus, muss aber auch plattgemacht werden.“

Ein Blick zurück: Als Aykut Tütüncü am Montag von der Katastrophe in der Türkei und in Syrien erfährt, fühlt er sich zuerst schuldig: „Ich sitze zu Hause, bin gesund und fit, gehe ganz normal zur Arbeit.“ Doch je mehr Zeit vergeht, je weiter die Zahlen der Todesopfer in die Höhe schnellen, desto bedrückender wird es für den 24-Jährigen: „Mein Herz hat förmlich aufgehört zu schlagen. Es war unbeschreiblich.“

2000 Euro an Spenden gesammelt

Tütüncü ruft eine Spendenaktion ins Leben. Mannschaftskollegen der SG Gahmen, Freunde und Bekannte beteiligen sich. Über 2000 Euro kommen so zusammen, die Summe übergibt er persönlich in der Türkei. Denn am Dienstag hält er es nicht mehr aus. Gemeinsam mit einem Arbeitskollegen geht er zum Chef, bittet um unbezahlten Urlaub.

„Das war auch kein Problem. Wir sind nach Hause gefahren, haben den Flug gebucht und sind noch am Dienstagabend von Düsseldorf geflogen“, schildert Tütüncü. Mitten in der Nacht landen sie in Adana, im Süden der Türkei und am äußersten Rand des Erdbeben-Gebiets. Sie sprechen Polizisten an, werden an eine Hilfsorganisation vermittelt und sind seitdem in Hatay unterwegs, eine der am heftigsten betroffenen Regionen.

Aykut Tütüncü (l.) hat in Deutschland Spenden gesammelt, die er in der Türkei übergibt.
Aykut Tütüncü (l.) hat in Deutschland Spenden gesammelt, die er in der Türkei übergibt. © Aykut Tütüncü

Familie hat Tütüncü dort nicht, seine Verwandten leben im Westen der Türkei. Für ihn ist es dennoch eine Selbstverständlichkeit zu helfen, „denn wir sind alle eine Familie“. Seit Mittwochabend sind er und sein Arbeitskollege im Dauereinsatz. Sie baggern, schleppen Trümmerteile, transportieren Schutt ab, verteilen Wasser und Nahrung an die Überlebenden, bergen persönliche Gegenstände – und Leichen. „Man kann es sich einfach nicht vorstellen“, wiederholt Tütüncü. Der 24-Jährige ist eigentlich Gas-Wasser-Installateur. Jetzt verpackt er Leichen in Säcke und übergibt sie der Polizei.

Kein Rückflugticket gebucht

Einen Rückflug haben Tütüncü und sein Arbeitskollege nicht gebucht. „Wir überlegen noch, auch in andere Städte und Regionen zu fahren“, berichtet er. Hilfe kann es schließlich gar nicht genug geben. Auch Spenden will er weiter sammeln, hat aber festgestellt, dass Geld den Menschen vor Ort keine Hilfe ist: „Was soll jemand mit Geld, wenn er kein Haus mehr hat, kein Auto mehr hat? Es gibt hier keine Supermärkte mehr, keine Tankstellen. Ich habe Geld dabei, aber ich kann nichts kaufen.“

Was die Menschen vor allem benötigen, ist Nahrung. Deshalb würden insbesondere Spenden an die großen Organisationen helfen, denn sie haben die Möglichkeit, Nahrungsmittel und Wasser von außerhalb des Krisengebietes zu organisieren und einzufliegen. Und Tütüncü appelliert: „Wirklich jeder einzelne Euro zählt. Bevor ihr einen Kaffee trinken geht, spendet das Geld lieber.“

Dies ist eines der besser erhaltenen Häuser, die Aykut Tütüncü vor Ort sieht.
Dies ist eines der besser erhaltenen Häuser, die Aykut Tütüncü vor Ort sieht. © Aykut Tütüncü

Dass jedwede Unterstützung bitter notwendig ist, sieht Tütüncü in jedem Augenblick seit seiner Ankunft in Hatay. Tausende Menschen haben ihr Leben verloren, Abertausende ihr Zuhause und ihre Besitztümer. Und zwischen all den Trümmern liegen weitere Leichen, die der 24 Jahre alte Amateurfußballer und Installateur aus Gahmen bergen wird.

Tütüncü berichtet aber nicht ausschließlich von Leid. Zwar werden diese immer seltener, dennoch gibt es ab und an auch Momente der Freude. Am späten Vormittag des Donnerstags bergen Tütüncü und seine Gruppe junge Drillinge, allesamt lebend: „Bis auf ein paar geplatzte Lippen waren sie unversehrt. Das ist wirklich ein Wunder. Nachts haben wir schließlich Minusgrade. Dass Kleinkinder nach 72 Stunden lebend geborgen werden, ist unglaublich.“ Wie trügerisch diese kleinen Momente des Glücks jedoch sind, verdeutlicht diese kurze Episode. Denn nur wenig später stießen er und seine Gruppe auf eine junge, hochschwangere Frau, für die jede Hilfe zu spät kommt.

Am Ende des Gesprächs mit dieser Redaktion sagt Aykut Tütüncü schließlich einen Satz, der perfekt beschreibt, wie sehr seine Welt und die ganz, ganz vieler anderer Menschen seit Montag aus den Fugen geraten ist: „Letzte Woche bin ich noch zu Hause, heute bergen wir hier tote Babys.“

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