Boris Kaminski geht den Weg in die Öffentlichkeit, um den Missbrauchs-Opfern ein Gesicht zu geben.

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Boris Kaminski: „Ich wurde als Kind von meinem Trainer schwer sexuell missbraucht“

rnSexueller Missbrauch im Sport

Fast 30 Jahre hat es gedauert, ehe der Waltroper Boris Kaminski diese Worte öffentlich aussprechen kann. Er geht in die Tiefe, schildert Details des Missbrauchs, die den Gesprächspartner fassungslos zurücklassen.

Waltrop

, 04.02.2022, 15:55 Uhr / Lesedauer: 5 min

Viele Menschen aus dem Kreis Recklinghausen bringen Boris Kaminski, der heute 44 Jahre alt ist, mit dem Basketball in Verbindung. Er trainierte den GV Waltrop in der 1. Regionalliga, führte die Hertener Löwen zum Aufstieg in die zweite Bundesliga Pro A. Er war groß, blond, eloquent, hatte ein gewinnendes Lächeln - ein Macher eben. Niemand konnte auch nur im Ansatz erahnen, welch unfassbare Erlebnisse sich hinter dieser Fassade verbargen.

Als Kind war Boris Kaminski ein sehr talentierter Tennisspieler. „Mein damaliger Trainer bot meiner Familie an, mich viermal in der Woche zum Training im Auto mitzunehmen, ich war damals acht Jahre alt. Dadurch war ich sehr häufig mit ihm alleine.“

„Als die anderen Kinder und Eltern die Hallen verlassen hatten, sind wir duschen gegangen“

Der Trainer habe das Vertrauensverhältnis zu ihm und seiner Familie Schritt für Schritt über Monate aufgebaut. „Er war Pächter der dortigen Trainingshalle. Entsprechend hatte er dort ein Büro. Um mit mir alleine zu sein, sagte er, ich solle dort meine Hausaufgaben machen, später zu Hause hätte ich wegen meiner drei Geschwister nicht die Ruhe dafür. Als die anderen Kinder und Eltern die Halle verlassen hatten, sind wir duschen gegangen.“

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Bei den Autofahrten habe er ihm die Beine gestreichelt, ihn angefasst. „Dann gab es einen Abschiedskuss auf die Wange, später auf den Mund. Mir ist erst viel später in den Sinn gekommen, dass dies bei uns in der Garagenauffahrt passierte, die von außen nicht einzusehen war. Der Kuss war verpflichtend, um am nächsten Tag wieder abgeholt zu werden. Das kam mir komisch vor, es war nicht schön“, erzählt Boris Kaminski. Der Druck auf die Kinder sei enorm gewesen, der Respekt vor dem Trainer sehr groß.

Boris Kaminski schildert Details des Missbrauchs - „was man sonst zu diesem Thema liest, ist sehr theoretisch“

Eine sexuelle Misshandlung schildert Boris Kaminski im Detail. Warum tut er das? „Ich finde es wichtig, das näher zu beschreiben. Was man sonst zu diesem Thema liest, ist sehr theoretisch. Ich habe mir auf die Fahne geschrieben, meine Geschichte zu erzählen, damit die Menschen sensibilisiert werden. Damit das anderen Kindern nicht passiert.“

Sportlich war Boris Kaminski weiterhin sehr erfolgreich. Bei auswärtigen Turnieren teilte er sich das Zimmer mit seinem Trainer. „Wenn ich Spiele gewonnen hatte, wurde ich zur Belohnung massiert - auf dem Hotelzimmer. Zuerst noch mit der Unterhose, dann zog er sie irgendwann runter. „Er sagte ‚Schau mal, bei Dir bewegt sich was, bei mir auch.“ Er sagte, es sei doch nicht schlimm, was passiere. „Beim siebten bis zehnten Mal tröpfelte der Trainer Öl auf meinen Rücken, über den Po. Es lief in die Po-Ritze. Er ging mit der Hand rein.“ Boris Kaminski: „Ich war völlig bewegungsunfähig. „Aber ich nahm die Farbe des Vorhangs wahr. Es war extrem ekelhaft. Es fühlt sich an, als wäre das Öl heute noch auf dem Rücken.“

Es schienen unbeschwerte Zeiten gewesen zu sein: 2010 gab Trainer Boris Kaminski (r.) bei den Hertener Löwen den Vor-Jubler.

Es schienen unbeschwerte Zeiten gewesen zu sein: 2010 gab Trainer Boris Kaminski (r.) bei den Hertener Löwen den Vor-Jubler. © Archiv

Der Druck auf den Jungen sei immer mehr gewachsen. „Zum einen stellte der Trainer das so dar, dass es völlig normal sei, was er mit mir macht. Zudem erinnerte er mich daran, dass ich doch im Förderprogramm bleiben wolle und meine Eltern nur dann nichts zahlen müssten und ich nur dann zu den Turnieren gegen die Top-10 aus Deutschland gefahren würde.“

Parallel brachte sich der Trainer in der Familie ein. War an Geburtstagen dabei, verbrachte gar Weihnachten mit ihr. „Er beschenkte uns alle, ich bekam das größte Geschenk“, erzählt Boris Kaminski.

Er sei zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen, als er sich in ein Mädchen verknallte. „Aber da hatte ich ein schlechtes Gewissen dem Trainer gegenüber.“ Parallel beobachtete er, dass die Eltern anderer Kinder bei auswärtigen Turnieren dabei waren. „Und sie sind mit einem Lachen wieder gefahren.“

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Ein Jahr später zog Boris Kaminski dann die Reißleine, „ich sagte dem Trainer, dass ich mich trennen werde. Keine zwei Monate später habe ich ihn mit einem blonden Jungen im Freibad gesehen. Es gab also einen direkten Nachfolger für mich“, erzählt Boris Kaminski. Wenn er das tut, dann mit klarer Stimme. Doch sagt der 44-Jährige heute auch: „Nach so einem Gespräch herrscht im Kopf für eine Stunde nur Leere.“

„Es ist unerklärlich, dass sich niemand erhoben hat, um uns Kinder zu schützen“

Was ihm nach 30 Jahren besonders weh tut? „Ich weiß von einer Tennisanlage, die der Trainer damals schon nicht mehr betreten durfte, weil er sich an den Sohn des Vorsitzenden herangemacht hatte. Später auch von einer zweiten. Dennoch blieb er verantwortlicher Trainer. Gefühlt wussten es alle in den verantwortlichen Positionen. Es ist unerklärlich, dass sich niemand erhoben hat, um uns Kinder zu schützen. Es gab vor mir Jungs, die er missbrauchte und nach mir auch.“

Das Erlebte blieb fast 30 Jahre verschlossen in seinem Herzen. Alles, was er als Jugendlicher und junger Erwachsener tat, tat er in extremem Maß. „Ich hatte ein Doppelleben. Auf der einen Seite der funktionierende Sportler und Trainer. Auf der anderen Seite gab es das missbrauchte Ich“, so Boris Kaminski.

Der Sport sei ein Ventil gewesen. „Aber auch der Alkohol und andere Drogen. Ich bekam leichte Depressionen. Und auch suizidäre Gedanken. Ich dachte, es sei ein Zeichen von Schwäche, davon zu erzählen. Dann dachte ich, es wäre besser, das Erlebte mit ins Grab zu nehmen.“

Eines Tages habe er in Waltrop im Auto vor einer Brücke gestanden. „In dem Moment rief mich mein damaliger Mitbewohner aus Köln an. Er fragte mich, warum ich in Waltrop sei, wir wollten doch abends schließlich rausgehen. Da habe ich dann doch gelacht und mir gesagt, das kannst Du jetzt nicht bringen.“

„Die Taten sind verjährt“

Im Januar 2021 erstattete Boris Kaminski Anzeige gegen den Trainer. Seine Frau Sandra habe ihn sehr bestärkt, „sie ist mein Fels in der Brandung.“ Dann der Schock: „Die Taten sind verjährt“, sagt der 44-Jährige tonlos. In den gesamten 30 Jahren habe er zweimal geweint. „Da habe ich dann zum dritten Mal geweint.“

Im Mai 2021 vergrößerte er den Kreis der Eingeweihten. Im Oktober offenbarte er sich bei Linda Zervakis und Matthias Opdenhövel in einer Live-Sendung von Pro7, erzählte auch beim Deutschlandfunk in einer 60-minütigen Sendung von seinem Schicksal. „Das war jeweils brutal anstrengend.“

„Ich möchte den Opfern ein Gesicht geben“

Aber es tue ihm gut, über den Missbrauch zu sprechen. Er geht mit Absicht in die Öffentlichkeit. „Ich möchte den Opfern ein Gesicht geben. Ich möchte nicht, dass Kinder, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, als schwach, klein, geschändet und hilflos dargestellt werden. Das hat mich damals davon abgehalten, mich früher jemandem anzuvertrauen“, sagt Boris Kaminski, der für nächste Woche eine Einladung für einen Podcast im Bundesinnenministerium erhalten hat.

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Boris Kaminski hat Sport studiert, ist Berater für Architekten und Sportstättenbauer beim Sportbodenhersteller Gerflor und aktuell Co-Trainer der Bundesliga-Basketballerinnen Rheinland-Lions. „Wir sind Tabellenführer, yeah. Und das als Aufsteiger, nicht schlecht, oder?“ Da ist er wieder, der Boris Kaminski, der Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre im Kreis Recklinghausen die Menschen begeisterte.

Er lebt mit seiner Familie - er hat zwei Jungs im Alter von fünf und sieben Jahren - in Köln. Gerade auch für Mats (7) und Tom (5) - sie sind beide blond und spielen Tennis - hat er den mutigen Weg in die Öffentlichkeit gewagt. Er komme nur noch sehr selten nach Waltrop. „Ich habe kein positives Heimatgefühl mehr“, sagt er. Sein Gegenüber, das mit Gänsehaut, Kloß im Hals und Tränen in den Augen kämpft, denkt sich nur: Wer kann ihm das verdenken?

An wen können sich Missbrauchs-Opfer wenden?

„Das ist ein sehr großes Problem. Die Verbände erarbeiten Positionspapiere und Zehn-Punkte-Papiere, wie sie sexuellem Missbrauch im Sport vorbeugen wollen. Sie meinen, das reicht. Aber das reicht nicht. Das ist zu theoretisch“, sagt Boris Kaminski. Gefragt nach einer Anlaufstelle, an die sich Opfer wenden können, nennt er dennoch zwei Vereine: „Das ist der Athleten Deutschland e.V., der mit Nina e.V. zusammenarbeitet. Aus meiner Sicht extrem seriös und kompetent“, so Boris Kaminski. www.athleten-deutschland.org
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