Profis im Amateur-Fußball: Als Altstar Ailton in der Verbandsliga spielte - „Eine Clownsnummer“

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Profis im Amateur-Fußball: Als Altstar Ailton in der Verbandsliga spielte - „Eine Clownsnummer“

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Der TuS Bövinghausen verpflichtet Kevin Großkreutz und hat eine ulkige Idee, Geld zu verdienen. Selbiges gab es schon mal – bei Hassia Bingen und zur Zeit von Ailton. Ein Journalist erzählt.

Dortmund

, 13.02.2021, 18:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Am Ende, als alles vorbei war, stand Ailton mit einer Fanta auf dem Rasen und lauschte den Worten des Präsidenten. Oliver Wimmers, der oberste Repräsentant von Hassia Bingen, sprach in diesem Moment über den ganz sicher berühmtesten Repräsentanten des Klubs aus dem Landkreis Mainz. „Er hat dem Verein sehr viel gegeben“, sagte Wimmers. Und: Ailton könne selbstverständlich immer wiederkommen.

Man hätte an dieser Stelle gern mit Wimmers gesprochen, ihn gefragt, wie es war mit dem Ex-Profi und ob er noch einmal zurückgekehrt sei, nun, rund acht Jahre danach, doch mehrere Anfragen gingen ins Leere. Bingen, zu Antrittsbeginn von Ailton in der Verbandsliga aktiv und inzwischen in der Oberliga, scheint kein Interesse zu besitzen, über die Zeit mit dem prominenten Stürmer zu reden. Kein Wunder, erfolgreich war sie ganz und gar nicht.

Von Sommer 2012 bis Winter 2013/2014 stand Ailton in Bingen unter Vertrag – in einem kleinen Städtchen mit rund 25.000 Einwohnern. Dort ließ der Altstar – wie es im Sport immer so heißt, wenn sich eine einstmals hochqualifizierte Persönlichkeit noch mal versucht, nur eben mit halber oder noch weniger Kraft –, dort ließ der Altstar seine Karriere auslaufen. In Ailtons Fall kann ohne Übertreibung von einer schillernden gesprochen werden.

2004 wurde er Deutscher Meister und Pokalsieger mit Werder Bremen, sicherte sich die Torjäger-Kanone. Ailton wurde Fußballer des Jahres – der erste nichtdeutsche in der Historie. Und er bekam den Kosenamen „Kugelblitz“. Die Figur eines Modellathleten besaß der Angreifer schließlich nie. Trotzdem schaffte er es in sehr verblüffender Häufigkeit, seinen Bewachern zu entwischen. Als hätte er die Kilos gar nicht auf den Rippen.

Ailton-Wechsel: Aus dem Dschungelcamp nach Bingen

Und dieser Ailton, Wandervogel, Entertainer und Torjäger in Personalunion, kam 2012 eben nach Bingen. Der damalige Manager Stefan Seidel pflegte das Zustandekommen wie folgt zu beschreiben: Seine Tochter habe den Ex-Profi im Dschungelcamp gesehen; der sei ja ein lustiger Typ, habe sie während des TV-Show-Studiums gesagt – woraus letztlich die Idee entstanden sei, den Stürmer zu holen. Aus Australien in die rheinland-pfälzische Provinz.

Andreas Scherer grub die Sache seinerzeit aus. Scherer, ehemals Journalist in Bingen und inzwischen im Ruhestand, erhielt einen Tipp. „Wie es im Lokalen häufig ist, kam ein Leser mit der Information auf uns zu. Er hatte Ailton aus dem Vereinsheim gehen sehen“, erzählt Scherer dieser Redaktion. Daraufhin habe er sich flugs sein Telefon gegriffen, bei Manager Seidel angerufen, „der gab die Verhandlungen mit Ailton nach einigem Zögern zu“.

Wenige Tage später war der Coup perfekt. „Schon zuvor hatte es Gerüchte gegeben, dass der Verein eine spektakuläre Verpflichtung plane“, erinnert sich Scherer. Ex-Fußballer Ailton in Bingen – „das war für die Region natürlich eine große Nummer.“ Eine, die dementsprechend zünftig gefeiert wurde. Erst in der Fußgängerzone, dann im Stadion bei Ailtons erstem Pflichtspiel für Hassia Bingen.

Da sei die Begeisterung „wohl am größten“ gewesen, sagt Scherer. Immerhin galt es, den Lokalrivalen Ingelheim zu besiegen. Und Ailton traf zweifach. „Offiziell hieß es damals, dass rund 1.500 Zuschauer dabei waren. Ich bin mir sicher, dass es über 2.000 waren“, sagt Scherer. „Der Klub hatte angesichts des Andrangs ein zusätzliches Tor aufgemacht – und die Leute strömten alle herein.“ Um Ailton zu sehen, den Kugelblitz.

Ailton baut in Bingen immer mehr ab

Es gibt eine wackelige Videoaufnahme von diesem Freitagabend. Das Flutlicht leuchtete hinab auf Bingens Sportanlage – und der Stadionsprecher jauchzte nach Ailton-Treffer Nummer zwei: „Ich hab jetzt schon die Schlagzeile vor Augen: Der Doppelpack am Hessenhaus durch Blitz Ailtoooonnn.“ Das „Hessenhaus“ ist seinerseits als Gaststätte bekannt, gleich daneben liegt der Rasenplatz. Nur zur Erklärung.

Hier wie dort – im „Hessenhaus“ und unmittelbar ums Spielfeld - herrschte prächtigste Stimmung. Davon berichtet Scherer, davon zeugt das Video, das noch heute ohne sonderlich viel Aufwand zu finden ist. Hassia Bingen schien auf dem richtigen Weg. Ailton lieferte den Derbysieg, die Zuschauer wurden richtiggehend euphorisiert. Doch wer glaubte, dieser große Erfolg wäre von Dauer, musste sich wohl oder übel korrigieren.

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Die Leistungskurve zeigte nach und nach immer mehr herab, sowohl die des Teams als auch die des Altstars. Der schoss zwar noch ein paar Tore, zuweilen erschien er dem Beobachter jedoch eher als Hemmschuh. Denn wer sich allein in aufreizend kleinem Radius bewegt und sich eher als Standfußballer mit gelegentlichen Strafraum-Ausflügen versteht, der muss schon eine beträchtliche Effizienz vorweisen, um einen spürbaren Mehrwert zu besitzen.

Früher wurden derlei Spieler häufig als „Stehgeiger“ beschrien, diesen Ausdruck nutzt der einst als Reporter arbeitende Scherer nicht. Er formuliert es milder, dennoch deutlich: „Die Sache hatte mit sportlichem Ehrgeiz nur sehr bedingt zutun, es war eher ein Marketinggag mit großem Unterhaltungswert. Überregional sorgte es für viel Aufsehen, doch in der Region gab es auch viel Kopfschütteln.“

TuS Bövinghausen versucht es wie Bingen

Zum einen stieg der Verein trotz Ailton in die Landesliga ab, zum anderen überraschte Manager Seidel, der sich zeit seiner Tätigkeit des überbordenden Selbstbewusstseins verdächtig machte, mit recht ulkigen Marketingideen. Er habe etwa angeregt, „dass die Binger Zuschauer bei einem Auswärtsspiel vom gastgebenden Verein eine kostenlose Bratwurst bekommen sollten. Das kam bei den Ligakonkurrenten gar nicht gut an“, berichtet Scherer.

Und ebenfalls überliefert ist die Episode, dass Seidel den Plan verfolgte, bei jeder Partie an den Eintrittskosten zu partizipieren – also auch bei den Duellen fernab des Hessenhauses. So wie der TuS Bövinghausen, der kürzlich laut darüber nachdachte, Auswärtstestspiele nur abzuhalten, wenn dabei Geld herausspringt. Nachdem der Vertrag mit Weltmeister Kevin Großkreutz unterschrieben war, keimte dies auf. Dann wurde es wieder einkassiert.

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Die Kritikböen hatten wohl eine unerwartet heftige, unangenehme Stärke erreicht – Hassia Bingen kann ein Lied davon singen. Stellvertretend sei an dieser Stelle Georg Humbert genannt. Er, seines Zeichens Vorsitzender des Binger Liga-Konkurrenten Zeiskam, formulierte unverblümt: „So weit kommt es noch. Man stelle sich vor, der FC Barcelona bringt Messi mit nach München und verlangt von den Bayern, dass sie dafür bezahlen.“

Und die BILD-Zeitung schrieb, Wolfgang Bärnick, damals Präsident von Nachbar Ingelheim, sei fast der Hörer aus der Hand gefallen, als er von Bingens Idee gehört habe. „Das ist schon dreist“, meinte er. „Ein blödsinniges Ansinnen. Die Verpflichtung von Ailton ist das Privatvergnügen von Herrn Seidel. Dafür zahlen wir nichts!“ Punkt. Aus. Ende. Apropos: Ailtons Ende in Bingen ließ denn auch nicht wirklich lange auf sich warten.

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Die Zuschauerresonanz sei „zügig“ abgeflacht. „Sportlich lief es nicht, Ailton wirkte irgendwann nicht mehr wirklich motiviert. Er soll in seiner zweiten Saison nicht mehr kontinuierlich zum Training gekommen sein, brachte es nur noch auf wenige Einsätze“, sagt Scherer. „Die Aufmerksamkeit, die Bewunderung, von der er zu leben scheint, war da längst nicht mehr vorhanden. Der Klamauk nahm ein Ende.“

Immerhin habe Bingen, „so viel ich weiß“, kein Geld für den Angreifer zahlen müssen, „er war quasi kostenfrei“, sei von „privaten Sponsoren“ finanziert worden. In der Mannschaft soll Ailton ein gutes Standing besessen haben, schien zudem in der Stadt beliebt zu sein. „Er wirkte immer gut gelaunt, machte einen sehr selbstbewussten Eindruck und sprach über sich immer in der dritten Person, wie es ja für ihn typisch ist“, sagt Scherer.

Ailton-Hype nervt Journalist

Bestens bekannt sind die Bonmots: „Ailton auswechseln – immer Fehler!“ Oder: „Ailton ist wie Medizin für Kranke!“ So oder so ähnlich redet sich der Brasilianer gerne durch Deutschland, die TV-Shows. Und so trat er auch in Bingen auf. Bekanntheit und einen anfänglichen Sponsoren-Zuzug brachte das dem Klub und der Stadt, für große Beliebtheitswerte und sportliche Triumphe langte es aber nicht.

Der emeritierte Journalist Scherer wählt die Einerseits-Andererseits-Konstruktion, als er auf den kurzen Ailton-Hype angesprochen wird. „Es war eine verrückte Geschichte“, meint er, doch nun wirklich nicht die, „an die die ich sofort denke, wenn ich auf meine berufliche Karriere blicke. Manche Kollegen haben mich beneidet, dass ich Bingen und Ailton begleiten durfte. Ich fand es irgendwann nur noch nervig, journalistisch nicht interessant.“

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Es habe eine Zeit gegeben, „da durfte ich über eine Tischtennis-Bundesliga-Damenmannschaft aus der Region berichten“, das sei „etwas Besonderes“ gewesen, „Spitzensport auf allerhöchstem Niveau. Bei den Heimspielen standen sich Olympia-Medaillengewinnerinnen, deutsche und internationale Meisterinnen gegenüber. Die Ailton-Geschichte war da im Vergleich eher eine Clownsnummer.“

Urplötzlich, so sagt es Scherer, urplötzlich habe er sich im „Boulevard-Journalismus“ verdingen müssen, „obwohl das überhaupt nicht mein Ding war“.

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