Auf den Sportplätzen des Landes herrschen Stillstand und gähnenden Leere. © picture alliance/dpa
Amateursport-Interview
Professor schlägt vor: Öffnen die Schulen, sollte auch der Vereinssport folgen
Der zweite Lockdown hinterlässt noch tiefere Spuren im Breitensport als der erste. Der Kölner Sportökonom Christoph Breuer schlägt vor: Wenn die Schulen wieder öffnen, sollte der Vereinssport bald folgen.
Bis zum erneuten Lockdown ab November 2020 war der Anteil an Vereinen ausgeglichen, die Mitgliederrückgänge oder -zuwächse zu verzeichnen hatten (36,6 Prozent Rückgänge gegenüber 35,0 Prozent Zuwächse). Inzwischen hat sich mit 44,0 Prozent der Anteil der Vereine, die für das 2020 Rückgänge melden, gegenüber 29,0 Prozent mit Zuwächsen deutlich erhöht. Das ist eines der ersten Ergebnisse des aktuellen Sportentwicklungsberichts.
Jeder zweite Sportverein (52,4 Prozent) in Deutschland erwartet in den kommenden zwölf Monaten eine existenzbedrohliche Lage. Auch hier ist der Anstieg seit dem zweiten Lockdown deutlich. Personelle und finanzielle Engpässe geben dafür den Ausschlag: 41,3 Prozent der Vereine verzeichnen einen wachsenden Mitgliederrückgang. 34,9% aller Vereine beklagen einen Rückgang der Zahl an Ehrenamtlichen (vor dem zweiten Lockdown: 32,8 Prozent). Jeder fünfte Verein rechnet mit einer existenziellen Bedrohung aufgrund pandemiebedingter finanzieller Engpässe.
Im Interview erklärt Christoph Breuer, Professor für Sportökonomie an der Sporthochschule Köln und wissenschaftlicher Leiter des Berichts, wie fatal der 2. Lockdown wirkt und was die Vereine dringend brauchen, um wirtschaftlich und sozial zu überleben.
Warum ist der Unterschied in den Folgen zwischen dem ersten und zweiten Lockdown für die Sportvereine so gravierend?
Der zweite Lockdown ist länger und, was noch schwerwiegender ist, man nimmt nicht so richtig wahr, wann er zu Ende sein wird. Es fehlt vielen sportlich oder ehrenamtlich Aktiven die Perspektive. Der erste Lockdown wurde als eine Durststrecke wahrgenommen, als etwas, das man hinter sich bringt. Jetzt ist Vieles im Ungefähren. Zwar fühlen sich Mitglieder und Ehrenamtliche ja immer auf eine besondere Weise ihrem Verein verbunden. Aber wir beobachten, dass diese Treue der Menschen langsam aufgezehrt wird – bei Mitgliedern noch schneller als bei Ehrenamtlichen.
Christoph Breuer ist Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. © picture alliance/dpa/DSHS-Pressestelle
Warum kehren Mitglieder dem Verein schneller den Rücken als Ehrenamtliche?
Wenn ich mich ehrenamtlich engagiere, identifiziere ich mich nochmal stärker mit dem Verein. Der Treue-Akku der Ehrenamtlichen hat noch eine längere Laufleistung als der Akku der Mitglieder. Viele Vereinsmitglieder wollen letztlich nur Sport treiben. Da ist das Beharrungsvermögen nicht so groß, und sie sind schneller zum Austritt bereit. Und je mehr in einem Klub das Sportangebot als Dienstleistung empfunden wird, desto größer ist die Bereitschaft sich zu trennen.
Aber eigentlich gilt doch das Vereinswesen gerade in Deutschland als besonders robust?
Wenn wir die Frage stellen, ob das Glas jetzt schon halbleer oder zumindest noch halbvoll ist, dann spricht einiges für die Halbvoll-Deutung. Man kann schon sagen, dass das Vereinswesen noch vergleichsweise gut funktioniert, weil die Vereine zwar Mitglieder verlieren, aber noch nicht in dramatischen Scharen. Aber unsere Studie zeigt eben auch, je länger der Lockdown anhält, desto stärker sind die Mitgliedschaftsverluste.
Was können Vereine tun, um ihre Mitglieder und Ehrenamtlichen bei der Stange zu halten?
Das Zauberrezept gibt es nicht. Denn einen angemessenen Ersatz für ein unbeschwertes Sport- und Vereinsangebot gibt es nicht. Viele Vereine bieten mittlerweile aber digitale Programme an. Und wir sehen, dass mittlerweile deutlich häufiger so etwas auf die Beine gestellt wird, um den Mitgliedern ein Angebot zu machen und sie zu binden. Ein anderes Mittel ist, Beiträge an die Mitglieder zurückzuzahlen oder im nächsten Jahr den Beitrag zu verringern. Aber, so ehrlich muss man sein, viele Vereine haben aus rein wirtschaftlichen Gründen diese Möglichkeit nicht. Aber unter dem Strich sind das natürlich alles Maßnahmen, die das tatsächliche Vereinserlebnis mit Präsenz und Gemeinsamkeit nicht ersetzen können.
Gibt es eigentlich große Unterschiede zwischen Sportarten oder Vereinen in der Reaktion auf die Anforderung, sich etwas einfallen lassen zu müssen, um Mitglieder zu behalten?
Wenn wir beim Beispiel der digitalen Ersatzangebote bleiben, dann verläuft die Linie sicher dort, wo mehr oder weniger digitale Kompetenz in einem Klub vorhanden ist. Wir sehen andererseits aber auch, dass dort, wo es Vereinen gelingt und in der Vergangenheit gelungen ist, sich als mehr als nur ein sportlicher Dienstleister den Menschen zu empfehlen, man besser für diese Mitglieder-Krise gerüstet ist.
Sport im Verein wird ja auch als ein „sozialer Kitt der Gesellschaft“ bezeichnet. Lassen die Pandemie und der Lockdown diesen Kitt bröckeln?
Der Sport war ja ganz lange eher eine Veranstaltung der Mittelschicht. Er hat sich aber in den letzten 30Jahren verstärkt sozial geöffnet und eine gewaltige Integrationskraft auch für Aussiedler, Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund entwickelt. Das war überhaupt kein Selbstläufer, weil viele, die heute im Sport zu Hause sind, sich zunächst gesellschaftlich und kulturell überhaupt nicht angezogen fühlten. Es droht jetzt angesichts des Stillstands eine Situation, in der Bevölkerungsgruppen, die in Jahrzehnten mühsam für die Vereine gewonnen wurden, jetzt wieder für diese Orte der Integration verloren gehen. Es gibt faktisch zwei maßgebliche Integrationsinstanzen in Deutschland: Die eine ist Arbeit, die andere ist Sport. Und wenn der Sport nicht wirken kann, dann entsteht dort eine riesige Lücke. Und der Sport selbst steht dann in der Gefahr, dass er nach der Pandemie wieder etwas mehr dem ähnelt, wie er vor seiner sozialen Öffnung war.
Was hilft den Vereinen denn jetzt am meisten – auch ihre gesellschaftliche Funktion weiterhin zu erfüllen?
Hilfe mit Fördermitteln ist sicher das eine. Wobei finanzielle Probleme in nennenswertem Ausmaß treffen nur einen Teil der Vereine. Da fangen die Ehrenamtlichen einfach ungeheuer viel auf. Was für alle noch wichtiger ist, ist eine Öffnungsperspektive. Momentan halte ich die noch nicht für realistisch. Aber wenn wir wieder anfangen, Schulen zu öffnen, dann braucht es auch eine Öffnungsperspektive für den Vereinssport. Die wird vorerst ohne Wettkämpfe sein, aber Kinder, Jugendliche und Senioren brauchen sie dringend, weil sie sozial oder gesundheitlich von dieser Schließung besonders betroffen sind und darunter leiden. Es braucht dringend eine Perspektive. Das ist wichtig für Mitglieder wie Ehrenamtliche, die erfahren müssen, dass es sich lohnt, sich weiter für ihren Verein zu engagieren.
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