
In Pyeongchang gescheitert - Peking im Hinterkopf
Christopher Weber will eine olympische Medaille
Christopher Weber landete auf Umwegen beim Bobsport, sah sich schon mit einer olympischen Medaille um den Hals und scheiterte dann doch. Über einen Sportler, der Blut geleckt hat, aber mit dem Bobfahren eigentlich schon abgeschlossen hatte.
Der Schlag kommt unerwartet. Die Innenwand des Bobs verformt sich für den Bruchteil einer Sekunde, drückt sich von rechts gegen den zusammengekrümmten Körper von Christopher Weber. Nicht mal einen wie ihn, der nicht mal die Füße hoch legt, wenn er eigentlich frei hat, der Hemden nur kaufen kann, wenn sie von der Schulter abwärts etwas weiter sind, nicht mal eine Maschine wie ihn lässt so etwas kalt. Doch den physischen Schmerz schluckt der 26-Jährige in diesem Moment im Olympischen Eiskanal von Pyeongchang runter. Der Schlag in Kurve 9 hat eine einschneidendere Bedeutung. Er beendet den Traum von einer Olympischen Medaille im Bob - einer Sportart, die er vor einem Jahr noch völlig uninteressant fand.
Keine Lust auf den Eiskanal
Als Christopher Weber das erste Mal in einen Bob steigt, ist er siebzehn Jahre alt. Das Bobtaxi in Winterberg verspricht waghalsigen Laien „60 Sekunden Nervenkitzel im schnellsten Taxibob Europas“. Für Weber ist die Fahrt am Tag nach Neujahr 2009 der Horror. Er, der auch in Freizeitparks stets den Taschenträger für seine Freunde gibt, weil er Achterbahnen hasst wie Leistungssportler die Saisonvorbereitung, hat schon vorher keine Lust auf die Juxfahrt im Eiskanal: „Ich habe damals gefragt: ‚Was ist das für ein Dreck?“ Bobfahren interessiert ihn nicht: „Bei den wintersportbegeisterten Eltern meiner Freundin lief das häufig im Fernsehen. Da bin ich meistens wieder nach oben gegangen und habe weitergeschlafen“, sagt Weber heute. Nach der Fahrt im Bobtaxi ist für ihn jedenfalls klar: „Das mache ich nie wieder.“
Mehr als neun Jahre später, ein paar Tage nach dem letzten Lauf in Pyeongchang, steht Weber erneut in Winterberg und wird ausgebuht, weil er mal wieder etwas gesagt hat, was die Leute nicht so gerne hören. Schon vor den Olympischen Spielen in Pyeongchang war er damit aufgefallen, weil er das olympische Motto „Dabei sein ist alles“ nicht akzeptieren wollte, es gar „für deplatziert“ erachtete. Wenn er hinfährt, will er auch gewinnen, so lautete seine Devise. Und: „Jeder Leistungssportler, der das anders sieht, sollte den Sport vielleicht nicht machen.“ So redet keiner, der zum Urlaub machen zu den Spielen fährt. Eigentlich redet so nur einer, der sie gewinnt.
Training fast ohne Pause
Der Weg zu den Olympischen Spielen ist für Weber steinig. Johannes Lochner, sein Pilot, überlässt bei der Auswahl seiner Anschieber nichts dem Zufall. Acht von ihnen streiten vor der Weltcup-Saison 2017 um drei Plätze im Vierer und einen im Zweier. Den Platz im Vierer hat Weber schnell sicher, im Zweier aber ist Joshua Bluhm zu diesem Zeitpunkt Lochners klare Nummer eins. Ein Dreamteam. Zusammen mit dem Kieler wurde Lochner 2015 und 2016 Vize-Weltmeister, 2017 WM-Dritter. „Ich war neu im Team, mir stand nichts zu“, sagt Weber. Doch der ehemalige Leichtathlet merkt schnell, dass in der für ihn fremden Sportart etwas möglich ist. „Man hat gemerkt, dass es beim Hansi nur nach Leistung ging“, sagt Weber. Und Leistung, das ist sein Ding. Also trainiert er, fast ohne Pause: „Ich bin einer, dem sowas guttut. Wettkämpfe, Training, dadurch werde ich besser.“ So sehr, dass er im Winter schneller ist als Bluhm, mit dem er zwischenmenschlich nicht gerade auf einer Wellenlänge funkt.
Bei einem Leistungstest im Dezember 2017 vor dem Nationaltrainer deklassiert Weber Lochners Top-Anschieber. Die Erleichterung danach ist so groß wie seine Oberschenkel: „Da ist eine Megalast von mir gefallen. Denn für mich war in diesem Moment klar: Ich kann von ihm nicht geschlagen werden.“ Dass er sogar ohne seinen ärgsten Konkurrenten nach Pyeongchang fahren würde, weiß Weber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Kurz vor den Olympischen Spielen verschwindet der Kieler Anschieber plötzlich von der Meldeliste. Die Bild-Zeitung schreibt: „Bob-Star schiebt seinen Anschieber ab.“ Die offizielle Verlautbarung kommt vom Bundestrainer, der erklärt: „Das hat medizinische Gründe.“ Doch in Wahrheit ist es eine Entscheidung von Lochner - für Weber: „Im Endeffekt hat der Hansi seinen Stamm-Anschieber aus dem Team geworfen, weil wir nicht miteinander klar gekommen sind.“ Kurz vor der Eröffnungsfeier fügt sich für den Dortmunder alles zusammen.
Trainieren, essen, schlafen
Die Beziehung „zum Hansi“ wechselt recht schnell von einer professionellen auf eine freundschaftliche Ebene. „Ich bin sehr froh, dass ich bei ihm fahre, weil er ein sehr cooler Typ und vor allem locker ist. Er geht mir bei den Wettkämpfen nicht auf die Nerven, da gibt es schon einige Bobfahrer, die ein bisschen zickig werden können.“ Im von Lochner organisierten Bob-Appartment unweit des Olympischen Dorfes wäre das auch keine gute Eigenschaft. Zwei Wochen verbringen die Bobfahrer in Südkorea miteinander, trainieren, essen, schlafen und wieder von vorne. Weber merkt es zunächst gar nicht, aber das Olympische Fieber packt ihn sofort: „Nach den ersten Einheiten kam der Physiotherapeut zu mir und hat gefragt: ‚Was ist mit dir?‘ Und ich so: ‚Wieso?‘ Und er: ‚Weil du so unfassbar viel Gas gibst im Training.‘ Ich hatte einfach so viel Bock da drauf, es hat viel mehr Spaß gemacht und ich wollte einfach nur, dass es losgeht.“ Es geht los. Aber anders als gedacht.
Kurve 9 der Olympischen Bobbahn von Pyeongchang ist eine der schwierigsten Passagen der Welt. Der Pilot muss in eine Kurve hineinlenken, obwohl er aus ihr herausfährt. „Das entspricht nicht dem Gefühl des Fahrers“, sagt Weber. Das Problem ist: Seiner ist ein Gefühlsfahrer. Einer, der zum Beispiel besonders gut mit Strecken klarkommt, die er noch nicht kennt, weil er einfach seiner Intuition folgt. Aber diese Schikane hinter der neunten Kurve, die bekommt Lochner nicht in den Griff. Im Zweier fallen sie im letzten Lauf von Medaillenrang drei auf fünf zurück. Schade, denkt sich Weber, aber egal. Der Zweier war ein Bonus. Ein hart erarbeiteter zwar, aber ein Bonus. Im Vierer sind sie Favorit. Als Lochner sich nach dem letzten Lauf dennoch bei Weber für den Fehler entschuldigen will, nimmt der das nicht an: „Dafür bin ich dem Hansi viel zu dankbar. Ohne ihn hätte ich es nicht zu Olympia geschafft.“ Schon kurz darauf frotzeln sie wieder über die Herkunft des anderen. Ruhrpott-Chris und Bayern-Hansi.
Ohne Schlaf zurück nach Deutschland
Im Vierer ist der Bayer nicht nur Weltcup-Sieger, sondern auch Weltmeister. Das klingt unheimlich gut, zählt in Pyeongchang aber überhaupt nichts. Nicht nur, weil es auch für Lochner die ersten Olympischen Spiele sind, sondern weil die Bahn im Alpensia Sliding Centre „mit ihrem Schwierigkeitsgrad einzigartig“ ist. Gemeinsam verfolgt das Team das Drama von Rodler Felix Loch, der als Führender vor dem letzten Lauf noch auf Rang fünf zurückfällt: „Von da an habe ich gesagt, dass es auf dieser Bahn keine Favoriten gibt“, sagt Weber, der zu diesem Zeitpunkt in Lochners Bob noch Favorit ist. Doch auch im Vierer nimmt Kurve 9 ihnen alle Illusionen. Nur einmal in vier Läufen kommen sie ohne Kontakt an ihr vorbei, „und trotzdem waren wir hinten raus wieder langsamer.“ Am Ende steht Platz acht, und irgendwie sind sich beide wegen des einen eigentlich perfekten Laufes sicher, dass es auch am Material gelegen haben muss. Gold und Silber geht an andere deutsche Teams. Der Frust wird später im Deutschen Haus in Alkohol ertränkt. Ohne Schlaf geht es am nächsten Morgen zurück nach Deutschland.
Zwei Wochen nach dem Ende der Spiele sitzt Weber in einem Dortmunder Steakhaus. Die Eindrücke sind noch frisch. Der 26-Jährige kommt ins Schwärmen, wenn er von der Atmosphäre spricht. Und dennoch: „Keine Medaille zu haben“, sagt Weber, das sei wirklich das Schlimmste. Es sind die Leiden des jungen Weber, obwohl er das nicht zeigen will. Dafür ist er ein zu optimistischer Mensch. Dafür hat er auch noch zu viel vor. Die Chance, seinen Namen in den Geschichtsbüchern der Olympischen Bewegung zu verewigen, bekommt man aber nunmal nicht so oft. Und die 20.000 Euro, die es für eine Goldmedaille gibt, die gibt jetzt auch jemand anderes aus. Wobei Weber an dieser Stelle klarstellt: „Ich bin da hingefahren, um die Medaille zu Hause hängen zu haben.“ Das Geld sei völlig zweitrangig. „Man muss als Bobsportler, als Leichtathlet, damit leben, dass man kein Fußballer ist“, sagt Weber. Die Diskussion um mehr Unterstützung für Leistungssportler kann er deshalb auch nicht nachvollziehen: „Ich bin froh, dass es die Deutsche Sporthilfe überhaupt gibt, dass sich da überhaupt jemand drum kümmert. Da kann ich mich doch nicht drüber beschweren.“
Job im Autohaus des Vaters
Reich ist er also nicht geworden - und das wird er durch den Bobsport auch nicht mehr. Weber ist dankbar für den Job im Autohaus seines Vaters, generell für die Unterstützung seiner Eltern, die ihm seinen Sport überhaupt erst ermöglichen. Olympia habe ihm ein paar mehr Follower bei Instagram gebracht, neulich im Möbelhaus habe er durch sein Sportlerdasein sogar einen größeren Rabatt bekommen. Aber was geblieben ist, das ist der Hunger auf sportlichen Erfolg. Mit Hansi Lochner - das steht nach einem weiteren Wochenende fest - wird er weiter zusammen fahren. Das große Ziel ist die Weltmeisterschaft in Whistler Anfang 2019. Und Olympia 2022 in Peking? Die Medaille abholen, die ihm in Pyeongchang verwehrt blieb? „Das hört sich jetzt doof an“, sagt Weber und bedient sich einer alten Fußballerphrase: „Aber ich denke erstmal nur bis Whistler. Wenn wir da nochmal total untergehen, kann es auch sein, dass ich sage: ‚Ok, das macht jetzt keinen Sinn.‘ Aber eigentlich...“
Eigentlich glaubt er so sehr an den Erfolg mit Lochner, so sehr an seine eigene Stärke, dass Peking 2022 im Hinterkopf fest eingeplant ist. Denn obwohl ihm das olympische Motto egal war, obwohl sie sportlich gescheitert sind, „stolz war ich schon, als wir da mit den Deutschlandklamotten ins Olympische Dorf gekommen sind. Das ist eine Erfahrung fürs Leben, davon werde ich meinen Enkelkindern erzählen.“ Die Frage ist, ob er ihnen von der Niederlage in Pyeongchang, von Kurve 9, „auf die ich jetzt wirklich keinen Bock mehr habe“, erzählt - oder von dem großen Sieg von Peking vier Jahre später.