Seine Profilaufbahn fand ein abruptes Ende: „Mein Vertrag endete am 7. Januar 2022, dann begann im Februar der Krieg in der Ukraine“, erinnert sich Igor Levchenko noch genau. Der Torwart brach seine Zelte in der Heimat ab und begab sich mit seinem Sohn und der schwangeren Ehefrau auf die beschwerliche Flucht in Richtung Westen. Zum Militärdienst eingezogen wurde er als Profisportler nicht.
„Es war ein sehr schwieriger Prozess, an den ich mich gar nicht mehr erinnern möchte. Der Weg nach Deutschland hat viel Zeit gekostet, circa 4500 Kilometer, es dauerte drei bis vier Tage mit wenigen Stopps.“
Doch die Familie erreichte schließlich Viersen im Rheinland, von wo sie einer Unterkunft in Horstmar-Leer zugewiesen wurde. Fernab vom Krieg in der Heimat knüpfte Igor Levchenko erste Kontakte zum deutschen Fußball, schloss sich dem Kreisligateam von Westfalia Leer an. Schnell war allen Beteiligten klar, dass der Ex-Profi hier stark unterfordert war.
Über einige Ecken kamen dann im Frühjahr 2023 der SV Eintracht Ahaus und dessen Landesliga-Trainer Frank Wegener ins Spiel. „Ich habe von Holger Möllers, dem Trainer von Westfalia Kinderhaus, eher zufällig den Hinweis bekommen, dass Igor zu uns passen könnte, da wir damals noch einen Torwart gesucht haben“, erinnert sich Wegener.
Trainer aus Urlaub geholt
Kurzerhand vereinbarte der Coach ein Probetraining mit dem Ukrainer. „Dafür habe ich extra unseren Torwarttrainer Marc Lüdiger aus dem Urlaub geholt, er sollte ihn sich mal anschauen.“
Lüdigers erste Eindrücke nach kurzer Einheit bei 35 Grad auf dem Kunstrasen: „Ich habe sofort gesehen, dass Igor mega gut ausgebildet wurde, schließlich hatte er die zehn Jahre davor auch nur Fußball gespielt.“ Mit seiner kräftigen Statur und 1,96 Meter Körpergröße ist der Ukrainer zudem eine echte Erscheinung im Strafraum. Eine Baustelle sei damals noch der Fitnesszustand des Keepers gewesen, doch daran ließ sich recht einfach arbeiten.
Levchenko erhielt also einen Platz im Ahauser Kader und etablierte sich schnell – auch aufgrund einer Verletzung des damaligen Torwarts Jonas Averesch – als Nummer eins im Eintracht-Tor. Diesen Posten gab er die gesamte Saison über nicht mehr her und trug seinen Teil dazu bei, dass die Ahauser einen guten vierten Platz belegten. „Wenn wir in der Hinrunde besser gespielt hätten, wäre sogar der Aufstieg möglich gewesen“, ist sich Levchenko sicher.

Generell sei er bei der Eintracht super aufgenommen worden – und kommt selbst gut an, wie Trainer Wegener sagt: „Es macht viel Spaß mit Igor, von ihm kriegt man jeden Gefallen. Aber auch er erhält von uns Unterstützung, wo es nur geht.“ Vor allem bei den logistischen Herausforderungen. So habe allen voran Mitspieler Jan Kröger den Kriegsflüchtling auf dem Weg nach Ahaus häufig im Auto mit nach Ahaus genommen.
So froh Levchenko auch gewesen sei, in Leer so herzlich aufgenommen worden zu sein, so sehr reifte bei ihm und seiner Familie der Wunsch, in etwas besserer Infrastruktur zu leben. Schließlich musste die Familie beispielsweise für jeden Einkauf eine längere Busfahrt zurücklegen. Das sollte sich aber bald ändern: Zum 1. September zog die Familie mit dem fünfjährigen Sohn Andrei und der zweijährigen Tochter Varvara nach Ahaus.
Maßgeblich beteiligt daran war Frank Wegener, „dafür bin ich ihm sehr dankbar“, sagt der 32-jährige Torwart. Der Trainer erklärt: „Man kann sich kaum vorstellen, wie viele Telefonate notwendig sind, um das alles zu klären. Aber wir sind froh, Igor diese Möglichkeit bieten zu können und wollen ihn gern auch langfristig an unseren Verein binden.“
Mit Händen und Füßen
Bis auf Weiteres stellen sich der 32-Jährige und seine Familie darauf ein, in Deutschland zu bleiben. In der Hoffnung, dann auch die erlernten Berufe ausüben zu dürfen, doch die Abschlüsse aus der Ukraine werden bislang nicht anerkannt. „Ich habe ein Hochschuldiplom als Lehrer in einer Schule oder einem Kindergarten und möchte mich in diese Richtung bewegen“, erklärt Levchenko. Viel wichtiger sei derzeit aber die Teilnahme an Deutschkursen, für die lange Wartezeiten nötig seien.
Da es auch um sein Englisch nicht allzu gut bestellt ist, läuft die Kommunikation bei der Eintracht oft mit Händen und Füßen, „wobei Igor im Grunde alles versteht, wenn es um die Übungen im Training geht“, so Marc Lüdiger.
Die Grundlagen des Fußballs habe Igor Levchenko übrigens nicht wie seine Mitspieler schon als Kind im Verein erlernt: „Ich hatte keinen solchen Kinderfußball, ich kam aus einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Mariupol und meine Eltern hatten keine Gelegenheit, mich zum Training zu bringen. Aber ab meinem 14. Lebensjahr spielte ich auf Amateurfußballniveau für eine Mannschaft aus Mariupol.“

Umso bemerkenswerter, dass der Schnapper es trotzdem in den Profibereich schaffte. Nach mehreren Stationen in der zweiten und dritten Liga der Ukraine zog es ihn 2020 erstmals ins Ausland, zu Tesla Stropkov in die zweite slowakische Liga. Die Corona-Pandemie zwang ihn dann aber nach nur einem Jahr zur Rückkehr in die Ukraine.
Wann und ob er in naher Zukunft wieder dorthin zurückkehrt, ist absolut offen. Derzeit sei auch der Kontakt zu Freunden und Familie im Kriegsgebiet sporadisch. „Meine Mutter ist jetzt in Kiew und arbeitet dort. Es ist sehr schwierig, es gibt zwölf Stunden am Tag kein Licht. Papa arbeitet im öffentlichen Dienst in Saporoschje, es ist nicht immer möglich, mit ihm zu sprechen.“
Neuer Konkurrent im Eintracht-Tor
So bringt der Fußball zumindest regelmäßige Ablenkung und Beschäftigung. In der laufenden Saison teilt sich Levchenko den Torwartposten mit Neuzugang Rafael Romero und stand beim Tabellendritten bislang in acht Ligaspielen zwischen den Pfosten.
Kurz vor Weihnachten gab die Eintracht bekannt, die Zusammenarbeit mit Igor Levchenko sowie weiteren Leistungsträgern für die Saison 2025/26 verlängert zu haben.
Dieser Text wurde erstmals am 7. August veröffentlicht
An einige Stellen wurde der Text mit den aktuellen Daten und Fakten aktualisiert.