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Gaststätte Wissing: Eröffnung vor über 140 Jahren in Nienborg
Vom Auswanderer zum Wirt
Über 100 Jahre gehörte die Gaststätte Wissing in Nienborg praktisch zum Inventar des Heeker Ortsteils. Die Geschichte dahinter ist vielfältig und spannend. Hermann Lütke Wissing blickt zurück.
Aus seinem Wohnzimmerfenster heraus hat Hermann Lütke Wissing einen guten Blick auf die ehemalige Gastwirtschaft in der Nienborger Hauptstraße, die drei Generationen seiner Familie führten. Und obwohl im Moment hauptsächlich der Abrissbagger am Werk ist, freut er sich.
Schließlich wird es demnächst weitergehen, wenn die Familie Schwietering nach dem Umbau ein Bistro-Café dort eröffnet. Genau 140 Jahre, nachdem an dieser Adresse zum ersten Mal ein Bier ausgeschenkt wurde. Hermann Lütke Wissing hat die Geschichte des Hauses, die auch die Geschichte seiner Familie ist, bis in dieses Jahr recherchiert.
Ehemalige Tuchmacherwerkstatt
Bis 1881 war in dem Vorläuferhaus des heutigen Gebäudes eine Tuchmacherwerkstatt eingerichtet, ehe dessen Besitzer Lammers darin die Gaststätte „Zur Sonne“ eröffnete. Zur gleichen Zeit führte Hermann Lütke Wissings Großvater – der ebenfalls Hermann hieß – ein eher karges Leben. Als gelernter Zimmermann verdiente der damals 23-Jährige gerade einmal 25 Pfennig die Stunde, zu wenig, um davon eine Familie zu ernähren.
Deshalb beschloss er nach seiner Verlobung mit Anna Bewer, nach Amerika auszuwandern und sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Sobald er das geschafft hätte, sollte seine Verlobte nachkommen. Die Auswanderung startete gut: Bei der Suche nach einer Überfahrt erfuhr Hermann senior in Bremerhaven, dass auf einem Dampfer noch Heizer gesucht wurden, er nahm den Job an und konnte so im Jahr 1891 kostenlos und sogar noch mit Bezahlung den Weg über den Atlantik nehmen.
Ab in die Neue Welt
In der Neuen Welt verließ ihn zunächst das Glück: In San Francisco, wo er bei einem Onkel unterkam, fand er keine Arbeit. Als seine Rücklagen zusehends schwanden, nahm er Kontakt zu einem ehemaligen Nachbarn aus der Wext auf, der schon seit einigen Jahren in Ohio lebte. Der vermittelte ihm eine Stelle als Zimmermann – und fortan lief es für den Nienborger.
Doch gerade als er sich zwei Jahre später ein gutes Leben aufgebaut hatte und endlich seine Verlobte nachkommen sollte, wurde deren Vater bei einem Unfall mit einem Pferdefuhrwerk tödlich verletzt – und Anna Bewer wollte ihre Mutter nicht alleine in Nienborg lassen.
Rückkehr nach Nienborg
Die Liebe zu seiner Verlobten war offenbar so groß, dass Hermann Wissing (das „Lütke“ ließ er der Einfachheit halber meist einfach weg) umgehend den Heimweg nach Deutschland antrat. Dabei hatte er wieder Glück, mit seinem Arbeitsnachweis von der Hinfahrt konnte er auch auf dem Rückweg als Heizer arbeiten, sodass sein Erspartes sogar noch anwuchs.
Wieder zurück in Nienborg hatte er so viel Geld beisammen, dass er 1894 die damals leerstehende Gaststätte „Zur Sonne“ kaufen konnte. Allerdings gestaltete sich der Erwerb einer Schankkonzession unerwartet schwierig – der damalige Nienborger Amtmann Waldemar von Niebelschütz war der Ansicht, dass es im Ort schon ausreichend Schankwirtschaften gebe und verweigerte dem Heimkehrer aus Amerika die Konzession.
Fahrlässige Brandstiftung eines Mieters
Erst eine Anfrage bei Landrat Gustav Gärtner brachte Erfolg: Vielleicht nur, um dem Freiherrn von Niebelschütz, den er nicht ausstehen konnte, eins auszuwischen, erteilte der Landrat am 11. Mai 1895 die Konzession, Getränke auszuschenken.
Für den inzwischen 37-jährigen Hermann Wissing begann damit eine ruhigere Zeit als Schankwirt, die am 1. Juli 1926 jäh unterbrochen wurde: Durch die fahrlässige Brandstiftung eines Mieters, der Räume im Obergeschoss des Hauses bewohnte, wurde das Gebäude ein Opfer der Flammen.
Schnell ging es weiter
Wissing konnte es ich aber offenbar leisten, ein Heer von Handwerkern auf die Beine zu bringen, schon wenige Monate später, am 22. Dezember des gleichen Jahres, konnte die „Schenkwirtschaft“ in dem Gebäude, das auch heute noch dort steht, wieder eröffnen.
1933 übernahm Hermanns Sohn Theodor Lütke Wissing gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth die Wirtschaft. Nachdem Elisabeth bereits 1955 starb, führte Theodor den Betrieb mit seinen Töchtern Änne und Elfriede, seinem nach dessen Großvater benannten Sohn Hermann und einer Schwester weiter.
Es wurde ordentlich umgekrempelt
1963 übernahmen der damals 26-jährige Hermann und seine Frau Klärchen die bis dahin reine Schankwirtschaft in dritter Generation – und krempelten sie ordentlich um: Als erste in Nienborg boten sie auch Speisen an, erweiterten die Gaststättenräume und bauten eine zweite und dritte Kegelbahn an. Als Ende der 1980er Jahre ihr Sohn schwer verunglückte war für Hermann und Klärchen Lütke Wissing klar, dass es in der Familie keinen Nachfolger geben wird.
1989 verkauften sie das „Kegelhaus“ an das Ehepaar Jager. Vor allem die vor wenigen Wochen verstorbene Gisela „Gilla“ Jager ist vielen Nienborgern noch in guter Erinnerung. Sie führte die Gaststätte bis 2017, danach verpachtete sie sie für zwei weitere Jahre, ehe sich 2019 die Türen zum vorerst letzten Mal schlossen.