Weniger bauen statt mehr: Haltern muss die Wohnungspolitik fundamental ändern, sagt eine neue Studie. Zurzeit heize die Stadt die Immobilienpreisspirale an und die Natur leide.

Haltern

, 12.04.2021, 12:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Im Mittelpunkt einer Studie zur Siedlungs-Flächenentwicklung in Haltern, verfasst vom Institut für Wissenschaft, politische Bildung und gesellschaftliche Praxis (IWiPo) NRW, steht die grundsätzliche Frage: Wie viel Fläche wird tatsächlich für Wohnen und Gewerbe benötigt und wie viel Landschaft darf überhaupt noch verantwortlich verbraucht werden. Verfasser ist Diplom-Ingenieur sowie Stadt- und Regionalplaner (im Ruhestand) Wilhelm Neurohr aus Haltern-Lavesum.

Die Studie liefert vielfältige Betrachtungen mitsamt Zahlen, Daten und Fakten als hilfreiche Entscheidungskriterien und -grundlagen als Gedankenanstoß für die kommunalpolitischen Diskussionen in Haltern am See. Dies erfolgt auch mit mahnendem Blick auf die Erhaltung der Wohn- und Lebensqualität und der gefährdeten ökologischen Lebensgrundlagen in der naturnahen Stadt sowie mit einem Plädoyer für eine konsequente und vorausschauende Nachhaltigkeitsstrategie auch in der konfliktträchtigen Planungs-, Bau- und Siedlungspolitik.

Empfohlen wird im Rahmen der Ausführungen eine „Zukunftswerkstatt“ für nachhaltige Stadtentwicklung mit Bürgern und Akteuren in der Stadt zu dem gesamten Themenfeld Klima- und Flächenschutz und Verkehrswende. Wilhelm Neurohr wirft Politik und Verwaltung mangelndes Problembewusstsein vor und fordert ein radikales Umdenken hin zu einem qualitativen statt quantitativen Wachstum mit verbindlichen Nachhaltigkeitszielen. Im Folgenden einige Auszüge aus den Thesen der Studie.

„Haltern näher sich den teuersten Großstädten an“

Haltern liegt (bei überdurchschnittlicher Bautätigkeit) mit 62% Ein- und Zweifamilienhäusern und nur 35% Mehrfamilienhäusern Landes- und bundesweit bei den Eigenheimen weit über dem Durchschnitt und bei den Mietshäusern weit unter dem Durchschnitt. Bei den Sozialwohnungen liegt Haltern mit nur 4% deutlich unter allen Kommunen ähnlicher Größenordnung. Für Neubau-Komfortwohnungen in Haltern werden inzwischen Kaltmieten bis 12,50 €/qm verlangt; damit nähert sich Haltern den teuersten deutschen Großstädten an.

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Zwischen Haltern und den Ruhrgebietsstädten findet ein sozialer Bevölkerungsaustausch (Segregation) statt, so die Studie. Das gehe zurück auf die Boden- und Mietpreisexplosion wie in keiner anderen Stadt der Region. Auf dem spekulativen Immobilienmarkt in Haltern mache sich geradezu eine „Goldgräberstimmung“ breit.

Die Thesen: „Eine Konkurrenz um Flächen und Einwohner“

Vergeblich votierten bereits in 2012 die Nachbarstädte im Kreis mit Einwohnerverlusten für eine einheitlich abgestimmte Baupolitik, um sich nicht gegenseitig Einwohner wegzunehmen in Zeiten rückläufiger Bevölkerungsentwicklung. Die Konkurrenz um Flächen und Einwohner ist ein unsinniges und kostspieliges Nullsummenspiel, bei dem am Ende die Landschaft, das Klima und der Artenschutz die Verlierer sind.

Die Studie sagt: „Wohnen frisst Land, das Artensterben schreitet dramatisch voran mit schwerwiegenden ökologischen Folgen.“

Die Studie sagt: „Wohnen frisst Land, das Artensterben schreitet dramatisch voran mit schwerwiegenden ökologischen Folgen.“ © NABU Haltern am See

Wenn weiterhin eine Vielzahl von Zuzüglern aus dem Ruhrgebiet in eben dieser Erholungslandschaft in Haltern wohnen möchte und diese sogar gezielt angelockt werden, wäre in absehbarer Zeit die verbaute Landschaft dezimiert und entwertet. In Wirklichkeit ist die Stadt Haltern längst an ihre verträglichen Wachstumsgrenzen angelangt.

„In Haltern wird flächenintensiv gewohnt“

Mit einer durchschnittlichen Wohnfläche in Haltern von insgesamt 104 qm und nahezu 50 qm pro Person wohnt man in Haltern sehr geräumig und über dem Bundesdurchschnitt von 45qm pro Person. Fast 10.000 von insg. 18.000 Wohnungen in Haltern haben über 5 bis 7 und mehr Wohnräume und somit sehr großzügige Wohnflächen, obwohl die durchschnittliche Haushaltsgröße nur 2,1 Personen in Haltern umfasst. Die Wohnungsbaupolitik in Haltern konzentriert sich folglich auf exklusives und flächenintensives Wohnen.

„Wertvolle Gewerbeflächen werden verschwendet“

Das aktuelle Einzelhandelskonzept für Haltern belegt, dass ca. ein Drittel der wertvollen Gewerbeflächen in Haltern für dezentrale Einzelhandelsbetriebe (in Konkurrenz zur Innenstadt) verschwendet wurden. Die eingeschossigen Bauweisen und großen Parkplätze und mangelnde interkommunale Kooperation stehen einer flächensparenden Gewerbeansiedlungspolitik entgegen.

Die Studie fragt: „Welche flächensparenden Alternativen gibt es zur herkömmlichen Gewerbeflächenplanung?“ Unser Foto zeigt das Gewerbegebiet am Münsterknapp.

Die Studie fragt: „Welche flächensparenden Alternativen gibt es zur herkömmlichen Gewerbeflächenplanung?“ Unser Foto zeigt das Gewerbegebiet am Münsterknapp. © www.blossey.eu

Der Einfluss privater Investoren und Vorhabenträger hat sich verstärkt, die Stadt hat ihre Planungshoheit weitgehend an Bauherren abgetreten, ... die Städte verstehen sich immer mehr als bloßer Dienstleister für die Bauunternehmen und privaten Bauträger. Städtebauliche Ideenwettbewerbe oder Architektenwettbewerbe zugunsten der bestmöglichen Gestaltungslösungen sind leider „völlig aus der Mode gekommen“ oder erscheinen der Stadt aus Personalmangel zu aufwendig, zu zeitraubend und kostspielig. Sie machen sich aber am Ende bezahlt, es sei denn, man liebt die Auseinandersetzungen über die unangepassten Wohnklötze der Rendite-Jäger in Haltern.

Laut Studie braucht Haltern keine neuen Wohngebiete, die Stadt sei längst an ihre verträglichen Wachstumsgrenzen gestoßen.

Laut Studie braucht Haltern keine neuen Wohngebiete, die Stadt sei längst an ihre verträglichen Wachstumsgrenzen gestoßen. © picture alliance / Jens Büttner

Mit Blick auf die Alterung der Bevölkerung und die Vielzahl von Ein- und Zweipersonen-Haushalten könnten in Haltern eher kleinere, altersgerechte Wohnungen statt noch mehr Einfamilienhäuser im Grünen gebraucht werden. Vor allem aber fehlen bezahlbare Mietwohnungen und Sozialwohnungen, wenn nicht einkommensschwächere Bevölkerungsschichten aus Haltern weiterhin verdrängt werden sollen. Mit der Sanierung und dem Umbau im umfangreichen Altbau-Bestand in der Stadt eröffnen sich Perspektiven. Empfehlenswert ist ein aktives Baulandmanagement.

„Halterns Siedlungspolitik - ein Weiter so?“

Die Kommunalpolitiker rufen nach planerischer Ausweitung der Flächenangebote für Wohnen und Gewerbe im Stadtgebiet, um genügend Angebote für die hohe Nachfrage nach dem Wohnen im „grünen Haltern“ zu unterbreiten. Darin sind sich im Halterner Rat die CDU, SPD, FDP und WHG weitgehend einig, mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen. Das würde jedoch in der Siedlungspolitik quasi ein wachstumsorientiertes „Weiter so“ wie bisher bedeuten. Was sind die Beweggründe für die gegenläufige Forderung von Kommunalpolitikern nach weiterhin expansiver Siedlungsflächenpolitik?

Das Institut und sein Präsidium

Das Gemeinnützige Institut iWiPo formte sich aus der grundsätzlichen Überlegung heraus, Wissenschaft und Bildung einerseits zu unterstützen, sich ihrer gewichtigen, gemeinnützigen Bedeutung zu erinnern, ökonomisch und politisch unabhängig, immun gegen Beeinflussungen des Zeitgeistes und lediglich dem Allgemeinwohl verpflichtet und anderseits, den politischen Bildungsprozess an der gesellschaftlichen Praxis und umgekehrt zu messen. Dem Präsidium gehören neben Wilhelm Neurohr auch Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup, Dr. Uli Brack, Martina Ruhardt und Manfred Schwirske an.