Haltern als Sinnbild der Germanwings-Tragödie Unseriöser Journalismus und viel Anteilnahme

Haltern am See als Sinnbild der Germanwings-Tragödie
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Es ist 15.30 Uhr, als Bodo Klimpel am 24. März 2015 vor die Tür des Joseph-König-Gymnasiums (JKG) tritt. Dort warten bereits viele Journalisten auf die Stellungnahme des damaligen Bürgermeisters von Haltern am See. „Wir sind alle völlig erschüttert“, sagt er sichtlich schockiert in viele Mikrofone, die zusammen mit Kameras auf ihn gerichtet sind.

Erst fünf Stunden sind seit dem durch den Co-Piloten herbeigeführten Absturz der Germanwings-Maschine vergangen und die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger sind schon im Zentrum der weltweiten medialen Aufmerksamkeit.

Auch wir, die Redakteurinnen und Redakteure der Halterner Zeitung am Gantepoth, stehen wie der Rest der Stadt unter Schock. Kennen wir doch direkte Angehörige der 16 Schülerinnen und Schüler sowie die zwei Lehrerinnen, die der lebensmüde Co-Pilot aus dem Leben gerissen hat. Doch uns ist sofort klar: Wir müssen berichten. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unser Job. Die Frage ist: Wie wollen wir berichten?

Schnell treffen wir wegweisende Entscheidungen für unsere Berichterstattung: Wir verfügen über Kontakte zu Angehörigen und Schülern, aber wir nutzen diese nicht für Klicks und maximale Aufmerksamkeit aus und bedrängen die Betroffenen nicht.

Fotos veröffentlichen wir nur von den offiziellen Menschen. Trauernde Schüler zeigen wir ohne Gesicht. Wir wollen für seriösen und nicht sensationsheischenden Journalismus stehen. Wie richtig wir damit liegen, wird sich schnell zeigen. Denn schon am nächsten Tag gibt es Kritik an der Arbeitsweise einiger Reporter.

Ein Reporterteam steht vor der Tür von betroffenen Eltern und will ein Interview. Am Bahnhof werden Schüler des Gymnasiums abgefangen: Ihnen wird Geld geboten, wenn sie Fotos in der Schule machen. Die Reporterinnen und Reporter werden mit rot-weißem Flatterband vom Betreten des Schulhofes und des Gebäudes abgehalten. Es wirkt, als sei das Gymnasium umstellt. Nur Journalisten unserer Redaktion dürfen in die Schule, weil wir uns über Jahre ein Vertrauensverhältnis erarbeitet haben.

Mika Baumeister, ein ehemaliger JKG-Schüler, beschreibt die Situation in einem damals viel beachteten Online-Artikel so: „Um 17:30 […] ging dann das an einen Zoo erinnernde Schauspiel los: Die Presse hinter ihren Absperrungen begaffte uns Schüler – vergleichbar mit exotischen Tieren im Tierpark und neugierigen Besuchern. Trotz einer immer noch fehlenden 100%igen Bestätigung des Todes gab es bereits jede Menge Tränen. Wir fühlten uns, als würde die Presse nur auf unsere Reaktion zur endgültigen Affirmation warten, um zerstörte Menschen abzufilmen. […] Und was machen die Medien? Großaufnahmen von Leidtragenden!“

Boulevard-Zeitung stiehlt Foto

Auch die Halterner Zeitung wird Opfer von unseriöser Pressearbeit. Während wir darauf verzichten, die Verstorbenen mit Archiv-Aufnahmen in der Zeitung und im Internet abzubilden, stiehlt eine Boulevard-Zeitung ein Foto aus unserem Online-Archiv. Es zeigt eine der beiden verstorbenen Lehrerinnen bei der Abi-Feier ein Jahr zuvor. Für den dreisten Klau muss die Zeitung eine vierstellige Summe an uns zahlen. Wir geben das Geld weiter an die Schule.

Überhaupt gibt es schnell Fragen nach einem Spendenkonto. Wir können vermitteln. Außerdem erklären wir, wie man sein Facebook-Profil abschirmt. Denn auch im sozialen Netzwerk hat die Jagd nach Fotos der getöteten Schülerinnen und Schüler längst begonnen. Einige Medien wollen zudem Kontaktdaten von Betroffenen von uns. Wir geben sie nicht heraus.

Nach dem Germanwings-Absturz 2015: Übertragungswagen verschiedener Medien vor der Schule in Haltern.
Vor der Schule in Haltern standen viele Übertragungswagen. © Jürgen Wolter (Archiv)

Dieser Text soll aber nicht als Kollegenschelte verstanden werden. Denn trotz der negativen Beispiele verhalten sich die meisten Journalistinnen und Journalisten absolut richtig.

Und auch wir machen Fehler: Kritik gibt es an der Überschrift im überregionalen Teil unserer Zeitung: „Haltern am Schmerz“ steht dort geschrieben. „Bei so einem Unglück darf man keine Wortspiele machen“, heißt es aus der Leserschaft. Stimmt.

Ein Lichtblick in diesen dunklen Tagen: Während das öffentliche Leben in Haltern buchstäblich stillsteht und Reporterteams aus der ganzen Welt das Bild an der Schule und in der Innenstadt prägen, ist die Anteilnahme riesig.

Für viele Trauernde sind wir die erste Anlaufstelle. Sie fühlen sich der Stadt verbunden. Uns erreichen hunderte E-Mails und Facebook-Nachrichten von Menschen aus beispielsweise Italien, Ägypten, Australien oder den USA. Sie wollen einfach ihr Beileid ausdrücken und wissen nicht, wohin sonst mit ihren Gedanken und Gefühlen.

Wir entscheiden uns dazu, exemplarisch 26 dieser persönlichen Nachrichten in der Zeitung abzudrucken. Ein von uns eingerichtetes Trauerportal bricht unter dem Ansturm zusammen. Unsere kostenlose PDF-Ausgabe vom 25. März wird zehntausende Male heruntergeladen. Unsere Online-Berichterstattung wird 250.000-mal geklickt.

Eine Doppelseite der Halterner Zeitung mit Nachrichten aus der ganzen Welt zum Germanwings-Absturz
Menschen aus der ganzen Welt schickten nach dem Germanwings-Absturz Worte der Anteilnahme und des Trostes an unsere Redaktion. Wir veröffentlichten einige davon auf einer Doppelseite. © Benjamin Glöckner

Auch in einem anderen Moment wird uns klar, wie wichtig unsere Arbeit bei der Verarbeitung des Unglücks ist: An einem Nachmittag steht plötzlich eine Frau mit Blumen in der Hand in unserer Redaktion. Ohne ein Wort zu sagen, geht sie zu jedem Schreibtisch und legt eine Blume ab. Nach einem kurzen Blickaustausch verlässt sie uns wieder. Die Dankbarkeit, die sie uns in diesem Moment zeigt, bleibt in unseren Herzen zurück.

Und das ist rückblickend einer der schönen Momente in den vier intensiven Tagen nach dem Absturz, die auch uns psychisch maximal belasten. Aber danach kommen wir und die Stadt etwas zur Ruhe.

Wichtiger als jede Schlagzeile

Die Reporter aus der ganzen Welt sind verschwunden. Sie jagen nun anderen Geschichten nach. Wir als Halterner Zeitung bleiben. Und haben in unseren Berichten den Ton getroffen, den die Stadt damals braucht. Denn uns ist der einfühlsame Umgang mit den Trauernden wichtiger als jede Schlagzeile.

Und das soll auch in den folgenden Jahren bis heute so bleiben, wenn wir über die schreckliche Tragödie berichten, die immer noch schmerzt und bis heute nicht nur in Haltern am See unvergessen ist.

Doch viel wichtiger ist die Erinnerung an die 16 Halterner Kinder und die zwei Lehrerinnen des Gymnasiums. Gerade ihnen möchte man auch zehn Jahre danach noch zurufen: Ihr bleibt unvergessen!

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