Will ich mein Kind fürs Klima streiken lassen? Darf ich das überhaupt erlauben? Und gehe ich mit? Ein Essay.
Freitag für Freitag gehen in vielen Städten und Ländern junge Menschen auf die Straße, um gegen die bislang verpassten Chancen zur Rettung des Klimas und für eine radikale Neuausrichtung der Umweltschutzpolitik, des Konsums und der (Energie-)Wirtschaft zu demonstrieren: #fridaysforfuture ist eine Bewegung, die in Haltern (noch) nicht angekommen ist, aber einige Schülerinnen und Schüler fahren nach Recklinghausen, wenn dort eine Demonstration stattfindet. Aber ist das erlaubt? Wer ist verantwortlich? Was sagt man als Eltern? Rechtlich, emotional, politisch – ein rundum schwierige Entscheidung.
Als ich 13 Jahre alt war, fürchteten wir den Ausbruch des Zweiten Golfkriegs, beobachteten die Entwicklungen in Kuwait, warteten bangend auf das Ende des Ultimatums – und hielten eine Mahnwache ab. Mit Teelichtern in der Hand, auf dem Marktplatz in Datteln. Interessiert hat unsere Meinung und unsere Angst wenige. In der Zeitung gab es eine Solobildzeile über den Protest. Aber hätten wir so jemals einen Einfluss auf mächtige Politiker und Kriegsherren nehmen können? Nein. Auch die internationale Studentenbewegung der „68er“ – ungleich größer natürlich und umfassender und nicht immer gewaltfrei – hat wenige ihrer Nah- und Fernziele erreicht, wohl aber einen längerfristigen kulturellen Wertewandel herbeigeführt. Das ist ein Einfluss, den vielleicht auch die #fridaysforfuture-Bewegung nehmen kann. Wie stark, das wird die Zukunft zeigen.
Gegen das Desinteresse an Leben, Umwelt und Wirtschaft
Es ist grundsätzlich wichtig, dass Kinder und Jugendliche ihre Meinung kundtun und sich einsetzen – nichts ist beunruhigender als Desinteresse an Leben, Umwelt, Zukunft und – in der Tat – Bildung. Dass all diese Aspekte mit Politik und Wirtschaft (und dem kritischen Auseinandersetzen mit ebendiesen) verknüpft sind, muss Kinder noch nicht interessieren – aber sie sollten wissen, dass sie nicht achselzuckend hinnehmen müssen, was auf dieser Erde passiert. Was ist passiert seit meiner Jugend? Ich habe mich verlassen. Auf andere. Habe geglaubt, Politiker, Eltern, Lehrer, Entscheider, Firmenbosse – all die, die Großen, die machen das schon. Haben die doch in den 80ern schon gesagt. Aber die haben noch versucht, die Ursachen der schnellen Erwärmung auf natürliche Prozesse wie zum Beispiel Vulkanismus zu schieben. Der Haken: In den zurückliegenden 150 Jahren war der Vulkanismus allerdings nicht ausgeprägter als in den Jahrhunderten zuvor.
Jetzt bin ich also eine von den „Großen“. Und habe bislang getan: Nichts. Nicht wirklich zumindest. Außer mich am Küchentisch über den Dieselskandal aufzuregen und über die Müllflut in den Ozeanen. Als Alva mich fragt – meine Tochter ist zehn, fast elf Jahre alt –, ob sie auch nach Recklinghausen darf zur #fridaysforfuture-Demo, bin ich zuerst begeistert. Und dann verunsichert. Will ich wirklich, dass sie das tut? Darf ich ihr das erlauben? Und gehe ich mit?
Ja, ich will das. Ich will ihren Einsatz und ihr Interesse nicht bremsen. Sie liest und schaut, so oft es geht, Kindernachrichten und zeigt die im jungen Alter noch ungefilterte Wut darüber, dass es unserer Natur und Umwelt nicht gut geht, deutlich. Sie liest Bücher zum Thema und fragt nach, wenn sie etwas nicht versteht. Sie ist – wie ich – bestürzt, dass der Sohn von Freunden in seiner Klasse gemobbt wird, weil er sich für die Umwelt einsetzt. Was sagt das über das Elternhaus der Mitschüler? Ich will, dass meine Tochter ihr Unrechtsbewusstsein nicht verliert. Und weiß, dass ich mich wappnen muss. Fragen wie „Warum habt ihr es soweit kommen lassen?“ werden kommen. Und ich weiß wirklich nicht, was ich dann antworten soll. Bequemlichkeit, Blauäugigkeit, Egoismus, Blindheit? Sind das gute Entschuldigungen? Ich glaube: nein.
Pro Fehltag drohen zwischen 80 und 150 Euro Bußgeld
Darf ich ihr also erlauben, nach Recklinghausen zu fahren und an der #fridaysforfuture-Demo teilzunehmen? Eigentlich nein. Auf Anfrage der Westdeutschen Zeitung hieß es aus dem NRW-Schulministerium, dass „zivilgesellschaftliches Engagement und demokratisches Handeln von Schülerinnen und Schülern zu begrüßen sind“. Allerdings: „Eine Verletzung der Schulpflicht kann gemäß dem Runderlass zur Überwachung der Schulpflicht verschiedene erzieherische Maßnahmen nach sich ziehen. Unentschuldigtes Fehlen wird auf dem Zeugnis dokumentiert“, heißt es vom Schulministerium.
Ein Bußgeld kann fällig werden, in NRW „pro Fehltag zwischen 80 und 150 Euro“. Nur wenn ich sie ganz zuhause lasse, würde die Aktion als kompletter Fehltag in den Akten auftauchen. Alva müsste ja nur zwei Stunden fehlen, der Zug von Haltern geht direkt nach der zweiten großen Pause nach Recklinghausen. Wir besprechen das, während Alva an ihrem Plakat bastelt. „Okay, ich verlasse das Schulgelände also erst nach der vierten Stunde, und treffe dich am Bahnhof?“ Ja, und ich informiere die Klassenlehrerin über unser Vorhaben. Denn: Die Aufsichtspflicht liegt während der Unterrichtszeiten bei der Schule. Verlässt ein Kind das Gelände ohne Wissen des Lehrpersonals, müsste eine Suche begonnen werden.
Am Vormittag des ersehnten Freitags klingelt mein Telefon, die Klassenlehrerin ist dran: „Unabhängig von meiner persönlichen Meinung“, so sagt sie und ich vermute, sie findet das gut, ohne das sagen zu können, „ist die Bezirksregierung bei diesem Thema rigoros. Ich werde Alva für die betreffenden Stunden als unentschuldigt eintragen und sie wird den Stoff der Fehlstunden selbstständig nacharbeiten müssen.“ Alva ist kurz geknickt (wegen des Eintrags für unentschuldigtes Fehlen), aber für uns als Eltern ist das völlig in Ordnung – in der Erwartung, dass in acht Jahren oder noch später vermutlich niemand mehr nach ein paar unentschuldigten Fehlstunden fragen wird. Wohl aber unsere Kinder, wenn der Klimawandel bis dahin immer unaufhaltbarer andere Prioritäten als Bildung in den Vordergrund rückt. Ganz plakativ: Wollen wir wirklich in acht Jahren oder nur wenig später über überschwemmte Länder in Europa in den Nachrichten schockiert sein? Hitzewellen und Wassernotstand ertragen? Gar Krieg deswegen führen? Ich bin ziemlich sicher: nein.
„Wir sind hier. Wir sind laut. Weil man(n) uns die Zukunft klaut“
Ich scrolle durch die Facebook-Posts der #fridaysforfuture-Bewegung in Recklinghausen. Bislang ist es dort – und in den vielen anderen Städten – sehr friedlich zugegangen. Die frechsten Parolen sind „Leute, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein“ und „Ihr habt verschlafen, wir sind der Wecker“ – und nicht wirklich ein Aufruf zur Gewalt. Auch „Hopp, Hopp, Kohlestopp!“ und „Klimaschutz im Höhenflug, Jugendliche sind am Zug“ erfüllen nicht die Kriterien eines Rufs nach Anarchie oder radikalpolitischem Umsturz. Der, so wissen die Jugendlichen, findet an den Wahlurnen statt. Die Wählerstimmen der Unter-30-Jährigen bei der Europawahl haben das deutlich bewiesen. Aber das wusste ja noch keiner mit Sicherheit am letzten Freitag – nur dafür Werbung gemacht haben die etwa 600 jungen Leute in Recklinghausen auch. Und mittendrin dabei: Alva. Mit ihrem Plakat: „Wir sind hier. Wir sind laut. Weil man(n) uns die Zukunft klaut.“
In der Süddeutschen Zeitung lese ich: „Erst Studenten, dann Prominente, Wissenschaftler und etliche Lehrer – nun die Eltern: Die Schülerbewegung ‚Fridays for Future‘ erhält immer mehr Unterstützung. ‚Es darf kein einziges weiteres Schuljahr vergehen - nicht einmal beginnen! -, in dem unsere Kinder weiter Angst um ihre Zukunft haben müssen‘, sagt die Berlinerin Sabine Ponath von ‚Parents For Future‘. Die Elternvereinigung ist eine Graswurzelbewegung mit nach eigener Aussage mehr als 4500 aktiven Eltern, die sich Anfang 2019 zum Ziel gesetzt haben, die streikenden Schüler zu ermutigen.“
Am Halterner Bahnhof bin ich die einzige Mutter, die ihr Kind begleitet. Zwei weitere Schülerinnen – Lilù, 12, und eine Freundin – steigen mit uns in den Zug, und eine Frau, die als Privatperson demonstrieren wird: Maaike Thomas. „Ich finde, das ist eine ganz tolle Bewegung und wir müssen sie für unsere Kinder und Enkel unterstützen.“ In Recklinghausen gehen weitere Erwachsene mit, die mit keinem der Kinder verwandt oder bekannt sind. Aus Prinzip. Unter ihnen auch Schauspielerin Christine Sommer.
Referate über den Klimawandel fürs Schwänzen
Aber wie machen das sonst die anderen Eltern und Schulleitungen? Ich höre mich um, unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Demo. „Bei uns an der Schule gab es Strafarbeiten für alle, die hier beim letzten Mal mitgegangen sind“, sagt ein Mädchen. „Aber das war cool: Wir mussten Referate über den Klimawandel schreiben.“ Clever, die haben einfach aus der Not eine Tugend gemacht. Wie die Kunstlehrer einer anderen Schule, in deren Unterricht einige der stärksten Plakate entstanden sind.
Zusammen mit hunderten anderen Schülerinnen und Schülern ziehen Alva und auch Lilù mit durch Recklinghausen, hüpfen auf Kreuzungen („Wer nicht hüpft, der ist für Kohle, hey, hey!“) und halten die ganze Zeit tapfer ihre Schilder hoch. Auf Lilùs steht: „There is no Planet B!“ Zwei Stunden und eine Kundgebung vor dem Rathaus später ist alles vorbei. Wir fahren mit dem Zug nach Hause. Mein Kind war für zwei Stunden eine friedliche Aktivistin. Hoffentlich bleibt sie eine. Meinen Segen hat sie.
Lesen für eine Klimafreundlichere Welt
- Wenn ich Kanzler(in) von Deutschland wär ...: Die besten Antworten auf Kinderfragen zur Politik (von Jan von Holleben und Lisa Duhm), 16,99 Euro; Ein Sachbuch für Jungen und Mädchen ab 9 Jahren zu den wichtigsten Themen der Politik. Es informiert über die verschiedenen Regierungssysteme, die Wahlen, die Parteien und die Europäische Union. Die Fragen wurden in Kooperation mit weiterführenden Schulen gesammelt und von Lisa Duhm beantwortet, Redakteurin von „Dein SPIEGEL“. Besonders anschaulich wird es durch die zahlreichen begleitenden Fotos von Jan von Holleben, der die Bilder in Workshops mit über dreißig Kindern erarbeitet hat.
- Unsere Erde unter Druck: Bevölkerungswachstum – Ressourcenknappheit – Klimawandel (von Dr. Tony Juniper), 19,99 Euro; Bevölkerungswachstum, schwindende Ressourcen und Klimawandel gehören nur zu einigen von unzähligen Aspekten, die unseren Planeten gefährden. Doch wie ernst ist die Lage wirklich? Dieses Buch nimmt all die komplexen Phänomene, die unsere Erde gefährden, genau unter die Lupe. Was passiert wirklich mit unserem Planeten? Der international renommierte Aktivist, Nachhaltigkeitsexperte und Umweltschützer Dr. Tony Juniper geht dieser Frage sorgfältig auf den Grund und erklärt leicht verständlich, welchen Einfluss Bevölkerungsexplosion und Konsumverhalten auf den Klimawandel und die Umwelt haben. Über 1000 Grafiken machen dabei auch die Hintergründe deutlich und helfen dabei, deren tiefgreifende Konsequenzen zu durchschauen.
Mareike Graepel ist Journalistin, Autorin und Übersetzerin, seit 2017 selbstständig. Die Mutter von zwei Töchtern lebt teils in Haltern, teils in Irland. Von der Grünen Insel berichtet sie für DEINE KORRESPONDENTIN und die dpa. Am liebsten schreibt sie über Kultur, Gesellschaft und Umwelt.
