60 Jahre SPD-Wahlsiege in Serie Warum es im Wahlkreis 121 erstmals ein offenes Rennen wird

60 Jahre SPD-Wahlsiege: Warum es im Wahlkreis 121 erstmals eng wird
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Frustrierte CDU-Leute haben in den 1970er- und 1980er-Jahren übers Ruhrgebiet gefrotzelt: In einer Zechensiedlung könnte die SPD auch eine Schippe als Kandidaten aufstellen; sie würde gewählt. Sachlicher formuliert heißt das Schippen-Phänomen „strukturelle Mehrheit“. Genauso wie es im katholisch und bäuerlich geprägten Münsterland strukturelle CDU-Mehrheiten gibt, also Serien-Wahlsiege der CDU-Kandidaten, gibt es in vielen Ecken des Ruhrgebiets Großstadt-, Studenten- und Arbeiter-Milieus, die hier seit den 1960er-Jahren immer für SPD-Siege sorgten, wenn es um die Direktkandidaten für den Bundestag ging. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Bundestagswahl 2025: Brian Nickholz im Gespräch bei der Wahlarena im Wahlkreis 121.
Brian Nickholz (SPD) im Gespräch bei der Wahlarena zur Bundestagswahl 2025 im Wahlkreis 121. © Jörg Gutzeit

Viele kennen sie noch: Waltraud Lehn aus Marl, Horst Niggemeier aus Datteln, Michael Groß aus Marl – nur drei Namen profilierter SPD-Kandidaten, die die letzten 16 Bundestagswahlen im Wahlkreis 121 in Folge gewonnen haben, und bis vor 20 Jahren waren dies deutliche Wahlsiege, teils mit über 50 Prozent der Stimmen. Doch dann mussten im Ruhrgebiet immer mehr Zechen schließen, die Arbeiter- und Gewerkschafter-Milieus schrumpften und in Berlin stand ab 1998 der „Basta-Kanzler“ Schröder im Brioni-Anzug für eine andere SPD, als man sie in Herten, Marl oder Datteln kannte. Das alles ließ die strukturelle Mehrheit der SPD langsam bröckeln.

Michael Groß holte 2013 noch 45,7 Prozent, 2017 dann 41,1 Prozent. Zwischen beiden Wahlen lag das Aus für Auguste Victoria, die letzte aktive Zeche im Kreis Recklinghausen. Groß‘ Nachfolger Brian Nickholz, ebenfalls aus Marl, gewann das Direktmandat 2021 in der scheinbar sicheren SPD-Hochburg nur noch mit 37,4 Prozent aller Stimmen. Kurioserweise profitierte die CDU kaum vom schleichenden Niedergang der SPD. Nickholz‘ CDU-Herausforderer Lars Ehm aus Oer-Erkenschwick landete 2021 bei 28,1 Prozent – also satte neun Prozentpunkte hinter Nickholz. Doch die Zeiten haben sich erneut geändert.

Michael Groß im Gespräch mit einem Redakteur unserer Zeitung.
Der Marler Michael Groß (SPD) war vor Brian Nickholz dreimal Wahlsieger im „roten“ Wahlkreis 121, saß von 2009 bis 2021 im Bundestag. © Christian Pozorski

Beide Direktkandidaten von SPD und CDU, Nickholz und Ehm, haben mehr Stimmen geholt als ihre jeweilige Partei: Nickholz 11,7 Prozentpunkte mehr als die Bundes-SPD und Ehm 4,0 Prozentpunkte mehr als die Union. Auf den kommenden Wahlsonntag projiziert, sieht das für Brian Nickholz erst einmal beruhigend aus. Doch das krachende Scheitern der Ampel-Koalition nach langen öffentlich geführten Streitereien hat Folgen: Die SPD kommt in der wohl bekanntesten aktuellen Prognose, der „Sonntagsfrage“ von Infratest-Dimap, zum Beispiel nur noch auf 14 Prozent, die CDU auf 32 Prozent der Stimmen.

Zur Einordnung der Zahlen zur Sonntagsfrage im ARD-DeutschlandTrend ist aber wichtig: Die Schwankungsbreite beträgt in der Regel rund zwei Prozentpunkte, und sie gilt bundesweit, ist also nicht 1:1 auf einzelne Wahlkreise übertragbar.

Dennoch macht sie deutlich: Brian Nickholz muss wohl erheblich mehr Erststimmen bekommen als die SPD an Zweitstimmen gewinnt, um ein zweites Mal als Abgeordneter für Herten, Marl, Haltern, Oer-Erkenschwick und Datteln nach Berlin zu gehen. Und selbst wenn Lars Ehm diesmal nicht mehr Stimmen als seine Partei bekommt, hat der CDU-Mann eine Chance.

Bundestagswahl 2025: Lars Ehm im Gespräch bei der Wahlarena im Wahlkreis 121.
Lars Ehm (CDU) im Gespräch bei der Wahlarena im Wahlkreis 121. © Jörg Gutzeit

Keine Sicherheit durch Listenplätze

Das ist schon historisch. Der letzte Wahlsieg eines CDU-Kandidaten im nördlichen Ruhrgebiet war 1961. FDP, Grüne oder noch jüngere Parteien wie die AfD landeten im Wahlkreis 121 mit ihren Direktkandidaten für den Bundestag stets abgeschlagen auf den Plätzen drei und vier, auch wenn die AfD nun Rückenwind verspürt und sogar zweitstärkste Kraft werden könnte.

Ab Platz zwei heißt es bei dieser Wahl jedoch definitiv: zu Hause bleiben! Alle Direkt-Kandidaten für den Wahlkreis von Datteln bis Herten sind nicht über aussichtsreiche Listenplätze ihrer Parteien abgesichert. Das heißt: Nur einer wird gewinnen, und zwar der Kandidat mit den meisten Erststimmen in dem Bundestagswahlkreis, der für Wikipedia noch die „sichere SPD-Hochburg“ ist.

Neues Szenario: Keiner wird gewinnen

Aber: Vielleicht ist der Sieg nichts wert. Nach der jüngsten Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestags kann es erstmals auch passieren, dass keiner der Direkt-Kandidaten aus dem Wahlkreis 121 das Ticket nach Berlin buchen darf. Denn zusätzlich zum Erststimmen-Sieg muss jetzt auch die Partei des Siegers genug Zweitstimmen für die Sitze aller ihrer direkt gewählten Kandidaten erreicht haben. Erstmals seit 1949 werden somit einige Wahlkreise wohl ohne Direktmandat bleiben.

Einfacher formuliert: Holt eine Partei 20 Prozent der Zweitstimmen, bekäme eine Partei abhängig vom Gesamtergebnis ca. 26 Sitze im Parlament. Gewinnen 26 Kandidaten ihren Wahlkreis, ziehen alle ein und keiner über die Liste. Gibt es 27 Wahlkreissieger, werden die Abgeordneten mit dem schlechtesten Ergebnis gestrichen; auch wenn sie ihren Wahlkreis knapp gewonnen haben.

Je deutlicher also der Erfolg des Wahlsiegers im Wahlkreis 121 ausfällt, desto wahrscheinlicher ist er kein Streichkandidat und er oder sie kann in den Bundestag einziehen. Ein sehr knapper Wahlsieg des CDU-Mannes Lars Ehm, mag er nach 60 Jahren der SPD-Serienerfolge noch so historisch sein, könnte also dazu führen, dass gar kein Politiker die Menschen in Herten, Marl, Haltern, Oer-Erkenschwick und Datteln direkt in Berlin vertritt. Das Motto: Nur einer kann gewinnen – es müsste neu formuliert werden.

Bundestagswahl 2025: Die Direktkandidaten der Bundestagsparteien im Wahlkreis 121 sind Tom Jonas Roehl (FDP), Robin Conrad (Grüne), Lars Ehm (CDU), Brian Nickholz (SPD), Sandra Bücken-Kramps (Linke) und Carsten Hempel (AfD).
Sie gehen als Direktkandidaten der Bundestagsparteien in den fünf Städten ins Rennen: (von links) Tom Jonas Roehl (FDP), Robin Conrad (Grüne), Lars Ehm (CDU), Brian Nickholz (SPD), Sandra Bücken-Kramps (Linke) und Carsten Hempel (AfD). © Collage/MZ

Viel Konsens, wenig Reibung: Wirtschaft ist bei Wahlarena zur Bundestagswahl 2025 kein Thema