Zeit für Nachtisch. Dirk und Christoph Balke haben sich mit ihrem Citroen HY (Baujahr 1954) durch Münsters Stadtverkehr laviert, rumpeln über das alte Kopfsteinpflaster auf ein Tor zu, das Menschen kurz oder lang von ihrem Leben in Freiheit trennt. Vater und Sohn, Bäcker aus Haltern am See, haben eine Fracht an Bord, die gleich richtig gute Laune machen und Kindheitserinnerungen wecken wird.
Mit ihrem alten italienischen Eisfahrrad „Carrettino“, vor sechs Jahren in München von Italienern erstanden, rollen sie auf ein großes Eisentor zu. Es öffnet sich nach Anforderung und verschließt sich sofort wieder hinter ihnen. Dirk und Christoph Balke gehen in den Knast.
Ausweise und Handys müssen sie abgeben, auch das letzte Klimpergeld in der Hosentasche, das der Justizbeamte mit dem Metalldetektor beim Abtasten entdeckt hat. Dann öffnet sich das nächste Tor zu einem Hof, der kein Entkommen mehr zulässt.
Gewöhnlich ist er leer, heute ist er eine Festmeile für 120 der 220 Gefangenen. Zum ersten Mal seit 2014 organisiert die JVA für ihre (ausschließlich männlichen) Strafgefangenen und Untersuchungshäftlinge wieder ein Sommerfest. Es gibt Musik von Mitgliedern der Kölner Band Ketzberg, Sportprogramm, ein leckeres Mittagessen und – selbstgemachtes Eis aus der Bäckerei Balke.

„Wir werden gerne für Hochzeiten oder andere private Feiern gebucht“, erzählt Christoph Balke. Die Einladung in die JVA kam unerwartet. Auf einer Hochzeitsfeier in Herten stellte ihm ein Gast die Frage, ob er sich trauen würde, mal in den Knast zu gehen – „mit der Zusage, auch wieder entlassen zu werden“, schmunzelt Christoph Balke. Er und sein Vater zögerten nicht.
50 Liter Eis der Sorten Lakritz, Nuss, Vanille, Schokolade, Pfirsich-Joghurt, Erdbeere, Zitrone und Gurke (das gibt es nur bei Balkes) produzierten sie für dieses Event, ließen es 24 Stunden reifen und dann ging es ab nach Münster. Bei strahlendem Sonnenschein.

Hinter den dicken Mauern, abgeschirmt von der Außenwelt, bildet sich innerhalb kürzester Zeit eine lange Schlange vor dem bunten Eisfahrrad. Jeder Häftling hat eine Wertmarke für ein Eis erhalten. Weil das aber so köstlich schmeckt, stehen manche drei und vier Mal an. Niemand sagt etwas.
Was in Freiheit so einfach ist, nämlich das Anstehen an der Eisdiele und sich selbstverständlich eine Mischung ins Hörnchen zu wünschen, ist hier ein Event abseits jeglicher Normalität. Ein gewöhnlich grauer Alltag schmilzt für kurze Zeit dahin. „Das Eis ist unschlagbar gut, ich kann gar nicht genug bekommen“, sagt einer der Wartenden. Diese Kleinigkeit hat für ihn eine enorm große Bedeutung.

Gäste des Nachmittags sind auch Betreuerinnen und Betreuer, die sich ehrenamtlich um Inhaftierte kümmern. Und so steht plötzlich auch ein Halterner am Eisfahrrad an: Ulrich Müther, ehemals selbstständiger Handwerksmeister (Saunabau) aus Haltern am See. Er betreut einen 57-jährigen Strafgefangenen, der in seinem Leben zusammengefasst schon 17 Jahre eingesessen und hier in Münster noch ein Jahr Haft zu verbüßen hat. Ulrich Müther bringt ihm alle zwei Wochen für eine Stunde Neuigkeiten von der Außenwelt mit und will ihm helfen, in Freiheit wieder Fuß zu fassen.
50 Liter Eis in einer Stunde
Dirk und Christoph Balke bedienen ihre Gäste derweil fast im Akkord. Schokolade und Vanille sind zuerst weg, nach gut einer Stunde sind alle Eisbehälter leer, auch die Toppings wie Schokolinsen oder bunte Streusel sind verspeist. „Das hat Spaß gemacht“, sagt Dirk Balke über den ungewöhnlichen Außentermin an einem Ort, den er zuvor nicht kannte.

Die JVA steht zum Teil unter Denkmalschutz, sie ist die älteste in Nordrhein-Westfalen und die zweitälteste bundesweit. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie in Sternbauweise mit vier Flügeln errichtet. Wegen Baufälligkeit des ältesten Hafttraktes musste ein Teil der Insassen 2015 in die Zweiganstalt Coesfeld umziehen, 2026 ist ein Komplettumzug in die neue Haftanstalt am Rande von Münster geplant. In Münster sind rund 140 Untersuchungshäftlinge (sie haben die Gerichtsverhandlung noch vor sich) und 80 Strafgefangene untergebracht.
Am Nachmittag des Sommerfestes wird ein neuer Gefangener in die Haftanstalt geführt. Er muss für einen Augenblick denken, dass hier das Leben gefeiert wird. Der Eindruck wird sich schnell verflüchtigen, das Eis aber wird seinen köstlichen Nachgeschmack lange behalten.
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