
© Thomas Thiel
Zusammenhalt in der Coronavirus-Krise: Ein Häuser-Block entdeckt das Singen
Coronavirus
Um den Kontaktverbot-Blues zu vertreiben, wird in einem Block in Dortmund täglich gemeinsam auf den Balkonen und in den Gärten gesungen. Manche lernen ihre Nachbarn das erste Mal kennen.
Ein bisschen wundert sich Wilfried Harthan immer noch über den Wandel in seiner Nachbarschaft: „Vor vier Wochen hätte man uns noch ‚Haut ab, Ruhe!‘ entgegen gerufen“, sagt er und lacht. Stattdessen brandet nun jeden Abend gegen 19.15 Uhr Applaus auf im großen Innenhof seines Häuser-Carrés im Kreuzviertel, wenn er zurück in seine Wohnung geht.
Harthan ist seit einer knappen Woche Teil einer bemerkenswerten Mini-Konzertreihe: Jeden Tag um 19.09 Uhr stellen sich der 69-Jährige und seine Frau Helga Brüx-Harthan in ihren Garten und singen den BVB-Stadion-Kracher „You‘ll Never Walk Alone“ und Beethovens „Ode an die Freude“.
Sie sind dabei nicht alleine: Von mehreren Balkonen und aus anderen Gärten des weitläufigen Innenhofs singen Nachbarn dieselben Lieder. Es ist vielleicht nicht der harmonischste Chor der Stadt, doch ganz sicher einer der bewegendsten - ein musikalisches Zeichen des Zusammenhalts in Zeiten des Coronavirus und der unfreiwilligen sozialen Distanz.
Zettel mit Liedtexten in den Briefkästen
Alles fing an mit einem Aufruf der Ruhr Nachrichten an alle BVB-Anhänger, gegen das Coronavirus anzusingen. Am Samstag (21.3.) um 19.09 Uhr sollten so viele Menschen wie möglich an ihre Fenster oder auf den Rasen ihrer Gärten treten und „You‘ll never walk alone“ schmettern.
Andere Medien berichteten darüber, die Idee sprach sich herum, auch in Harthans Block: „Jemand aus der Nachbarschaft warf Zettel mit den Liedtexten in die Briefkästen“, erzählt er. Ihm gefiel die Idee, anderen im Carré auch, also sangen sie gemeinsam. Eine schöne, einmalige Aktion, danke und tschüss - wenn da nicht die „Naturfreunde Kreuzviertel“ gewesen wären.
Denn zufällig wohnen eine Handvoll Mitglieder des im Viertel alteingesessenen Vereins, der sich unter anderem für Naturschutz und gegen Rechtsextremismus engagiert, über den Häuserblock verstreut - Harthan ist eines von ihnen. Und da sie alle gerne musizieren, verabredeten sie sich einfach auch für den nächsten Tag zum Singen. Sie bildeten sozusagen die kritische Masse für die Entstehung der täglichen Nachbarschafts-Konzerte in ihrem Innenhof.
Stadion im Innenhof
Eine knappe Woche später hat sich das Ritual bereits eingespielt: Harthan wirft um 19.09 Uhr seinen kleinen Lautsprecher mit der Stadion-Version von „You‘ll never walk alone“ an und die Nachbarn kommen auf die Balkone - einige auch nur zum stillen Genießen.

Im Nachbargarten der Harthans wird auch kräftig mitgesungen. © Thomas Thiel
So wie Judith Zimmermann (28) und Joris Korf (31). Sie lehnen sich auf das Metallgeländer ihres Balkons im dritten Stock und blicken in die Dämmerung, die sich über dem singenden Innenhof breit macht. „Es ist zwar nur ein kurzer Moment, aber es hilft, dass man sich nicht so alleine und isoliert fühlt“, sagt Zimmermann.
Zum ersten Mal Kontakt mit den Nachbarn
Dank der Konzerte entstehe etwas Gemeinschaftsgefühl in der ansonsten ziemlich anonymen Großstadt-Nachbarschaft. „Die Leute unterhalten sich quer über alle Balkone“, erzählt Zimmermann. „Wir sind dadurch das erste Mal mit unserem Nachbarn aus dem Haus nebenan ins Gespräch gekommen.“
So hat die Corona-Krise mit ihrer „Bleibt Zuhause“-Maxime wenigstens einen kleinen positiven Nebeneffekt.
Das sieht auch Harthan so: „Wer würde sich sonst einfach in einen Hof zum Singen stellen?“ Doch ungewöhnliche Zeiten erforderten eben ungewöhnliche Mittel. Und so wollen sie im Häuser-Block zwischen Lindemann-, Arnecke-, Kreuz- und Essener Straße erst einmal weitersingen - auch andere Lieder.
Am Freitagabend streut Harthan unter anderem „We shall overcome“ in das Mini-Konzert ein. Die Nachbarschaft arbeitet bereits an einem E-Mail-Verteiler, um die Liedtexte zu teilen, sagt Harthan: „Sonst kann ja niemand mitsingen.“
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
