Zigtausende besuchen Kirchentage, aber sonntags bleiben viele Kirchen leer. Kein Widerspruch, sagt Relgionssoziologe Detlev Pollack. Für den Alltag könnten Gemeinden von Kirchentagen lernen.

Dortmund

, 16.06.2019, 06:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Dass Kirchentage bestens besucht, die Kirchen aber an gewöhnlichen Tagen leer sind, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, sagt Prof. Dr. Detlef Pollack (64, evangelisch). Er ist Religionssoziologe und lehrt an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Dort ist er Stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters Religion und Politik.

Auf die Frage, warum die Kirche auf den Kirchentage viele Menschen erreiche, die sie ansonsten etwa mit ihren Gottesdiensten, nicht ansprechen könne, reagiert Pollack zurückhaltend. „Wer so fragt, unterstellt oft, dass es eigentlich ein großes religiöses Bedürfnis gäbe und viele Menschen auf der Suche nach Religiosität wären, die sie halt nur in den Kirchen nicht finden könnten. Allen Umfragen zufolge handelt es sich bei den Menschen, die religiös auf der Suche sind, aber nur um sehr kleine Minderheiten.“ Kirchentagsbesucher zählten in aller Regel zu den hoch engagierten Kirchenmitgliedern in den Gemeinden. „So liegt zum Beispiel der Anteil der Konfessionslosen, die Kirchentage besuchen, lediglich zwischen ein und zwei Prozent“, sagt Pollack.

Vier Gründe für großen Zulauf zu Kirchentagen

Gleichwohl bleibt die Frage, warum Kirchentage überhaupt einen solchen Zulauf haben. „Das war nicht immer so“, sagt Pollack, „in den 50er Jahren war der Zustrom zwar enorm, denn nach dem Krieg suchten die Menschen Wegweisung und Orientierung. Danach schwächte sich der Besuch bis Mitte der 70er Jahre jedoch deutlich ab. Das änderte sich dann erst wieder, als es zu einer Politisierung der Kirchentage kam. Die Politisierung brachte einen neuen großen Schwung.“

Der Religionssoziologe hat vier Hauptmotive für den großen Andrang auf Kirchentage ausgemacht:

1. Grund: Kirchentage sind ein großes Glaubensfest. „In Zeiten der Säkularisation und leerer Kirchen erleben sich Gläubige im Alltag oftmals als kleine Minderheit“, sagt Pollack. Das sei beim Kirchentag anders. „Hier fühlt man sich angesichts der vielen Gleichgesinnten im Glauben bestärkt. Hier steht der Festcharakter im Vordergrund.“ Man erlebe schöne Gottesdienste, erbauliche Predigten, gute Moderatoren und professionelle Musik.

2. Grund: Die Erfahrung einer ganz besonderen Form der Gemeinschaft und Geselligkeit hält Pollack für ebenso wichtig: „Bei Menschen, die einmal einen Kirchentag besucht haben, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie auch wiederkommen. Man trifft dieselben Menschen, besucht dieselben Stände und Veranstaltungen. Es bildet sich ein Netzwerk, in dem man Gemeinschaft erlebt.“

3. Grund: Es komme hinzu, dass das große Spektrum an Themen viele Menschen anspreche, sagt Pollack: „Frieden, Bewahrung der Schöpfung, politische und religiöse hemen jedweder Art kommen zur Sprache. Die Inhalte des Glaubens lassen sich hier mit politischer und gesellschaftlicher Relevanz verbinden. Das vermittelt das Gefühl, dass der Glaube nicht lebensfern ist.“

4. Grund: Bei alledem sei der Spaßfaktor nicht zu unterschätzen. „Man wird auf einem Kirchentag einfach gut unterhalten. Es ist schon etwas Besonderes, wenn man Prominente, die man sonst nur aus Talkshows oder Bundestagsreden aus dem Fernsehen kennt, hier einen Bibeltext auslegen. Man lernt sie von einer neuen Seite kennen“, sagt Pollack. Auch die kontroversen Diskussionen böten großen Unterhaltungswert.

Der Religionssoziologe Prof. Detlef Pollack erklärt, was ganz normale Kirchengemeinden von Kirchentagen lernen können.

Der Religionssoziologe Prof. Detlef Pollack erklärt, was ganz normale Kirchengemeinden von Kirchentagen lernen können. © picture alliance / dpa

Was Gemeinden vom Kirchentag lernen können

Aus den Kirchentagserfahrungen könnten die Gemeinden für den Alltag durchaus ihre Lehren ziehen, meint der Religionssoziologe. Etwa, dass es darauf ankomme, kirchliches Handeln zu professionalisieren: „Es ist eben etwas anderes, ob der Flötenkreis der Gemeinde oder ein schnell einstudierter Kanon für die Musik sorgt, oder ob man einer professionellen Big Band zuhört. Auf dem Kirchentag gibt es bei allem eine hohe Professionalität. Das ist für die Menschen deutlich attraktiver, als wenn man in einer leeren Kirche sitzt und sich der Gottesdienst lähmend dahinzieht“, sagt Pollack und verweist auf die Mega-Kirchen etwa in den USA, wo 10.000 oder mehr Menschen einen begeisternden, gut vorbereiteten Gottesdienst feiern. „Das zeigt, dass es sich lohnt, Ressourcen zu bündeln, Geld einzusetzen für bessere Musik, bessere Prediger und gute Moderatoren“, sagt Pollack.

Der schwierige Spagat

Auf der anderen Seiten müsse man beachten, dass die Menschen in ihrem Ort Gottesdienst feiern wollten, auch wenn nur fünf Menschen kämen. „Die Beharrungskraft der eigenen Parochien ist sehr hoch. Die Orientierung auf die Fläche darf man nicht aufgeben, denn sonst erreiche man nicht den Kern der örtlichen Kirchengemeinden. Zugleich reichen aber die Ressourcen nicht, um dort überall anspruchsvolle Gottesdienste zu feiern“, sagt Pollack Es müsse daher gelingen, auf der einen Seite anspruchsvolle Gottesdienste anzubieten und gleichzeitig in der Fläche präsent zu bleiben: „Das ist allerdings tatsächlich ein schwieriger Spagat, der da zu leisten ist.“