„Wir finden keine Hilfe“ Psychisch kranke Jugendliche bringen Eltern in Dortmund ans Limit

Psychisch erkrankte Jugendliche: „Wir finden keine Hilfe“
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Als die Wellen namens Delta und Omikron abgeebbt waren, wurden viele Schäden sichtbar. Ein wesentlicher wird möglicherweise noch für lange Zeit Folgen für die Gesellschaft haben.

Unter Kindern und Jugendlichen ist die Zahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen wie Ängste, Depressionen, Essstörungen oder Einsamkeit massiv gestiegen.

Als „dramatisch“ beschrieben 2022 die Vereinigung der niedergelassenen Ärzte (KVWL) sowie auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisierte Einrichtungen wie die LWL-Klinik in Dortmund die psychischen Folgen der Corona-Pandemie.

Deutlich mehr als jedes vierte Kind ist nach einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf „psychisch auffällig“.

Corona verändert Familien

Viele Familien in Dortmund leben in einer Situation, die sich auf unterschiedliche Weise verändert hat – ausgelöst durch die Corona-Pandemie. Heranwachsende sind aus der Bahn geworfen worden. Daraus entstehen „Familien am Limit“. Sie fühlen sich in vielen Dingen alleingelassen.

So beschreiben es zwei Mütter aus Dortmund, die jetzt mit einer neuen Selbsthilfegruppe etwas an ihrer Situation ändern wollen.

Sie bleiben anonym, weil das, was sie erzählen, die höchste persönliche Sphäre ihres Lebens betrifft. Aber sie wollen sprechen, nachdem sie über Jahre still geblieben waren. „Wenn Leute in ähnlichen Situationen sich austauschen, hilft das, sich gegenseitig zu stützen“, sagt L. (42).

Pubertät im Lockdown

L. ist Mutter einer Tochter, die über die Corona-Zeit in die Pubertät gekommen ist. Sie erlebt eine 16-Jährige, die mit vielen Anforderungen der Welt im Moment überfordert ist.

„Als alles wieder geöffnet war, kam der Druck. Sie hatte keine Zeit, sich in allem zu üben.“ Probleme mit Mobbing, schulischer Stress, das Austesten von Grenzen – all das sei schlagartig über ihre Tochter hereingebrochen.

„In eineinhalb Jahren hat sich ihr Körper entwickelt und das in einer Gesellschaft, in der besonders junge Mädchen sexualisiert werden“, sagt die Mutter.

Vieler ihrer Sorgen seien nicht ernst genommen worden und in einem überlasteten Hilfesystem versandet. „Ich bin nah am Mutter-Burnout“, sagt sie.

Depression und Suizidgefahr

C. (48) sitzt ihr in den Räumen der Selbsthilfe-Kontaktstelle des Paritätischen in der Dortmunder Innenstadt gegenüber und nickt bei diesem Satz. Denn sie kennt genau diesen Punkt.

An dem es wieder nicht gelungen ist, einen Platz in einer Psychotherapie zu bekommen. An dem scheinbar nichts mehr hilft außer Warten. An dem die Sorgen einfach nicht aufhören wollen.

In das Leben der Familie aus Dortmund hat die Corona-Pandemie auf sehr drastische Weise eingegriffen. Anfang 2020 war der damals 17-jährige Sohn für eine Ausbildung in einen Ort in 500 km Entfernung gezogen. Der Lockdown verhinderte das Ankommen für den jungen Mann.

„Denken von Tag zu Tag“

„Er ist da vereinsamt“, sagt seine Mutter. Dies habe eine Depression mit Suizidalität ausgelöst. Die Schwierigkeiten fielen rechtzeitig auf – aber sie halten an.

Der mittlerweile 19-Jährige lebt aktuell wieder zu Hause. „Wir denken weiterhin von Tag zu Tag, es sind viele Absprachen notwendig“, sagt C..

Wie war dein Tag? Hast du alles gedacht? Hast du etwas Richtiges gegessen? Dies seien die Fragen, die sie wieder stellen müsse. „Dinge, von denen ich vor drei Jahren dachte, da wäre ich raus.“

Beide Mütter schildern einen ähnlichen Gedanken. „Wir finden keine Hilfe, denn in allen Systemen brennt es gerade“, sagt C..

Unterstützung hilft nicht

„Ein überfordertes Hilfesystem, zu lange Wartezeiten in Arztpraxen, bei Psychotherapeuten oder in Beratungsstellen“ identifizieren die Eltern als übergreifende Probleme.

Die Eltern erzählen aus ihrer Erfahrung, dass sich die Heranwachsenden in manchem, was an Unterstützung angeboten werde, nicht ernst genommen fühlten.

C. berichtet von einer „Hilfe“, die aus einem Besuch bei McDonalds bestanden habe. L. nennt Therapietermine in unzuverlässigem Rhythmus, „die kein einziges Problem lösen“.

C. und L. wissen, dass die „Selbsttherapie“ in der Selbsthilfegruppe allein nicht ausreicht. Aber sie spüren nach den ersten Treffen: Es gibt andere Eltern, die mit Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen leben und ähnliche Dinge schildern.

„Ich kann mich nicht zurücklehnen und es an die Wand fahren lassen“, sagt C.

Ethikrat mit Forderungen

Der Deutsche Ethikrat hat im November eine umfassende Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vorgestellt und daraus Aufträge an die Politik abgeleitet.

„Einrichtungen, die Diagnostik, Beratungsangebote, Heilbehandlungen und Hilfen zur Teilhabe für Kinder und Jugendliche, aber auch Hilfen für Eltern und Familien bereitstellen“, müssten verlässlich finanziert werden.

„Bestehende Versorgungsdefizite“ müssten behoben werden und zum Thema psychische Gesundheit aufgeklärt und geschult werden.

Die neue „Selbsthilfegruppe für Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in belastenden Situationen“ trifft sich jeden 2. und 4. Mittwoch des Monats um 20 Uhr in der Selbsthilfe-Kontaktstelle, Ostenhellweg 42-48. im Raum „Lippe“.

Telefonischer Kontakt unter (0231) 529097.

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