Nach 23 Jahren geht Anne Rabenschlag (64) als Geschäftsführerin des Diakonischen Werks in Dortmund in den Ruhestand. Im Interview blickt sie mit Sorge auf die soziale Lage der Stadt.
Lassen Sie uns zurückblicken. In den 23 Jahren, die Sie als Geschäftsführerin der Diakonie gearbeitet haben, hat sich viel verändert. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Ich blicke mal nur auf die Zahlen der letzten zwölf Jahre. Als wir 2007 in die GmbH-Form gegangen sind, hatte das Diakonische Werk 267 Mitarbeiter. Der aktuelle Stand ist 891 Mitarbeiter, 515 im Diakonischen Werk und 376 im Pflegedienst, für den ich auch die Geschäftsführung habe.
Wie sieht es inhaltlich aus?
Wir haben als Diakonie immer bestimmte Kernkompetenzen gehabt. Die Jugendhilfe, die Psychiatrie und Behindertenarbeit, die Wohnungslosenhilfe, Migrationsarbeit und Beschäftigungspolitik. Der Bereich Altenhilfe ist später dazugekommen, weil da ein starker gesellschaftlicher Bedarf ist. Für uns ist ja immer wichtig zu gucken, welche Nöte haben die Menschen in der Stadt, wo können und müssen wir uns engagieren? Oft tun wir das dann auch mit anderen gemeinsam. Denn allein kann man oft nichts erreichen.

Neu aufgeteilt wird die Geschäftsführung der Diakonie nach dem Abschied von Anne Rabenschlag (l.). Ihre Nachfolger sind (v.l.) Niels Back, Uta Schuette und Sabine Kalies. © Stephan Schütze
Ein Kernbereich der Diakonie ist die Wohnungslosen-Hilfe, die es seit mehr als 40 Jahren gibt. Ist das ein wachsendes Problem?
Das ist ein Riesenproblem. Wir haben in unserer zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose sechseinhalb Mitarbeiter. 2012 hatten wir ungefähr 1200 Beratungsfälle im Jahr. Im letzten Jahr haben wir mit der gleichen Zahl an Mitarbeitern die 2000er-Zahl geknackt.
Neben der Beratungsstelle haben wir ja auch noch die Frauenübernachtungsstelle, das Bodelschwingh-Haus, das Ludwig-Steil-Haus, die Suchtberatungsstelle und den Brückentreff als Aufenthaltsort. Und im Wichern-Haus gibt es einmal in der Woche eine Suppenküche.
In den vergangenen Jahren ist die Hilfe für Zuwanderer aus Südosteuropa dazu gekommen.
Das kam relativ plötzlich und ist dann schnell gewachsen. Das betrifft eine Gruppe von Menschen, die in der Regel kaum Sozialleistungsansprüche haben. Also: Die Verelendung ist wesentlich massiver. Klar war von Anfang an, dass wir das nicht alleine leisten können. Das muss man mit anderen gemeinsam machen. Und das funktioniert im Büro „Willkommen Europa“ sehr gut.
Ein anderer Schwerpunkt sind Beschäftigungsprojekte.
Da sind Angebote entstanden wie die Second-Hand-Läden „Jacke wie Hose“ oder die Werkstatt „Passgenau“. Wir gucken immer, welche Hilfen brauchen die Leute vor Ort, wie kann man ehrenamtliche und hauptamtliche Arbeit verbinden und wie kann man Angebote schaffen, die Teilhabe ermöglichen.

Auch der Bootsverleih im Fredenbaum-Park ist ein Beschäftigungs-Projekt der Diakonie. Hier grüßen zur Saisoneröffnung Manfred Kreuzholz vom Freundeskreis Fredenbaum, Bezirksbürgermeister Ludwig Jörder, Diakonie-Geschäftsführerin Anne Rabenschlag und Bürgermeisterin Birgit Jörder. © Stephan Schütze
Dazu gehört etwa „Passgenau“ mit Beschäftigungsförderung und Zuverdienst-Möglichkeiten für Leute, die noch nicht die Voraussetzungen erfüllen, in Beschäftigungsprogramme zu kommen. Ziel ist immer, dem Einzelnen auf dem Weg in die Gesellschaft zu helfen. Wir haben dafür in allen Feldern immer ambulante und stationäre Angebote.
Bemerkenswert finde ich, wie schnell es Hilfsorganisationen wie der Diakonie gelingt, für neue Aufgaben Infrastruktur aufzubauen und Personal zu finden, wie etwa bei der Flüchtlingshilfe.
Das war ein Kraftakt, den ich selbst auch bewundert habe. Da hatten wir aber das Glück, dass sich innerhalb von 14 Tagen mehr als 1000 Menschen gemeldet haben, die ehrenamtliche Hilfe leisten wollten. Und viele von denen sind am Ball geblieben.
Wie sieht es bei der Gewinnung von Pflegekräften etwa in der ambulanten Hilfe aus?
Da versorgen wir jeden Tag 1300 Haushalte in Dortmund. Wir haben bei der Gewinnung von Pflegekräften den Vorteil einer festen Tarifstruktur. Und vor allem bilden wir selbst aus. Von 376 Mitarbeitern sind 43 Auszubildende. Und wir übernehmen unsere Auszubildenden in der Regel auch.
Zurzeit haben wir so keine freien Fachkraftstellen. Das heißt aber nicht, dass es keine Probleme geben kann, wenn es etwa zu Krankheitswellen kommt.
Wie ist das Verhältnis zur Stadt?
Wenn es darum geht, sich aufzustellen, um Probleme zu lösen, läuft die Zusammenarbeit mit der Stadt – gerade mit dem Sozialdezernat – ausgesprochen konstruktiv. Das ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, mögliche Probleme klären wir untereinander.
Und zu den anderen Wohlfahrtsverbänden?
Wir tauschen uns aus, ergänzen uns in unserer Arbeit und bieten sogar Dienste gemeinsam wie beim Büro „Willkommen Europa“. Das verschafft uns natürlich auch eine starke Position. Wenn wir überlegen, wie viele Arbeitsplätze die Wohlfahrtsverbände zusammen bieten, sind wir einer der größten Arbeitgeber in der Stadt.
Wird man da nicht manchmal zu bequem, wenn es um neue, ungewöhnlichere Angebote geht? Ich kann mich erinnern, dass gerade die Diakonie sehr zurückhaltend war, als über den Trinkraum für Alkoholiker in der Nähe des Nordmarkts oder über einen Wärmebus für Obdachlose diskutiert wurde.
Die Zurückhaltung beim Trinkraum hieß: Wir wollen das selbst nicht betreiben. Wir haben bei unseren Angeboten wie dem Brückentreff die Erfahrung gemacht, dass man Menschen bei Hilfen ganz anders ansprechen kann, wenn sie nicht trinken können. Ich glaube, dass der Trinkraum als Aufenthaltsmöglichkeit für die Leute durchaus sinnvoll ist. Aber wir merken zum Beispiel, dass aus dem Trinkraum niemand im Hilfesystem, etwa in der Suchtberatung, ankommt.
Wir arbeiten nicht nur abstinenzorientiert. Bei uns im Bodelschwingh-Haus gibt es auch eine Gruppe mit trinkenden Männern, aber als Vorbereitung darauf, aus der Situation rauszukommen. Das ist unsere Motivation, Angebote zu machen. Und das haben wir beim Trinkraum nicht gesehen, auch wenn er im sozialen Umfeld eine sinnvolle Sache ist. Jeder Träger hat halt einen anderen konzeptionellen Ansatz.
Auch mit Blick auf den Wärmebus ist es so, dass wir uns halt auf andere Angebote konzentrieren. Was die Hilfe für Obdachlose angeht, finde ich den Ausbau der Übernachtungsangebote wichtig und notwendig. Unsere Frauenübernachtungsstelle ist in der Regel mit 140 Prozent belegt.
Wie politisch darf und kann Diakonie sein. Mischen Sie sich in politische Entscheidungen ein?
Ja klar. Wir sind ja im Sozialausschuss und im Kinder- und Jugendausschuss. Da haben wir uns ja zum Beispiel intensiv in die Debatte eingebracht, ob es sinnvoll ist, Angebote im Betreuungsbereich zu privatisieren.
Das kirchliche Motto ist ja „Suchet der Stadt Bestes“. Unsere Grundeinstellung ist deshalb: Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass die Menschen in dieser Stadt gut leben können. Und dazu gehört auch, dass man auf Themen aufmerksam macht. Da haben wir durchaus den Auftrag im Sinne von Lobbyarbeit für bestimmte Zielgruppen politisch tätig zu sein. Und ich habe durchaus den Eindruck, dass wir da gehört werden.
Was sind für Sie wichtige Themen oder Herausforderungen der Zukunft?
Wohnungspolitik ist ein Riesenthema. In fast allen Bereichen, in denen wir tätig sind, haben die Leute in schwierigen sozialen Lagen Probleme beim Stichwort Wohnraum. Im Bodelschwingh-Haus werden die Menschen 18 Monate lang wieder auf eigenständiges Wohnen vorbereitet. Da haben wir total Probleme, Anschlüsse hinzubekommen. Es kann nicht sein, dass jemand stationär 18 Monate betreut wird und dann auf die Straße entlassen wird. Das macht mir Riesensorgen.
Zwei andere Themen, die mir Sorgen machen: Ich bin froh, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den vergangenen Jahren hoch- und die Arbeitslosenquote runtergegangen ist, aber trotzdem gibt es eine Gruppe von Menschen, die von dieser Entwicklung nicht profitieren. Und dann der Bereich Kinderarmut und Bildungschancen für Kinder. Da gibt es tolle Ansätze im Schulbereich, wie man Kinder gezielt fördern kann. Das muss noch intensiviert werden.
Überwiegt beim Blick auf die soziale Lage in der Stadt bei Ihnen der Optimismus oder der Pessimismus?
Die Stärke in Dortmund ist, dass man sich den Themen offen stellt. Das ist nicht in allen Städten so, wie etwa die Zahlen zur sozialen Lage offengelegt werden. Und eine Stärke ist, dass im Prinzip alle zusammenarbeiten. Aber die soziale Schere geht natürlich trotzdem weiter auseinander. Das ist aber kein kommunal verursachtes Problem, sondern ein gesellschaftliches Problem.
Welche Rolle spielt für Sie persönlich, aber auch für die Diakonie der Glaube?
Für mich persönlich spielt das eine große Rolle. Glaube und aktives Handeln gehören für mich zusammen. Insofern sind für mich Kirche und Diakonie zwei Seiten einer Medaille. Ich bin froh, für einen kirchlichen Träger zu arbeiten. Und das prägt auch die Haltung der Diakonie.
Es gibt keine evangelische Spritze, aber es gibt eine evangelische Haltung, wie man mit Menschen umgeht.
Abschied nach 40 Jahren Berufsleben
- Anne Rabenschlag (64) hat als studierte Sozialarbeiterin 1979 als Jugendbildungsreferentin bei der Evangelischen Kirche in Dortmund angefangen, zehn Jahre später wechselte sie zur Diakonie als Fachbereichsleiterin für gemeindebezogene Sozialarbeit.
- 1996 wurde sie als Nachfolgerin von Rolf Scheer Geschäftsführerin des Diakonischen Werks.
- Ihre Nachfolge übernehmen nun Niels Back, Uta Schuette und Sabine Kalies.
Oliver Volmerich, Jahrgang 1966, Ur-Dortmunder, Bergmannssohn, Diplom-Journalist, Buchautor und seit 1994 Redakteur in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten. Hier kümmert er sich vor allem um Kommunalpolitik, Stadtplanung, Stadtgeschichte und vieles andere, was die Stadt bewegt.
